Hamacher / Bataille / Blanchot | Nietzsche aus Frankreich | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 251 Seiten

Hamacher / Bataille / Blanchot Nietzsche aus Frankreich

Essays von Georges Bataille, Maurice Blanchot, Jacques Derrida, Michel Foucault, Pierre Klossowski, Philippe Lacoue-Labarthe, Jean-Luc Nancy und Bernard Pautrat

E-Book, Deutsch, 251 Seiten

ISBN: 978-3-86393-608-2
Verlag: CEP Europäische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die hier vereinten Texte der führenden Köpfe des französischen Poststrukturalismus machen mit einer bis heute ungewohnten Herangehensweise an das schwer zu fassende OEuvre Friedrich Nietzsches bekannt. Die Autoren dieser Sammlung stellen insgesamt die Legitimität in Frage, Nietzsches Werk nach der Logik des Gegensatzes von Metaphysik und Nicht-Metaphysik, Aufklärung und Gegenaufklärung, Philosophie und Literatur zu bestimmen. Das Buch lässt eine Diskussion des »guten« oder »bösen« Nietzsche hinter sich, stattdessen führen die hier versammelten Lektüren Denkbewegungen vor, die zeigen, wie fruchtbar Nietzsches Schriften für ein Denken der Vielfalt und Differenz zu machen ist und welche Impulse auch heute noch von seinen Schriften ausgehen. Hamachers Sammlung will Nietzsche aus ideologisierenden Festschreibungen lösen und dazu beitragen, Nietzsche erneut zu lesen.
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Werner Hamacher
Echolos
Unter dem Datum des 10. Dezember 1898 hat André Gide in seinen fiktiven Briefen an Angèle, die zuerst in der Zeitschrift L’Ermitage, später zusammen mit anderen Essays, Vorträgen und Reflexionen unter dem zweideutigen Titel Prétextes veröffentlicht wurden, sein ironisches Lob auf die Verspätung der französischen Übersetzung von Nietzsches Werken damit begründet, daß – ich übersetze – dank dieser grausamen Langsamkeit der Einfluß Nietzsches dem Erscheinen seiner Werke vorausgegangen sei. Fast, so fährt Gide fort, war die französische Publikation der Werke verzichtbar; »denn man kann geradezu die Behauptung aufstellen, daß Nietzsches Einfluß wichtiger ist als sein Werk, oder gar, daß sein Werk nur eines des Einflusses ist.« Die Verspätung der Texte, so will es Gides Bemerkung, bringt fast die Wahrheit über die Texte an den Tag: daß die Wirkung das Werk übertrifft, daß das Werk wesentlich in seiner Wirkung beruht und unabhängig von ihr keinen Bestand, keine Substanz hat, und daß das Werk, von seiner Wirkung determiniert, das Werk eben dieser Wirkung ist. Man muß nicht so weit gehen, bei dem Begriff ›Einfluß‹ an einen influxus physicus und die astrologischen Konnotationen des Wortes zu denken, um zu bemerken, daß Gide in seiner Charakterisierung von Nietzsches Wirkung in Frankreich an die Stelle der Substantialität des Werks die Substantialität seiner Wirkung setzt. Es bedarf nur eines Blicks auf einige von Nietzsches »eigenen« Überlegungen, um in Gides Theorie ihrer Wirkung – und also in der Wirkung, die sie auf Gide getan haben – ein getreues Echo zumindest einer der Behauptungen Nietzsches, und also in seiner Wirkung das Werk zu erkennen. Im dreizehnten Aphorismus der ersten Abhandlung der Genealogie der Moral nämlich polemisiert Nietzsche gegen die Überzeugung, es gebe hinter dem Starken ein indifferentes Substrat […], dem es freistünde, Stärke zu äußern oder auch nicht. Aber – so hält Nietzsche diesem moralischen und erkenntnistheoretischen Glauben entgegen – es gibt kein solches Substrat; es