E-Book, Deutsch, Band 1, 608 Seiten
Reihe: Die John-Wallace-Serie
Hamdy Pendulum
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-641-21864-5
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, Band 1, 608 Seiten
Reihe: Die John-Wallace-Serie
ISBN: 978-3-641-21864-5
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Adam Hamdy war Strategieberater für internationale Firmen und Unternehmen, bevor er sich dem Schreiben von Drehbüchern und Romanen widmete. Aktuell entwickelt er die Serie Oracle für die BBC.
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3
ALS WALLACE WIEDER zu sich kam, geisterte ein einzelnes Wort durch seinen Kopf: Selbstmord. Er hatte es in den letzten Tagen oft zu hören bekommen, während er wie durch ein Kaleidoskop alles um sich herum nur bruchstückhaft wahrnahm. Selbstmord. Selbstmordversuch. Selbstmordgefahr. Er hatte versucht, den Vorfall zu erklären, aber das war ihm nicht besonders gut gelungen. Die Welt rauschte wie in einer Bildertrommel an ihm vorbei. Hin und wieder konnte er verschwommen etwas erkennen und erlag der Illusion, dass er eine Verbindung zur Wirklichkeit hergestellt hatte, aber in Wahrheit hatte er jedes Zeitgefühl verloren. Er wusste nur, dass alles um ihn herum von großer Dringlichkeit zu sein schien. Doch das war ihm egal. Jedes Mal, wenn er bei Bewusstsein war, hatte er das Gefühl, als wäre er von einem Meer aus flauschigen weißen Wolken umgeben, und wenn er schlief, wurde er von lebhaften Albträumen heimgesucht. Diese Träume waren so Furcht einflößend, dass ihm alles andere wie die reinste Glückseligkeit vorkam. Benommen und sabbernd kam er immer wieder zu sich, während sich die Bildertrommel immer weiter drehte. Ärzte operierten, und Schwestern saugten Flüssigkeit ab, Pfleger schoben ihn durch die Gegend, und Anästhesisten ließen ihn rückwärts zählen. Da waren grelle Lichter, glänzender Stahl und Blut, aber das Leben ging weiter. Und das war das Wunderbare: Er war am Leben. Wallace konnte sich noch an den eisernen, unerbittlichen Griff des Todes erinnern, weshalb alles, was danach kam, die helle Freude war. Jeden Atemzug, jedes Augenblinzeln, jede noch so kleine Regung hatte er dem Mann abgerungen, der versucht hatte, ihn zu töten. Immer wieder kam er zu Bewusstsein und konnte seine Umgebung nur schemenhaft erkennen, während er sich an einem Ort ohne Zeit und Bedeutung befand.
Schließlich wachte er auf. Diesmal ist es anders, dachte Wallace, als er sich im Krankenhauszimmer umschaute. Er nahm sich selbst jetzt deutlich wahr und hatte einen klaren Kopf. Er vermutete, dass man die Dosis der Schmerzmittel herabgesetzt hatte. Seit er für einen Auftrag drei Monate in Nepal verbracht hatte, war er mit der Wirkung von Betäubungsmitteln ein wenig vertraut, und er spürte tief in seinen Eingeweiden leichte Entzugserscheinungen.
Ein Lamellenvorhang zerschnitt das Sonnenlicht, das durch die Milchglasscheibe in Wallace’ Einzelzimmer fiel. Es handelte sich um ein normales Krankenhauszimmer mit einem elektrischen Bett, einem Rollwagen in der Ecke, einem Ständer mit einem Beutel voller durchsichtiger Flüssigkeit, von dem ein Schlauch zu seinem Arm führte, einem Herzfrequenzmonitor, einem Fernseher an der Wand und einer alten Dame. Sie lächelte, als Wallace’ Blick zu ihr zurückwanderte. Sie saß in einem niedrigen Stuhl, der gegenüber von seinem Bett an der Wand stand. Sie trug einen geblümten Pullover und einen langen schwarzen Rock, und sie hielt ein Buch in der Hand: Verfall und Untergang des Römischen Imperiums von Edward Gibbons. Ihre großen Augen sahen ihn mit einer Mischung aus Anteilnahme und Mitleid an. Sollte ich dich kennen? Vergeblich versuchte Wallace, das Gesicht einzuordnen.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte die alte Dame.
