Fünfundsiebzig
Ich beneidete meine Enkelin.
Natürlich hätte ich das niemals zugegeben.
Angeblich wird man ja mit zunehmendem Alter immer weiser, aber ich fühlte mich kein bisschen weise.
Es heißt auch, es sei ein großer Segen, fünfundsiebzig Jahre alt werden zu dürfen. Das behauptete ich gegenüber anderen zwar selbst immer, aber eigentlich nur, damit ich mich besser fühlte. Ich erzählte den Leuten, das Schönste am Älterwerden sei die Weisheit, die sich damit einstelle. Dabei war das dummes Geschwätz. Allerdings konnte ich das wohl kaum offen zugeben, ohne meine Mitmenschen vollends zu frustrieren. Sie würden schon von selbst dahinterkommen, wenn sie erst mein Alter erreicht hatten. Wenn mir jemand prophezeit hätte, wie deprimierend ich es finden würde, fünfundsiebzig zu sein, ich hätte schon vor Jahren einen Abgang gemacht. Selbstmord? Nein, Gott bewahre. Ich hätte mich auf eine einsame Insel zurückgezogen und meinen Lebensabend ohne die schmerzliche Gegenwart eines Spiegels verbracht.
Ich fragte mich, wieso ich noch kein Heilmittel gegen Krebs erfunden hatte, wenn man mit fünfundsiebzig angeblich so unglaublich weise ist. Wenn ich so verdammt schlau war, warum traute man mir dann nicht zu, dass ich die Erde vor der endgültigen Zerstörung rettete? Warum wurden meine fünfundsiebzigjährigen Freundinnen und ich nicht zu UNO-Sitzungen eingeladen und gefragt, wie man die Welt zum Besseren verändern könnte? Wenn wir schon so klug waren, sollten wir doch die Gelegenheit bekommen, unsere Ansichten kundzutun. Trotzdem wurden wir nie nach unserer Meinung gefragt – und wissen Sie, weshalb? Weil die Sache mit der Weisheit nämlich kein Mensch glaubte. Wenn es jemand getan hätte, dann hätte man uns vielleicht gelegentlich Gehör geschenkt.
Ich fand es grauenhaft, fünfundsiebzig zu sein. Ganz im Ernst. Ich wollte auch diese Geburtstagsparty an jenem Abend nicht, aber meine Tochter Barbara hatte darauf bestanden, eine für mich zu organisieren. Barbara konnte zuweilen eine richtige Nervensäge sein.
Nach allem, was Sie bisher gelesen haben, halten Sie mich vermutlich für eine dieser verbitterten, zerknitterten alten Schachteln, die in Selbstbedienungsrestaurants Süßstoff mitgehen lassen, sich ständig über fiktive Zugluft beschweren oder Obst in den Supermarkt zurückbringen, wenn es angeschlagen ist. So war ich ganz und gar nicht. Ich mochte gar keinen Süßstoff. Meine Enkelin Lucy sagte immer: »Meine Großmutter ist cool.« Ich hielt mich selbst auch für cool. Ich bemühte mich, auf dem Laufenden zu bleiben. Ich verfolgte die Nachrichten, sah mir diese neumodischen Fernsehserien an, obwohl ich sie nicht ausstehen konnte, und versuchte stets, mich modebewusst zu kleiden.
Fünfundsiebzig.
Ich war schon so verdammt alt.
Übrigens fluche ich normalerweise höchst selten, aber im Moment ist das die beste Art und Weise, meine Gefühle auszudrücken.
Meine Freundinnen und ich versicherten einander immer wieder, dass das Alter nur eine Zahl sei.
»Ich fühle mich nicht wie fünfundsiebzig«, sagte Frida, die schon mein Leben lang meine beste Freundin war.
»Ich auch nicht«, log ich, wohl wissend, dass auch sie log. Frida sah eher wie fünfundachtzig aus, und sie benahm sich auch so, aber ich hütete mich, je irgendeine Bemerkung in diese Richtung zu machen.
»Meine Mutter ist eine jung gebliebene Fünfundsiebzigjährige«, erzählte meine Tochter anderen Leuten – in meinem Beisein, wohlgemerkt. Ich hasste es, wenn sie das sagte. Warum tat sie das?
»Weil du so gut aussiehst für dein Alter und ich mit dir angeben will«, meinte sie. Ich fand, mein Alter gehe niemanden etwas an. Wenn ich es jemandem verraten wollte, war das meine Sache, aber meine Tochter hatte nicht das Recht dazu.
»Meine Tochter ist fünfundfünfzig«, sagte ich in solchen Fällen lächelnd.
»Was sollte das denn?«, fragte mich Barbara dann, sobald sich die Leute, die ungefragt mit all diesen Informationen überschüttet worden waren, außer Hörweite befanden.
»Was hast du denn?«, verteidigte ich mich und stellte mich dumm: »Du siehst doch auch gut aus für dein Alter!« Meine Tochter hätte mir niemals vorgeworfen, dass ich das aus Rache tat. So viel Grips traute sie mir gar nicht zu.
Aber was mich ehrlich gesagt so richtig wurmte, war die Tatsache, dass mir noch gut und gern fünfzehn, zwanzig Jahre blieben, um darüber nachzudenken, was ich in meinem Leben alles hätte tun und lassen sollen. Das machte mich traurig. Traurig und wütend.
Ich bereute zum Beispiel, dass ich mich jahrelang in die Sonne gelegt hatte. Uns hatte damals nämlich niemand vor den Gefahren gewarnt. Tja, das gehört wohl zu den Dingen, die man mit zunehmendem Alter lernt. Vielen Dank auch.
