E-Book, Deutsch, 736 Seiten
Hammad Der Fremde aus Paris
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-641-25048-5
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 736 Seiten
ISBN: 978-3-641-25048-5
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Virtuos erzählt Isabella Hammad vom Leben eines Grenzgängers und Wurzellosen. Es ist der bewegende Roman einer Liebe zwischen den Kulturen und das Epos einer Zeitenwende - von klassischer Brillanz und unerhörter Aktualität.
ISABELLA HAMMAD wuchs in London auf, lebt in London und New York. Sie gehört für die Zeitschrift Granta zu den ›Best Young Novelists under 40‹. Ihr Debütroman »Der Fremde aus Paris« war für die New York Times einer der wichtigsten Romane 2019, wurde in 16 Länder verkauft und mit dem Betty Trask Award und dem Palestine Book Award ausgezeichnet. Für »Enter Ghost« bekam sie den Encore Award für den besten zweiten Roman sowie den Aspen Words Literary Prize und war u.a. nominiert für den Ondaatje Prize sowie den Women’s Prize 2024.
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1
Auf dem Dampfer von Alexandria nach Marseille gab es einen weiteren Araber, er hieß Faruq al-Azmeh. Am zweiten Tag der Reise steuerte er mittags auf Midhat zu, einen Teller mit Toast und eine Gebetskette aus Bernstein in den Händen. Er setzte sich, zupfte an den Aufschlägen seines Hemdes und erklärte ohne Umschweife, er sei auf dem Rückweg von Damaskus, um seine Tätigkeit als Sprachdozent an der Sorbonne wieder aufzunehmen. Er habe Paris bei Ausbruch des Krieges verlassen, wolle nach dem Wunder an der Marne aber unbedingt zurückkehren. Er hatte graue Augen und einen kantigen Kopf.
».« Er seufzte. »Dort ist mein Leben.«
Diese Worte beflügelten die Phantasie des jungen Midhat Kamal. Er stellte sich Rampenlichter vor, die einen Tanzsaal voller Frauen beleuchteten. Er musterte Faruqs Kleidung, den graublauen Dreiteiler und die indigoblaue Krawatte mit der silbernen Nadel in Vogelgestalt. Ein schlichter Spazierstock aus dunklem Holz lehnte am Tisch.
»Ich will Medizin studieren«, sagte Midhat. »An der Universität Montpellier.«
»Bravo«, sagte Faruq.
Midhat lächelte, als er nach der Kaffeekanne griff. Auf einmal entspannten sich Muskeln, deren Verkrampfung ihm gar nicht bewusst gewesen war.
»Sie besuchen Frankreich zum ersten Mal«, sagte Faruq.
Midhat nickte stumm.
Fünf Tage waren vergangen, seit er in Nablus von seiner Großmutter Abschied genommen hatte und auf einem Maulesel nach Tulkarem geritten war. Von dort war er mit der Haifa-Bahn bis El Qantara gefahren und in den Zug nach Kairo gestiegen. Nach ein paar Tagen im Haus seines Vaters war er in Alexandria an Bord des Schiffes gegangen. Er hatte sich an die endlose Wasserfläche gewöhnt, von weißen Schaumkronen durchsetzt und silbern glitzernd im Sonnenlicht. Mittagessen gab es um eins, Tee um vier, Dinner um halb acht, und anfangs saß er allein da und beobachtete, wie die Europäer mit Messer und Gabel aßen. In einem vollen Raum entwickelte er die Angewohnheit, nach dem roten Schopf des Kapitäns Ausschau zu halten, ein Franzose namens Gorin, und nach dem Dinner sah er zu, wie dieser die Brücke, wo er dem Steuermann Anweisungen gab, betrat und wieder verließ.
