Hammerschmidt / Schelle / Stecklina | Kindheitspädagogik in Bewegung | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 162 Seiten

Hammerschmidt / Schelle / Stecklina Kindheitspädagogik in Bewegung


1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7799-8932-5
Verlag: Julius Beltz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 162 Seiten

ISBN: 978-3-7799-8932-5
Verlag: Julius Beltz
Format: EPUB
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Die Kindheitspädagogik als junge Teildisziplin der Erziehungswissenschaften ist in Bewegung: Das mäßige Abschneiden deutscher SchülerInnen bei der PISA-Studie von 2000 (»Pisa-Schock«) und veränderte Perspektiven auf kindliches Aufwachsen führten dazu, dass frühkindliche Bildung enorm an Bedeutung gewann. Kindertageseinrichtungen werden seither als Bildungsorte konzipiert, quantitativ ausgebaut und entsprechende Studiengänge geschaffen. Heute steht die Kindheitspädagogik vor der Aufgabe, sich Sachverhalten wie Armut, Migration, Inklusion und Digitalisierung zu stellen. Davon handelt der Band.

Peter Hammerschmidt, Jg. 1963, Dr. phil. habil. Dipl.-Päd., Dipl. Soz.-Päd. (FH), Prof. für Grundlagen der Sozialen Arbeit an der Hochschule München, Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften. Dr.in phil., Professorin für Kindheits- und Sozialpädagogik an der Hochschule München. Arbeitsschwerpunkte: Qualitätsentwicklung in der frühen Bildung, Transfer in der frühen Bildung, Professionalisierung, Didaktik der Frühpädagogik. Gerd Stecklina, Prof. Dr., Diplom-Pädagoge, lehrt an der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften der Hochschule München.
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Kindheit und ihre institutionelle Betreuung im Wandel – ein Blick zurück


Rita Braches-Chyrek

Abstract: Bisherige historische Befunde zum Ideensystem Kindheit und der institutionellen Betreuung, Erziehung und Bildung von Kindern werden im Kontext von drei Thematisierungen eingeordnet. Ziel der Überlegungen ist es, die Wechselwirkungen und widersprüchlichen Verzahnungen der Kategorisierungen und Positionierungen von Kindern in Institutionen, der Herausbildung von Wissen über Kindheit als Projekt der Moderne und möglicher kritischer Perspektiven auf soziale Kategorisierungen zu diskutieren.

1.Einleitung – Historische Diskurse über Kindheit


Zahlreiche historische Befunde der Kindheitsforschung geben Einblicke in unterschiedliche gesellschaftliche Vorstellungen im Umgang mit Kindheit und Kindern4. Indem Kindheit als wandelndes Ideensystem betrachtet wird (vgl. Cunningham 2006, S. 12), können die differenten kindlichen Lebenslagen und -weisen im historischen Prozess eingeordnet werden. Besonderes Interesse erfuhr das Thema Kindheit durch die gesellschaftlichen, politischen und sozialen Reformbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Durch sie konnten sich veränderte Vorstellungen von Kindheit in vielen europäischen und nordamerikanischen Gesellschaften durchsetzen (vgl. Pollok 1983, S. 59; Heywood 2001, S. 145; Cunningham 2006, S. 226; Amberg 2004, S. 128; Marten 2018, S. 7). Es formte sich die Idee heraus, dass Kinder „gut“ und geschützt aufwachsen sollen und ihnen eine „glückliche“, „sorgenfreie“ und „erfolgreiche“ Zukunft sicher sein soll (vgl. Braches-Chyrek 2021, S. 13). Eng verwoben mit diesen Bedeutungszuschreibungen sind die bis heute sehr wirksamen universalistischen Deutungen von Kindheit als Schutz- und Schonraum, welche jedoch historisch, regional, klassen- und geschlechtsspezifisch sehr unterschiedliche Ausprägungen aufweisen (vgl. Cunningham 2006; Richter 1987, S. 242; Winkler 2017, S. 10). Wird davon ausgegangen, dass Kindheit von sozialen Ungleichheiten geprägt ist (vgl. Cunningham 2006, S. 161; Heywood 2001, S. 149), dann müssen die historischen Befunde der Kindheitsforschung in den Blick genommen werden. Im Kontext gesellschaftlicher, politischer, wirtschaftlicher und kultureller Interessen an Kindheit, die mit der Zuordnung und Zuschreibung von kindlicher Vulnerabilität, Schutzbedürftigkeit, der Herausbildung von institutionell geprägten Ordnungsmustern kindlicher Betreuung, Erziehung und Bildung verbunden sind, kann erklärt werden, mit welchen Charakteristika und Grenzbestimmungen diese Positionierungen vorgenommen wurden. Gleichzeitig sind Fragen der Mannigfaltigkeit von sozialen, ökonomischen, politischen, kulturellen und emotiven Perspektiven in den historischen Diskursarenen zu berücksichtigen wie auch Probleme der Verallgemeinerung von gesellschaftlichen Kohäsions- und Integrationsleistungen in Bezug auf Kindheit und den unterschiedlichen Formen der institutionellen Betreuung (vgl. Boentert 2007, S. 30). Daher ist es ein sehr strittiger Punkt, welche vergleichenden Paradigmen und Ansätze5 herangezogen werden können, die es erlauben, die bisherigen historischen Befunde zum Ideensystem Kindheit und der institutionellen Betreuung, Erziehung und Bildung von Kindern einzuordnen.