gibt kein Sein hinter dem Tun, Wirken, Werden; »der Täter« ist zum Tun bloß hinzugedichtet – das Tun ist alles. Daß es hinter dem Tun noch einen Täter, hinter dem Wirken noch ein Sein gibt, ist für Nietzsche nichts als eine Illusion der Grammatik, in der die gesamte Geschichte der Philosophie seit der Lehre des Demokrit von einer unteilbaren Grundfigur, dem Atom, bis hin zur kantischen Doktrin von einem Ding an sich und zur Lehre des spekulativen Idealismus von einem substantiellen Subjekt, heiße es nun Wissen oder Werk, Geist oder Darstellung, befangen ist. Wie immer das Substrat benannt sein mag, es verdankt sich der trügerischen Disjunktion zwischen grammatischem Subjekt und Prädikat im Aussagesatz und deshalb dem, was Nietzsche die Verführung der Sprache nennt. Nicht bestimmten Gegenständen werden bestimmte Eigenschaften prädiziert – so argumentiert Nietzsche –, sondern nie endgültig bestimmbare Kraftimpulse sprechen sich Eigenschaften zu und sind nichts anderes als eben dieses Zusprechen: Prädikationen, die sich in präkonventionellen, Konventionen erst setzenden Akten vollziehen. Die Grammatik des Aussagesatzes ist bloß die illusorische Figur, in der sprachliche Akte festgeschrieben und zum Gegenstand irreführender Zerlegungen in verschiedene Funktionen gemacht werden. Das Subjekt – ob nun des Autors oder des Lesers – ist bloß die Figur, zu der ein Akt; das Werk die Figur, zu der sein Wirken entstellt ist. Die Rede vom Werk und die Rede von einem Autor – von jenem »Herrn Nietzsche«, den die Vorrede zur Fröhlichen Wissenschaft zu ignorieren empfiehlt – beruht also nicht nur auf einem harmlosen grammatikalischen Irrtum, sondern auf einer gefährlichen Verirrung, die das sprachliche Handeln und damit die Sprache überhaupt zu lähmen droht. Wenn Gide den Einfluß Nietzsches höher einschätzt als sein Werk und dies Werk auf seinen Einfluß reduziert, dann scheint es ganz so, als würde er sich zum Agenten des Sprach-Aktivismus machen, dem die zitierte Passage aus der Genealogie der Moral das Wort redet. Gides Bemerkung, die nur prononcierter formuliert, was deutschsprachige Autoren wie Musil und Benn, Hofmannsthal, Thomas und Heinrich Mann mit den selben abstrakten Begriffen beschreiben: Nietzsche habe sie beeinflußt und entscheidend auf sie eingewirkt –; diese Bemerkung scheint zu bezeugen, daß Nietzsches Parteinahme für die Wirkung der Sprache und daß seine Virtuosität in ihrem wirkungsvollen Gebrauch sich durch eine Unzahl von Wirkungen – der verschiedensten und der widersprüchlichsten Art – ausgezahlt hat und daß derart sein Werk in der Tat zum Werk seiner Wirkungen wurde. »Das Werk« ist zum Wirken bloß hinzugedichtet – so ließe sich Nietzsches Diktum (und genauer: »Nietzsches« Diktum) variieren –, die Wirkung ist alles … Doch wäre die Wirkung alles, so wäre sie nicht die von Nietzsches Werk, nicht »seine« Wirkung, sie wäre die Wirkung einer Sprache, die nicht als Subjekt ihrer Wirksamkeit operiert, sondern als bloße Überredung perlokutiv immer schon ihren Adressaten und ihr Ziel erreicht hätte, reine rhetorische Gewalt. Wie aber nichts, was im Gebiet dieser rhetorischen Gewalt geschieht, unabhängig von ihr zuwege gebracht werden kann, so ist auch die Projektion eines Subjekts hinter die Tat und eines Werks hinter die Wirkung ein sprachlicher Akt: »der Täter« – so lautet Nietzsches Formulierung – ist bloß hinzugedichtet, er ist hinzugedichtet unter der Verführung der Sprache. Wenn die