Gestern hatte er sich dann einsam gefühlt. Urplötzlich. Als er am Bug saß und auf den Kapitän wartete, wurde ihm sein an der Bank lehnender Hinterkopf bewusst, ein Gefühl, das auf bizarre Art schmerzhaft war. Er spürte, wie seine Beine aus dem Becken ragten. Seine Nase, sonst unsichtbar, wuchs auf die doppelte Größe an und ragte ins Blickfeld. Seine ganze Gestalt war eine harte, schwere, wunde Last, sein Herz schlug rasend schnell. Er glaubte, das Gefühl werde verfliegen. Aber so war es nicht, und abends fand er die Gespräche mit dem Quartiermeister, den Stewards im Speisesaal und den anderen Passagieren überraschend mühsam. Sie merkten doch sicher, wie wund seine Haut war. Nachts drückte er immer wieder auf die Aufzugskrone seiner Taschenuhr und klappte den Deckel über dem weißen Zifferblatt auf. Das Ticken schläferte ihn ein. Dann erwachte er wieder, und wenn er im weiteren Verlauf der Nacht nach der Uhrzeit schaute, bildete er sich ein, in den langsam vorrückenden Zeigern die Regungen eines monströsen Geschöpfs erkennen zu können.
Deshalb lächelte er seinen neuen Freund nun erleichtert an. Er hatte das Gefühl, dass seine zuletzt harten Konturen etwas weicher wurden.
»Welche Vorstellung haben Sie?«, fragte Faruq.
»Wovon? Von Frankreich?«
»Vor meiner Ankunft hatte ich zig Bilder im Kopf. Manche erwiesen sich als zutreffend. Manche waren …« Er drückte die Lippen mit den Fingern zusammen und lächelte selbstironisch. »Perücken zum Beispiel waren eine fixe Idee von mir. Sie wissen schon, künstliche Haare. Ich kann nicht genau sagen, wie ich darauf gekommen war, vermutlich hatte ich eine alte Zeichnung gesehen.«
Midhat brummte, als würde er nachdenken, und schaute aus dem Fenster aufs Meer.
Sein Gymnasium in Konstantinopel hatte sich am französischen Lycée orientiert. Die Lehrbücher waren allesamt aus Frankreich importiert, genauso die Hälfte der Lehrer und die meisten Möbel. Die Schüler hatten auf Korbgeflechtstühlen mit Sprossenlehne gesessen, gelesen und sich die Namen der Elemente in einer Mischung aus Französisch und Latein eingeprägt. Sie waren erst auf dem Flur wieder ins Türkische, Arabische oder Armenische verfallen. Wenn etwas zuerst auf Französisch formuliert worden war, blieb es dabei, sodass Midhat, um Beispiele zu nennen, seine inneren Organe als »le poumon« und »le coeur«, »le cerveau« und »l’encéphale« bezeichnete und auch die verschiedenen philosophischen Konzepte auf Französisch verinnerlicht hatte, etwa »l’altruisme« oder »la condition humaine«. Doch obwohl er fünf Jahre lang tief in alles Französische eingetaucht war, rang er um ein Bild Frankreichs, das sich von der Möblierung jenes Klassenraums löste, von dem aus man in den heißen türkischen Himmel blickte. Selbst jetzt, von diesem Dampfer aus betrachtet, lag die Provence in einem Nebel und hinter der Krümmung des Erdballs verborgen. Er sah wieder Faruq an.
»Ich habe keine Vorstellung von Frankreich.«
Er rechnete mit Faruqs Verachtung. Aber der zuckte nur die Schultern und senkte den Blick auf den Tisch.
»Waren Sie mal in Montpellier?«, fragte Midhat.
»Nein, ich kenne nur Paris. Die Universität ist natürlich berühmt für ihre medizinische Fakultät. Rabelais hat dort studiert, nicht wahr?«
»Ah, Sie haben Rabelais gelesen!«
Faruq lachte in sich hinein. »Nehmen Sie ein bisschen Marmelade, bevor ich alles verputzt habe.«
Nach dem Frühstück zog sich Faruq in seine Kabine zurück, und Midhat ging an Deck und setzte sich an den Bug. Er betrachtete das Meer und lauschte dem Gespräch einer Gruppe europäischer Amtsträger – Niederländer, Franzosen, Briten –, die sich auf der Bank nebenan laut unterhielten, zuerst über die Technik des Schiffes, danach über den deutschen Vorstoß auf Paris. Er verstand sie nur teilweise.