»Ganz okay«, krächzte Wallace heiser.
Die alte Dame stand auf und ging zu dem Rollwagen, um aus einer Plastikkanne Wasser in ein Glas zu gießen.
»Es hieß, dass Sie Schwierigkeiten haben würden zu sprechen«, sagte sie, während sie ihm das Glas brachte. »Das hilft vielleicht ein wenig.«
Wallace nickte dankbar und nahm einen Schluck. Sofort verkrampfte sich seine Kehle, als hätte er eine schlimme Mandelentzündung. Er formte mit den Lippen einen stummen Fluch und verzog das Gesicht, während er der alten Dame das Glas hinhielt.
»Es wird vielleicht ein Weilchen dauern«, erklärte sie und stellte das Wasser auf dem Wagen ab.
»Polizei«, krächzte Wallace und spürte ein Brennen im Hals.
»Nein, ich bin eine von den Freiwilligen. Wir kümmern uns um die Patienten, die stärker …«, die alte Dame zögerte, suchte nach dem richtigen Wort, »… gefährdet sind.«
Er stand also wegen Selbstmordgefahr unter Beobachtung. Großartig. Wallace warf der alten Dame einen Blick zu und schüttelte den Kopf.
»Polizei«, wiederholte er und hoffte inständig, dass sie ihn diesmal verstand. Denn er wusste nicht, ob seine Kehle einen weiteren Versuch verkraften würde.
»Oh!«, rief sie, als sie plötzlich begriff. »Sie wollen, dass ich die Polizei verständige. Natürlich. Ich werde eine der Schwestern bitten, sie anzurufen.«
Wallace war überrascht, wie müde er war. Sein Versuch, sich verständlich zu machen, hatte ihn völlig erschöpft. Kurz nachdem die alte Dame das Zimmer verlassen hatte, verlor er das Bewusstsein und kam erst wieder zu sich, als jemand sanft seine Schulter berührte. Er brauchte einen Moment, um sich zu orientieren, dann erkannte er eines der Gesichter aus der Bildertrommel wieder; es handelte sich um einen Arzt.
»Mary hat mir gesagt, dass Sie wach sind«, erklärte der Doktor. »Wir haben uns gefragt, ob Sie uns Ihren Namen sagen können.«
Der Arzt trug kein Namensschild. Wallace schätzte ihn auf Mitte vierzig. Er sprach mit einem ausgeprägten afrikanischen Akzent und hatte ein ernstes, unfreundliches Gesicht, was Wallace’ Gefühl der Paranoia noch verstärkte.
Er fasste sich an den Schädel und schüttelte den Kopf, um ihm zu verstehen zu geben, dass er sich nicht an seinen Namen erinnern könne.
»Sie wissen ihn nicht?«
Wallace nickte.
»Merkwürdig. Sie haben keinerlei neurologische Schäden erlitten«, sagte der Arzt. »Ihr Gehirn ist eines der wenigen Körperteile, das unversehrt geblieben ist. Sie haben schwere Prellungen an Armen und Beinen, außerdem drei gebrochene Rippen, einen offenen Bruch, eine Fraktur des Schlüsselbeins sowie Schnittwunden am Hals und Quetschungen der Luftröhre.«
Wallace’ Augen weiteten sich.
»Sie können von Glück sagen, dass Sie noch am Leben sind«, sagte der Arzt, während er Wallace verwundert musterte. »Ich werde einen weiteren MRT-Scan machen lassen, um sicherzugehen, dass wir nichts übersehen haben.«
Wallace lächelte und nickte.
