Hallich | Anders handeln können | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Reihe: Blaue Reihe

Hallich Anders handeln können

Ein sprachphilosophischer Essay
unverändertes eBook der 1. Auflage von 2022
ISBN: 978-3-7873-4293-8
Verlag: Felix Meiner
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Ein sprachphilosophischer Essay

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Reihe: Blaue Reihe

ISBN: 978-3-7873-4293-8
Verlag: Felix Meiner
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Anders-handeln-Können ist eine zentrale Kategorie in der Willensfreiheitsdebatte. Im Allgemeinen gehen wir davon aus, dass Freiheit ein Anders-handeln-Können und Verantwortlichkeit Freiheit, also ebenfalls die Möglichkeit, anders handeln zu können, voraussetzt. In diesem Buch wird gezeigt, dass und wie eine genaue Untersuchung der Verwendungsweisen von Ausdrücken wie 'Sie hätte anders handeln können' zur Lösung der unter der Rubrik 'Willensfreiheitsproblematik' diskutierten Probleme beitragen kann. Aus einer Analyse der in der Literatur meist übersehenen Differenz zwischen indikativischen ('Sie konnte anders handeln') und konjunktivischen ('Sie hätte anders handeln können') Redeweisen über das Anders-handeln-Können werden verschiedene Weisen des Anders-handeln-Könnens abgeleitet und es wird gezeigt, wie sich Fragen wie 'Konnte sie anders handeln?' beantworten lassen. Es zeigt sich, dass wir bei der Diskussion des Problems von Willensfreiheit und Verantwortlichkeit besser damit beraten sind, statt über Freiheit über Anders-handeln-Können, Fähigkeiten und die Zumutbarkeit von Willensbildungen zu sprechen.
Der Text richtet sich an alle an der Willensfreiheitsdebatte interessierten ExpertInnen und Laien, insbesondere an die an einer sprachanalytischen Diskussion dieses Problems Interessierten.

