Hammad | Enter Ghost | E-Book | www2.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 480 Seiten

Hammad Enter Ghost

Roman - Deutschsprachige Ausgabe
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-641-30540-6
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman - Deutschsprachige Ausgabe

E-Book, Deutsch, 480 Seiten

ISBN: 978-3-641-30540-6
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Von einer Rückkehr nach Palästina und der Suche nach den eigenen Wurzeln in einem Land, das keines ist. Der neue, gefeierte Roman von Isabella Hammad - eine der "Best Young British Novelists under 40" (Granta)

Nach vielen Jahren in London und einer schmerzhaft gescheiterten Beziehung reist Schauspielerin Sonia zu ihrer älteren Schwester nach Haifa. Dort lernt sie die charismatische Mariam kennen, die im Westjordanland eine palästinensische Theaterproduktion des „Hamlet“ auf die Beine zu stellen versucht. Nach anfänglichem Zögern willigt Sonia ein, die Rolle der Gertrude zu übernehmen. Doch je weiter die Proben voranschreiten, desto mehr wird Sonia von den Geistern eines Konflikts heimgesucht, der ihre entwurzelte und in alle Richtungen verstreute Familie genauso wie die gesamte Region nicht zur Ruhe kommen lässt. Als in Jerusalem ein Attentat auf israelisches Wachpersonal verübt wird, droht die Lage auch für die Theatergruppe zu eskalieren. Und doch entdeckt Sonia etwas sehr Unvorhergesehenes: die Möglichkeit, dass es gerade dieses leidgeprüfte Palästina sein könnte, das ihrem Leben einen Halt gibt.

ISABELLA HAMMAD wuchs in London auf, lebt in London und New York. Sie gehört für die Zeitschrift Granta zu den ›Best Young Novelists under 40‹. Ihr Debütroman »Der Fremde aus Paris« war für die New York Times einer der wichtigsten Romane 2019, wurde in 16 Länder verkauft und mit dem Betty Trask Award und dem Palestine Book Award ausgezeichnet. Für »Enter Ghost« bekam sie den Encore Award für den besten zweiten Roman sowie den Aspen Words Literary Prize und war u.a. nominiert für den Ondaatje Prize sowie den Women’s Prize 2024.
Hammad Enter Ghost jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


1


Ich rechnete damit, am Flughafen befragt zu werden, und so kam es auch. Zu meiner Überraschung ging es relativ flott. Eine junge blonde Beamtin und ein älterer dunkelhaariger Beamter durchleuchteten in einem extra Raum mein Leben. Sie wollten vor allem wissen, ob ich hier Familie hatte, und ich wiederholte vier Mal, meine Schwester lebe hier, ich selbst sei seit elf Jahren nicht mehr da gewesen. Warum nicht?, fragten sie mehrmals. Ich wusste keine Antwort. Kurioserweise waren sie nicht nur einmal kurz davor, mich auf meine Bürgerrechte hinzuweisen. Natürlich wollten sie mich dadurch aus dem Konzept bringen. Wieso wurde Ihre Schwester eingebürgert, Sie aber nicht? Sie war zur rechten Zeit am rechten Ort, ich zuckte die Schultern. Ich wollte meine Mutter nicht mit hineinziehen. Sie öffneten mein Gepäck, blätterten in jedem Theaterstück, im Terminkalender mit den leeren Spalten für die Sommermonate, in beiden Romanen, einen hatte ich während des Flugs gelesen, und führten mich dann zwecks Leibesvisitation in einen anderen Raum. Muss das wirklich sein, fragte ich mit arrogantem Unterton, während eine weitere Beamtin den Detektor über meinen Körper führte, als könnte ich etwas unter der Haut versteckt haben. Den Trägern meines BHs und dem Slip, beides in weiser Voraussicht aufeinander abgestimmt, blaue Spitze, schenkte sie besondere Aufmerksamkeit, und als sie sich vor meinen Schritt hockte, hätte ich fast lachen müssen. Ich zog mich an, erstaunt, wie sehr ich zitterte, und zehn Minuten später wurde ich zu einem Schalter beordert, wo mir ein hochgewachsener Typ, den ich zuvor nicht bemerkt hatte, meinen Reisepass mit den Worten zurückgab, ich dürfe das Land nun betreten. Willkommen in Israel.

Auf dem Weg durch den Sitzbereich erkannte ich Mitreisende wieder, zwei mürrische Araber und eine junge Frau westlichen Typs mit rot geschminkten Lippen. Sie warteten auf ihre Befragung und folgten mir mit ihren Blicken bis zur automatischen Tür, und als sich diese surrend auftat, sah ich auf mein Smartphone und stellte fest, dass es nur eine Stunde gedauert hatte. Ich musste mir noch zwei Stunden vertreiben, weil Haneen, meine Schwester, frühestens um halb sechs wieder in Haifa wäre. Ich stieg spontan in ein Taxi und bat den Fahrer, mich nach Akkon zu bringen. Besser, ich schaute mir erst mal etwas Schönes an.