»Draußen wartet ein Polizeibeamter. Glauben Sie, Sie können mit ihm sprechen?«
Wallace nickte mit so viel Nachdruck, wie es sein verletzter Hals zuließ.
»Falls Sie Hilfe benötigen, drücken Sie einfach auf den Knopf«, sagte der Arzt und deutete auf den grünen Drücker, der an einem Kabel neben dem Bett hing.
Wallace lächelte und hob zum Dank die Hand, als der Arzt das Zimmer verließ. Einen Moment später öffnete sich die Tür, und ein junger, dunkelhäutiger Mann in einem abgewetzten, zerknitterten Anzug betrat das Zimmer.
»Hi, ich bin Detective Sergeant Bailey. Der Arzt hat mir gesagt, dass Sie sich nicht mehr an Ihren Namen erinnern können. Wie soll ich Sie nennen?« Bailey war groß gewachsen und schlank, und seine runden Wangen verliehen seinem Gesicht ein kindliches Aussehen. Dadurch wirkte er vermutlich freundlicher und zugänglicher, als er tatsächlich war. Er hatte kurz geschorene Haare, wahrscheinlich um seinem Auftreten eine bedrohliche Note zu verleihen.
»John«, sagte Wallace mit heiserer Stimme.
»John. Okay, John, wie kann ich Ihnen helfen?«
Wallace gab dem Beamten ein Zeichen, näher ans Bett zu rücken. Da jedes seiner Worte ihm Schmerzen bereitete, wollte er nichts wiederholen. Bailey rutschte näher heran, und Wallace blickte in seine intelligenten Augen.
»Jemand hat versucht, mich umzubringen«, krächzte Wallace.
»Okay. Jemand hat versucht, Sie umzubringen«, wiederholte Bailey mit einer gehörigen Portion Skepsis.
Wallace starrte ihn wütend an. »Ein Mann mit Körperpanzer«, brachte er unter Schmerzen hervor.
»Ich wollte Sie nicht verletzen«, sagte Bailey. Wallace schätzte den Beamten auf Mitte zwanzig. Jung genug, um noch neugierig zu sein, aber alt genug, um zu wissen, dass die Dinge nicht immer waren, wie sie schienen. »Aber … Nun, die Krankenakten sind zwar vertraulich, aber ich habe draußen eine Weile gewartet, und ich weiß, dass man sehr viel mehr erfährt, wenn man sich bei einem Tässchen Tee ein wenig mit den Schwestern unterhält. Sie sagten mir, dass Ihre Verletzungen auf einen Selbstmordversuch hindeuten würden und dass Sie nach dem misslungenen Versuch womöglich in Panik geraten seien. Man hat Sie bewusstlos in einem Bus in der Victoria Station gefunden.«
Wallace hatte zwar abtauchen wollen, aber er konnte nicht fassen, dass er bis zum Busbahnhof gefahren war, ohne dass einer der Fahrgäste die Polizei verständigt hatte. Er zuckte innerlich mit den Achseln: London, die Stadt, in der man sich lieber nicht einmischt.
»Ein Mann hat versucht, mich umzubringen«, beteuerte er. Seine heisere Stimme klang bedrohlich und nur wenig menschlich.
»Ich hatte noch nicht oft mit Situationen wie dieser zu tun«, antwortete Bailey. »Aber ich weiß, dass vielen Menschen so etwas unangenehm ist. Statt zuzugeben, was passiert ist, sagen sie lieber Sachen wie ›Ich weiß auch nicht, wie ich vor dem Zug gelandet bin, ich muss ausgerutscht sein‹ oder ›Ich habe die Tabletten falsch abgezählt, eigentlich wollte ich nur zwei nehmen und nicht sechzig‹.«
Er lächelte Wallace an, der noch gar nicht die Möglichkeit in Betracht gezogen hatte, dass er die Polizei davon überzeugen musste, dass man...