Verführung durch die Sprache alles ist, dann hat aber auch die Hinzudichtung eines Subjekts ihr Recht – nämlich das Recht der rhetorischen Gewalt – und dann ist nicht nur das Subjekt sprachlicher Äußerungen, sondern auch ihre Wirksamkeit selbst eine Erdichtung. Die Aktivität der Sprache ist Täuschung, ihre performative Substanz Effekt einer Verführung –: denn daß Sprache nicht nur gelegentlich und unter bestimmten Bedingungen, sondern daß sie regelmäßig und immer Verführung sei, ist selbst schon ein Glaube, der der Suggestion der Sprache folgt. Sprache, als Verführung verstanden, ist ein fundamentales und alle Fundamente zerbrechendes Paradox. Substanz ohne Substanz, führt die Verführung, die die Sprache ist, nie vom Weg der Wahrheit ab, weil es eine andere Wahrheit als die erdichtete nicht gibt. Hinzudichtung also wäre alles – aber nichts hat diese Hinzudichtung nötiger als die Hinzudichtung »selbst«. Denn Nietzsches emphatische Parteinahme für das subjektlos-reine Tun der Sprache – und das heißt für ihre unwiderstehliche Setzungsmacht – wäre nicht nötig, wenn ihre performative Gewalt sich tatsächlich allenthalben durchzusetzen vermöchte. Und hätte die Verführung zur grammatischen Disjunktion nicht eine Grenze, so hätte auch Nietzsche dem Aberglauben an ein indifferentes Substrat der Sprache erliegen müssen. Aber die Verführung, die die Sprache ist, ist kein perlokutives, sondern allenfalls ein illokutives Ereignis, das nicht notwendig an sein Ziel: zu sich selbst kommt und dessen Wirkung seine möglichen Adressaten und in ihnen seine eigene Substanz nicht immer schon überredet hat. Sprache als Überredung wirkt in Differenz zu sich selbst. Noch vor jeder grammatischen Disjunktion in Subjekt und Prädikat findet die entscheidende – die performative – Disjunktion im Wirken der Sprache statt, in ihrem Tun und ihrem Werden. Wesentlich Wirkung, ist sie doch immer actio in distans zu sich selbst. Denn ihr Wesen – daß sie immer nur wird und nie ist, daß sie immer nur wirkt und nie Werk ist – vermag, da es Verführung ist, nie zu Etwas, sondern immer nur zur Verführung zu verführen. Das heißt aber, daß sie nie verführt haben darf, wenn anders sie Verführung bleiben soll; daß es kein Tun der Sprache geben kann, wenn anders Sprache als Tun möglich sein soll. Ihr Wesen – ihr Werden und Wirken – ist immer schon behindert, blockiert oder unterbrochen. Wenn Sprache Wirkung tut, dann aus jenem Fond der Unwirksamkeit, der sich als Distanz zu ihrem Wirken, als Distanz zu ihr selbst als Wirkung öffnet. Diese Handlungsdistanz: die Spanne, die sich zwischen dem Wirken eines Textes und der grammatikalischen Fixierung zum Sein dieses Wirkens auftut, läßt sich weder kontrollieren, noch läßt sie sich reduzieren, denn erst dieser Distanz entspringt das Wirken und mit ihm der Text, der sich von jeder Bewegung, die er auslöst, zurückzieht. In jedem Sprechakt ist diese distantia actionis am Werk und verhält ihn konstitutiv, destitutiv zur Unwirksamkeit. Er ist möglicher Akt – aber das Potential jedes Aktes ist ein Potential aus Inaktivität: es läßt Wirkungen von unabsehbarer...


Werner Hamacher, 1946 bis 2017 war ein deutscher Literaturtheoretiker und Komparatist, er lehrte bis zu seiner Emeritierung an der J.W.v. Goethe Universität in Frankfurt am Main. Er galt als einer der wenigen, der die Denkstrategien der poststruktualistischen Dekonstruktion vermittelte.


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