Unterwegs flaute die Wirkung des Adrenalins ab, dafür holte mich der quälende Winter ein, den ich hinter mir hatte, und in dem dunklen Schatten, den er auf mich warf, betrachtete ich das vorbeiziehende Ackerland, die Hügel Galiläas. Haneen hatte ein ausgeprägteres Moralempfinden als ich, das wusste ich seit meiner Kindheit, und es hielt mich bis zuletzt, bis zum bitteren Ende davon ab, mich ihr anzuvertrauen. Ich trotzte ihr wie ein Kind, das den Eltern trotzt, zugleich aber deren Weisheit akzeptiert; ich hätte gern in ihrem Gästezimmer geschmollt, insgeheim froh darüber, von jemandem zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Vermutlich will ich bis heute nicht wahrhaben, dass ich nicht nur wegen Haneen angereist war. Nach anderthalb Stunden tauchten die ersten Hinweisschilder nach Akkon auf, mein Herz schlug schneller, und dann fuhren wir von der Autobahn ab und hielten vor den Bogen der Altstadt. Ich bezahlte den Fahrer und zog meinen Koffer durch eine Gasse, blieb aber stehen, als ich den Himmel über der Hafenmauer glühen sah. Ich betrachtete das uralte Mauerwerk, das glitzernde Wasser. Die Eindrücke überrumpelten mich mit physischer Wucht, ebenso alte Erinnerungen, die sich meinen Sinnen eingeprägt hatten. Neben dem Pier hatte man ein paar rote Stühle und Tische aufgestellt. Ich ging zur Mauer, lehnte meinen Koffer dagegen und blieb dort eine Weile stehen. Die Sonne erhitzte mein Gesicht, meine Hände. Ich begann, unter den Achseln zu schwitzen. Ich packte die Oberkante der Mauer und zog mich hinauf.

Gut dreizehn Meter unter mir brachen sich die Wellen schäumend vor der Befestigungsmauer. Rechts von mir, wo sie einen Bogen beschrieb, standen mehrere Jungs in einer Reihe. Die Hände in die Hüften gestemmt, ganz Ellbogen, verlagerten sie ihr Gewicht von einem Bein aufs andere, musterten einander, warteten. Zwei waren klein und mager, barfuß, ihre braunen Schulterblätter leuchteten in der Sonne. Die älteren Jungs trugen Sneaker, die dunkle Abdrücke auf dem Stein hinterließen, von den Säumen ihrer Shorts perlten Tropfen. Der erste Junge in der Reihe nahm Anlauf und sprang mit angezogenen Beinen von der Mauer. Er schien lange zu fallen, sein Körper öffnete sich. Dann klatschte er ins Wasser und war weg. Als er wieder auftauchte, applaudierten die anderen Jungen nicht etwa, sondern standen unbewegt da. Der Springer schüttelte seine Haare aus und schwamm zu den Felsen.

Ich stellte mir vor, von der Mauer zu springen: Meine dünne Baumwollhose blähte sich auf, während ich fiel. Ich konnte sowohl sehen als auch spüren, wie die Mauer meine Unterarme zerkratzte. Ich spreizte die Beine, wollte mich festhalten, zerschmetterte blutig auf den Felsen.

Die Jungen rotteten sich zusammen und redeten, sie beäugten mich verstohlen. In der Tiefe ertränkte das Wasser die Steine, die auf der Oberfläche langsam schwindende, schwarze Ringe hinterließen. In der Ferne durchschnitten Tanker die Wellen. Die Geräuschkulisse des Meeres beruhigte mich. Nach einer Weile stieg ich von der Mauer und hielt, den Koffer hinter mir herziehend, Ausschau nach einem neuen Taxi. Können Sie mich nach Haifa fahren? Aus irgendeinem Grund fragte ich auf Englisch. Vielleicht, weil ich sogar hier, in Akkon, nicht genau wusste, ob der Mann am Steuer Palästinenser war oder nicht, vielleicht auch, weil ich vor knapp zwei Stunden meine englische Identität hervorgekehrt hatte, um mir die Befragung zu erleichtern. Im Auto ballte sich die stickige Hitze des ermattenden Tages. Im Radio lief ein arabischer Song. Eine Schnur mit Kaurimuscheln hing am Rückspiegel.

»Wael Hejazi. Kennen Sie ihn?«, fragte der Fahrer.