Unter Midhats Füßen knarrten Planken: Ein Kind tollte über das Deck. Im Hintergrund verglichen zwei junge Frauen Postkarten, der Wind spielte mit den Troddeln ihrer Sonnenschirme. Gestern beim Dinner hatten diese Mädchen ihre herrlichen Haare wie Hüte präsentiert, in Wellen gelegt und mit Juwelen geschmückt, die im Schein der Lüster glitzerten. Nach einer Weile wurde die Tür der Brücke geöffnet, und ein rothaariger Mann, Kapitän Gorin, erschien und ließ die Knöchel knacken. Ein uniformierter Amtsträger sprang von der Bank, um ihn anzusprechen, und als Gorin die Lippen bewegte – Midhat konnte seine Worte wegen des Windes nicht verstehen –, vertieften sich die Falten in seinem Gesicht. Gorin zündete sich eine Zigarette an, die er mit beiden Händen vor dem Wind schützte, löschte das Streichholz durch ein Schütteln und barg die Glut der Zigarette dann in der hohlen Hand. Der andere Mann verschwand, und Gorin lehnte an der Reling und rauchte. Seine Locken flatterten; sie schienen lose am Kopf befestigt zu sein. Er schnippte den Stummel über Bord und ging unter Deck.
Midhat beschloss, ihm zu folgen. Gorin verschwand gerade in der Luke, da ging Midhat an den lauten Europäern vorbei und schwang sich hinter dem Kapitän die Metalltreppe hinunter. Die erste Tür des Ganges öffnete sich zu einem Salon voller Menschen. In einer Ecke spielte ein Grammophon. Als er Ausschau nach Gorin hielt, begegnete er dem Blick Faruqs, der an einem Tisch saß, vor sich einen Bücherstapel.
»Schön, Sie zu sehen«, sagte Faruq. Er hatte sich umgezogen, trug nun einen dunklen Anzug und eine gelbe Krawatte mit grünen Sechsecken. »Die habe ich Ihnen mitgebracht. Mehr habe ich nicht dabei. Ein paar Gedichtbände … wieder mal Gedichte, diese sind tatsächlich recht gut … und . Das ist die Basislektüre für jeden jungen Mann, der zum ersten Mal nach Frankreich reist.«
»Vielen Dank.«
»Ich hole uns etwas zu trinken, und dann üben wir Französisch. Whisky?«
Midhat nickte. Er setzte sich und griff, um seine Nervosität zu verbergen, nach . Er schlug blind die Seite mit dem Vorwort des Autors auf.
Als ich in der königlichen Bibliothek für meine Biographie Ludwigs des XIV. recherchierte, stieß ich durch Zufall auf die Memoiren von M. D’Artagnan, gedruckt – wie die meisten Werke jener Epoche, deren Autoren …
Zwei Gläser, halb voll mit schwappender Flüssigkeit, glitten über den blank polierten Tisch.
». Also, ich möchte Ihnen einiges erklären. Sind Sie bereit?« Faruq lehnte sich auf der Bank zurück und zog, als er nach dem Drink griff, mit der anderen Hand die Gebetskette aus der Tasche. »Zunächst einmal die Französinnen. Sie finden das vielleicht komisch, aber man behandelt sie wie Königinnen. Man lässt sie stets als Erste einen Raum betreten. Prägen Sie sich das ein. Machen Sie sich darauf gefasst, dass Ihnen manches Unbehagen bereiten wird. Versuchen Sie, offen zu sein. Bleiben Sie Ihren Wurzeln treu, auf Französisch würde man sagen: , ? Ich habe viele französische Freunde. Und spanische. Die Spanier gleichen den Arabern – die Franzosen sind anders. Die meisten sind Christen, denken Sie an Ihre christlichen Freunde in Nablus. Ich nehme an, Sie haben in Palästina französische Pilger kennengelernt oder wenigstens gesehen. Gibt es Missionare in...