Die nachfolgenden Überlegungen fokussieren drei Bereiche, um die Handlungen und Unterlassungen zu beschreiben, die die Diskurse über Kindheit sowie die Einbindung von Kindern in Institutionen bis heute beinhalten: Kategorisierungen und Positionierungen von Kindern in Institutionen (Kap. 2); Wissen über Kindheit als Projekt der Moderne (Kap. 3); Kritische Perspektiven auf soziale Kategorisierungen (Kap. 4). Der Beitrag schließt mit einem knappen Fazit (Kap. 5).

2.Kategorisierungen und Positionierungen von Kindern in Institutionen


Die Anerkennung und Zuschreibung von Sorge, Schutz, Betreuung, Erziehung und Bildung als kausale Zusammenhänge zur Sicherung des Kindeswohls verweisen auf historisch verfestigte Problemstellungen im gesellschaftlichen Umgang mit Kindern. Die „Rettung“ der Kinder und die damit einhergehende Sicherstellung von Sorge und Schutz wurde im 18. Jahrhundert in vielen europäischen Gesellschaften zentral. Die Gründe dafür sind vielfältig. Insbesondere die „Neubewertung“ von Kindheit durch sozialreformerische Aktivitäten, staatlichem Handeln und Institutionalisierung machten es möglich, dass Maßnahmen zur Verminderung der hohen Sterblichkeits- und Krankheitsraten im Kindesalter, der Kinderarmut und der Herauslösung von Kindern aus den Arbeitsprozessen eingeleitet werden konnten. Deswegen werden nachfolgend die Gründe und Folgen gesellschaftlicher Wahrnehmungen und Deutungen von Kindern und Kindheit in ihrer Genese innerhalb der für äußerst relevanten Themenfelder von Sorge und Schutz (Kap. 2.1), den Auswirkungen von Kinderarmut (Kap. 2.2) und den institutionalisierten Praktiken der Erziehung, Betreuung und Bildung (Kap. 2.3) skizziert.

2.1Sorge und Schutz


Bis zum 18. Jahrhundert galt die Hauptsorge vieler gesellschaftlicher Akteure entweder den Seelen, der Sittlichkeit oder dem Nutzen von Kindern als zukünftige Arbeitskräfte für die Landwirtschaft, das Handwerk und den Staat (vgl. Heywood 2001, S. 145; Cunningham 2006, S. 161; Konrad 2014, S. 120; Winkler 2017, S. 56). Jedoch bildete sich nach und nach die Vorstellung heraus, dass Kinder gesund aufwachsen, freie Zeit für Spiel und den „Genuss ihrer Kindheit“ haben sollten (vgl. Calvert 1992, S. 97; Heywood 2001, S. 145; Amberg 2004, S. 303)6. Dies war sicherlich ein sehr bürgerliches Ideal (vgl. Schmid 2014, S. 45), welches jedoch gestützt wurde durch demografische Befunde und haushaltsökonomische Betrachtungsweisen. Statistiken wiesen im 18. Jahrhundert für alle gesellschaftlichen Schichten hohe Sterblichkeits- und Krankheitsraten von Säuglingen und Kindern nach. Dieser Befund veränderte sich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts (vgl. Cunningham 2006, S. 161; Jacobi 2014, S. 22). Die geringe Lebenserwartung und die unzureichenden Lebensbedingungen von Kindern hatten viele Gründe, wie etwa den Mangel an familialen und finanziellen Ressourcen, geringe medizinische, hygienische, soziale und moralische Kenntnisse (vgl. Cunningham 2006, S. 189). Insbesondere in den Armen- und Arbeiterquartieren der expandierenden Industriestädte war die Kindersterblichkeit aufgrund der schwierigen sozialökonomischen Bedingungen und der damit einhergehenden Einbindung von Kindern in die Erwerbsarbeit, den mangelnden Möglichkeiten der Beaufsichtigung, den unzureichenden Arbeitsschutzmaßnahmen und schwierigen sozialräumlichen Bedingungen sehr hoch (vgl. Heywood 2001, S. 121). Arbeitsunfälle und kärgliche Wohnverhältnisse trugen wesentlich zur geringen Lebenserwartung armer Kinder bei. Quer durch alle gesellschaftlichen Milieus sind aber auch sehr distanzierte Formen des elterlichen Umgangs mit ihren Kindern nachweisbar, wie etwa die Praktiken der Kinderpflege zeigen, bspw. Wickeln, Ruhigstellungen durch Alkohol oder Opium, Vernachlässigung oder dem alleinigen familialen Interesse an der Sicherstellung der „Erbfolge“ oder des „Arbeitswerts“ der Kinder (vgl. Calvert 1992, S. 21, 77; Cunningham 2006, S. 213). Aber auch Praktiken von gewaltförmiger Erziehung, sexueller Ausbeutung, Abtreibung, Aussetzung und Weggabe von Kindern in andere Familien, wie exemplarisch am Verdingkinderwesen gezeigt werden kann, erhöhten die Sterblichkeitsraten (vgl. Ariès 2007; Mause de 1977; Gestrich 2010, S. 566; Hommen 1999, S. 53).

„In ihrem Engagement für die ‚Rettung der Kinder‘ zeigten die Staaten vielfältige Motivationen, nicht aber solche, die man kindorientiert nennen könnte: Interesse an ...



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