»Nein. Ist er berühmt?«

Der Fahrer lachte. Er sang eine Weile mit. »Urlaub?«

»Ich besuche meine Schwester.«

»Jüdisch?«

Ich tat so, als hätte ich nichts gehört. Wahrscheinlich ahnte er, dass ich Araberin war, sonst hätte er sich nicht erkundigt. Der Tanz, den Fahrer und Fahrgäste aufführen, um Herkunft, Einstellung oder den Grad der Unwissenheit des anderen zu ergründen, war mir zuwider. Am Ziel, bevor das Kleingeld klimperte, würde sicher eine Geschichte von Verlust und politischer Entfremdung aus ihm herausplatzen. Ich sträubte mich dagegen, mich mit dieser Person gemeinzumachen. Ich legte eine Hand vor den Spalt, durch den die Luft fauchte, mir lag die Bitte auf der Zunge, er möge das Fenster weiter öffnen, aber wenn ich seine Sprache spräche, käme eines zum anderen, und ich hatte keine Lust, mit ihm zu quatschen – mit , wie unter der rissigen Laminierung seiner Lizenz in lateinischen Buchstaben neben der hebräischen Schreibweise zu lesen war. Das Foto zeigte ihn in jungen Jahren, leise lächelnd, mit schwarzem Schnurrbart, der nun ergraut war, wie ich im Rückspiegel sah, sein Blick zuckte zwischen der Straße und mir hin und her.

»Darf ich das Fenster öffnen?«, fragte ich auf Englisch. Der Fahrtwind pfiff ins Taxi. An den Straßenrändern ragten Palmen auf. Pinienwälder. Leitungsmasten.

Die Idee zu einer Reise nach Haifa hatte ich im Januar in London gehabt. Haneen hatte uns über Weihnachten besucht, und als sie zu Beginn des neuen Jahres bei unserem Vater ihre Koffer die Treppe hinuntertrug, wurde mir bewusst, dass wir während der ganzen Zeit nicht richtig miteinander geredet hatten. Es begann zu regnen. Ich gab ihr meinen rosa Regenschirm und öffnete die Tür für sie, voller Schuldgefühle und in dem bedrückenden Gefühl, ihr nicht gestanden zu haben, wie sehr ich sie brauchte. Wir winkten ihrem Taxi hinterher, und dann vertraute ich mich meinem Vater an, jedenfalls zum Teil, ich wollte ihn nicht unnötig beunruhigen. Warum besuchst du sie nicht in Haifa?, meinte er, der genauso lange nicht mehr dort gewesen war wie ich.

»Warum nicht wir beide?«, schlug ich vor. »Familienurlaub der Nasirs.«

»O nein, nein, nein«, entgegnete er, nahm seine Zeitung und verschwand in die Küche.

Am Vorabend seines siebzigsten Geburtstags war unser Vater endlich in den Ruhestand gegangen. Mit der Zeit gewöhnte er sich an den Alltag in unserem Haus in East Finchley. Ich musste quer durch die Stadt, um dorthin zu gelangen, also hatte ich beschlossen, bei ihm zu wohnen, während Haneen da war, damit wir die Feiertage unter einem Dach verbringen konnten. Im Oktober und November hatte ich in die Rolle der Arkadina gespielt, und als Haneen im Dezember, nach dem Ende der Spielzeit, eintraf, war ich noch überdreht. Ich hatte kaum Vorsprechen, sondern feierte Partys und schlich in den frühen Morgenstunden die Treppe hinauf, um in meinem einstigen Kinderzimmer zu schlafen. Der vorweihnachtliche Reigen der Theaterpartys interessierte mich eigentlich nicht, aber ich hatte eine Affäre mit Harold Marshall, dem Regisseur von , und er liebte es zu feiern. Ich berauschte mich einen Monat lang an der Heimlichtuerei, war mir seiner hünenhaften Erscheinung, seiner Bassstimme, seiner wild zurückstrudelnden, schwarzen Mähne sogar dann deutlich bewusst, wenn er ganz hinten in einem vollen Raum stand. Er war der Erste, der nach meiner Scheidung ernsthafte Gefühle in mir geweckt hatte, und obwohl es noch zu früh war, wirklich von Liebe zu sprechen, benutzte ich das Wort im Stillen. Noch war alles gut, aber ich ahnte, es würde bald kippen, was ich allerdings geflissentlich verdrängte, und das wiederum trug dazu bei, meine...


Hammad, Isabella
ISABELLA HAMMAD wuchs in London auf, lebt in London und New York. Sie gehört für die Zeitschrift Granta zu den ›Best Young Novelists under 40‹. Ihr Debütroman »Der Fremde aus Paris« war für die New York Times einer der wichtigsten Romane 2019, wurde in 16 Länder verkauft und mit dem Betty Trask Award und dem Palestine Book Award ausgezeichnet. Für »Enter Ghost« bekam sie den Encore Award für den besten zweiten Roman sowie den Aspen Words Literary Prize und war u.a. nominiert für den Ondaatje Prize sowie den Women’s Prize 2024.

Ahrens, Henning
Henning Ahrens, geb. 1964, lebt als Schriftsteller und Übersetzer in der niedersächsischen Provinz. Für seinen Lyrikband "Lieblied was kommt" (1998) erhielt er einen der Wolfgang-Weyrauch-Förderpreise beim Literarischen März 1999 sowie den Pro Litteris-Preis 1999 der Märkischen Kulturkonferenz und den Hebbel-Preis (2001). Er übersetzte u.a. J. C. Powys, Jonathan Safran Foer, Jonathan Coe und Hugo Hamilton. Zuletzt erschien sein Lyrikband "Kein Schlaf in Sicht" und der Roman "Tiertage".



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.