Wenn ich daran dachte, wie oft ich unter einer dicken Ölschicht am Pool gesessen hatte, ohne jeglichen UVA- oder UVB-Schutz! So etwas hatte es damals überhaupt nicht gegeben. Ungeschützt in der Sonne zu sitzen galt sogar als gesund. Wir hatten unsere Kinder der prallen Sonne ausgesetzt, weil es hieß, das täte ihnen gut, und wenn sie hinterher einen Sonnenbrand hatten, dann legten wir ihnen einen kalten Waschlappen auf. Von Hautkrebs war damals keine Rede gewesen. Wir hatten nie davon gehört. Inzwischen war Hautkrebs bei meinen Freundinnen und mir eines der wichtigsten Gesprächsthemen. Sobald eine von uns einen klitzekleinen dunklen Fleck an ihrem Arm entdeckte, entspann sich daraus eine mehrstündige Episode von Dr. House, bis der Arzt Entwarnung gab. Im Falle der armen Harriet Langarten hatte es leider keine Entwarnung gegeben. Deshalb hatten wir alle solche Angst. Seitdem gehörte ich zu den alten Damen, die ihren Regenschirm aufspannen, sobald auch nur ein Sonnenstrahl zu sehen ist. Im Laufe der Jahre hatte ich sämtliche Cremes auf dem Markt durchprobiert, um Sonnenflecken und Falten loszuwerden. Ich hatte chemische Peelings über mich ergehen und mir von Dermatologen die oberste Hautschicht vom Gesicht kratzen lassen, um die Schäden zu beheben, die ich mir beim Sonnenbaden in den Siebzigern zugezogen hatte, weil ich für irgendeine Cocktailparty knackig braun und sexy aussehen wollte.
Ich bereute außerdem, dass ich nicht mehr Sport getrieben hatte. Als ich jung gewesen war, hatten Normalsterbliche nicht »trainiert«. Wir hatten gelegentlich Tennis oder Golf gespielt, aber die meiste Zeit trafen wir uns im Country Club zum Bridge, während unsere Ehemänner Golf spielten. Und da die meisten unserer Männer mittlerweile bereits gestorben waren, konnte man davon ausgehen, dass Golf allein als Sport wohl auch nicht ausreicht. Vor ein paar Jahren hatte ich mich mit Frida in einem Fitnessstudio angemeldet, aber alle anderen Mitglieder waren mindestens dreißig Jahre jünger als wir. Wir waren genau ein Mal dort. Stattdessen kaufte ich mir ein Laufband, auf dem ich unzählige Kilometer zurücklegte. Insgesamt war ich darauf inzwischen garantiert bis China und wieder retour marschiert. Ich behauptete immer, ich würde mich wohler fühlen, wenn ich Sport trieb, aber das war gelogen. Mir tat regelmäßig alles weh, die Füße, die Gelenke, der Busen. Es heißt ja immer, Schönheit muss leiden, aber ich kam irgendwann zu dem Schluss, dass ich genug gelitten hatte. Seitdem benutzte ich dieses Folterinstrument kaum mehr.
Ich hatte es auch mit Schönheitsoperationen versucht, um jünger auszusehen – mit Botox und Restylane, mit Collageninjektionen und Elektrolyse. Ich hatte mir das Gesicht liften lassen (SCHMERZ lass nach!) und die Stirn (noch schmerzhafter, und wirkungslos obendrein; die reine Geldverschwendung). Ich sah zwar nicht aus wie einer dieser Hunde, die vor Falten kaum die Augen offen halten können, aber ich ging definitiv nicht als Fünfzigjährige durch, wie der Arzt es mir versprochen hatte. Quacksalber.
Aber von den Äußerlichkeiten einmal abgesehen, gab es auch sonst so einiges, das ich anders gemacht hätte, wenn ich die Zeit hätte zurückdrehen können.
Erstens: Ich hätte eine bessere Ausbildung absolviert.
Es mag verrückt klingen, aber zu meiner Zeit, in den 1950er Jahren, um genau zu sein, war Bildung für Frauen absolut entbehrlich gewesen. Zumindest vertraten unsere Eltern (meine und die meiner Freundinnen jedenfalls) diese Ansicht. Als ich verkündete, ich wolle an der University of Pennsylvania englische Literatur studieren, sagte meine Mutter zu mir: »Du brauchst einen tüchtigen Ehemann«. Sie bestand darauf, dass ich auf die Sekretärinnenschule ging. Also lernte ich Tippen und dachte mir, gut, die Klassiker kann ich ja auch lesen, wenn ich mal allein zu Hause sitze, als müsste ich es heimlich tun; als wäre die Lektüre von James Joyce oder Dylan Thomas unrecht oder unschicklich. Leider hatte ich dann nie die Zeit zum Lesen. Wer hat das schon?
Stattdessen lernte ich meinen Mann kennen.
Das ist auch etwas, das ich anders gemacht hätte, wenn ich gekonnt hätte. Ich hätte meinen Mann nicht geheiratet.
Auch das dürfen Sie auf keinen Fall weitererzählen.
Nicht, dass ich meinen Mann nicht geliebt hätte. Ich habe ihn geliebt, sehr sogar. Er war ein anständiger Kerl. Aber wenn ich ganz ehrlich sein soll, war er nicht der Richtige für mich.
Howard Jerome war ein sehr prominenter Anwalt aus Philadelphia. Als wir uns zum ersten Mal über den Weg liefen, war er Bezirksstaatsanwalt und noch sehr jung, und ich arbeitete als Sekretärin in derselben Kanzlei wie er. Er war nicht der attraktivste Anwalt der Firma, aber er war derjenige, der mich wollte. Howard war klein, kahl und dick, schon damals. Ich hatte mich in einen...