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I. ANDERS-HANDELN-KÖNNEN IM KONTEXT DER FREIHEITSDEBATTE
1. Anders-Handeln-Können, Freiheit, Verantwortlichkeit – Ausgangsintuitionen
Es besteht kein Zweifel, dass das Verständnis des Satzes »Sie hätte anders handeln können« im Kontext der Willensfreiheitsproblematik von zentraler Wichtigkeit ist. Die Frage, ob jemand anders hätte handeln können, als er gehandelt hat, wird im Allgemeinen in Verbindung mit zwei anderen zentralen Fragen erörtert, nämlich zum einen derjenigen, ob der Mensch frei oder, spezifischer, willensfrei ist, und zum anderen derjenigen, ob er für sein Tun verantwortlich ist und (staatliche oder informelle) Sanktionen als Reaktionen auf Fehlverhalten und Normverstöße gerechtfertigt sind. In Bezug auf den Zusammenhang von Freiheit und Anders-Handeln-Können2 wird meist von folgender Intuition ausgegangen: Anders-Handeln-Können ist eine Voraussetzung für Freiheit. Wer nicht anders handeln kann, als er handelt, ist nicht frei. Wer nicht anders wollen kann, als er will, ist nicht willensfrei. Wer eine ausführliche Abhandlung über Freiheit schreiben wollte, müsste natürlich an dieser Stelle zwischen verschiedenen Freiheitsbegriffen differenzieren und sich vor allem um eine Systematisierung dessen, was unter der Überschrift »Freiheitsproblem« erörtert wird, bemühen. Willensfreiheit ist nicht dasselbe wie (z. B.) politische Freiheit, und natürlich ist das Freiheitsproblem nicht mit dem Problem der Willensfreiheit zu identifizieren. Da aber in der folgenden Abhandlung die Kategorie des Anders-Handeln-Könnens untersucht werden soll, können wir es an dieser Stelle bei der Feststellung belassen, dass, wie auch immer genau man das Freiheitsproblem und das Willensfreiheitsproblem voneinander abgrenzt, in beiden Kontexten die Kategorie des Anders-Handeln-Könnens zentral ist. Was auch immer wir unter Freiheit verstehen, wir setzen dabei Anders-Handeln-Können voraus. Am Ende dieser Abhandlung wird, ausgehend von dieser Einsicht, die These stehen, dass wir weder über das Freiheitsproblem noch über das Willensfreiheitsproblem diskutieren, sondern uns auf die Untersuchung des Anders-Handeln-Könnens beschränken sollten. Eine Differenzierung zwischen verschiedenen Freiheitsbegriffen ist daher an dieser Stelle verzichtbar. Der Zusammenhang von Freiheit und Anders-Handeln-Können wird häufig auch so formuliert: Freiheit hat nur, wer auch andere Möglichkeiten hat, und nur wer anders handeln kann, hat auch andere Möglichkeiten. Wer hingegen z. B. unter Zwang handelt, hat keine anderen Möglichkeiten. Er kann nicht anders handeln, als er es tut. Er ist daher unfrei. Die Bankkassiererin, die, konfrontiert mit der Drohung »Geld oder Leben!«, dem Bankräuber das Geld gibt, hat, so sagen wir häufig, »keine andere Wahl«, als ihm das Geld zu geben, und ist insofern unfrei. Wer also Freiheit generell bestreiten will, wird zu bestreiten versuchen, dass Menschen anders handeln können, als sie handeln, oder – wenn er Willensfreiheit bestreiten will – dass Menschen anders wollen können, als sie es tun. In diesem Sinne haben z. B. in jüngerer Zeit einige Hirnforscher einen Angriff auf die Annahme menschlicher Freiheit – womit im Allgemeinen Willensfreiheit gemeint ist – in Form des Nachweises versucht, dass wir nicht anders handeln können, als wir es tun, weil »neuronale Verschaltungen« unsere Entscheidungen »determinieren« und unser Handeln genauso unausweichlich und notwendig machen würden wie Naturereignisse. Da wir nicht anders handeln können, als wir handeln, sind wir, so der Tenor ihrer Argumentation, – unserer gegenläufigen Selbstwahrnehmung und einer prima facie plausiblen Ausgangsintuition zum Trotz – unfrei.3 Auf ähnliche Weise wie mit der Freiheitsfrage wird Anders-Handeln-Können im Allgemeinen mit der Frage nach Verantwortlichkeit verknüpft. Mit »Verantwortlichkeit« ist dabei nicht kausale Verantwortlichkeit, sondern moralische Verantwortlichkeit gemeint, also eine Verantwortlichkeit, die unterstellt, dass Menschen frei und absichtlich – oder, wenn nicht absichtlich, dann auf andere Weise vorsätzlich oder fahrlässig – handelnde Akteure sind, die deswegen für ihr Tun zur Rechenschaft gezogen und gegebenenfalls negativen Reaktionen wie Tadel oder anderen (sozialen oder staatlichen) Sanktionen ausgesetzt werden können. Moralische Verantwortlichkeit, so heißt es oft, setzt Anders-Handeln-Können voraus.4 Genauer: Moralische Verantwortlichkeit wird im Allgemeinen mit Freiheit und diese wiederum mit Anders-Handeln-Können verknüpft; d. h. es wird gesagt, dass moralische Verantwortlichkeit Freiheit voraussetzt und Freiheit wiederum Anders-Handeln-Können, so dass auch moralische Verantwortlichkeit Anders-Handeln-Können voraussetzt. Nur wer frei gehandelt hat, ist moralisch verantwortlich. Und nur wer anders handeln konnte, hat frei gehandelt. Also gilt auch: Nur wer anders handeln konnte, als er gehandelt hat, ist moralisch verantwortlich. Konnte jemand nicht anders handeln, als er gehandelt hat, kann man ihn auch nicht berechtigterweise negativen Reaktionen aussetzen. Wer aufgrund seiner schwächlichen Konstitution einen schweren Koffer nicht auf die Gepäckablage heben kann, dem wird man es nicht als Unhöflichkeit vorwerfen, wenn er der Bitte, dies zu tun, nicht nachkommt. Wer sich nicht gegen Corona impfen lassen kann, weil gar kein Impfstoff zur Verfügung steht, dem ist auch keine Impfverweigerung vorzuwerfen. Wer dem verunglückten Autofahrer nicht hilft, weil dieser im Unfallauto eingeklemmt ist und er keinen Zugang zu ihm hat, dem ist keine unterlassene Hilfeleistung vorzuwerfen. In diesen Fällen, so scheint es, gilt: Jemand konnte nicht anders, als das zu tun, was er tat, und daher wäre es unangebracht, ihn als jemanden anzusehen, der die Handlung frei vollzogen hat und für sie zur Verantwortung gezogen werden kann. Im Allgemeinen gehen wir also von den Annahmen aus, dass jemand anders handeln können muss, um frei zu handeln, und dass jemand auch nur dann moralisch verantwortlich ist, wenn er frei handelt, also anders handeln kann. Dies ist ein verbreitetes intuitives Vorverständnis des Zusammenhangs von Anders-Handeln-Können, Freiheit und Verantwortlichkeit. 2. Kompatibilismus und die Falls-Gebundenheit von »können«
Wie präzisierungsbedürftig die genannte, intuitiv einleuchtende Verhältnisbestimmung von Freiheit und Anders-Handeln-Können ist, wird allerdings unmittelbar deutlich, wenn man die Annahme zu hinterfragen beginnt, dass Freiheit Anders-Handeln-Können voraussetzt. Ist das wirklich der Fall? Oder ist es nicht vielmehr möglich, dass jemand nicht anders handeln konnte, aber gleichwohl über Freiheit oder zumindest eine bestimmte Form von Freiheit verfügte? Dass Nicht-anders-Handeln-Können zumindest eine bestimmte Form von Freiheit nicht ausschließt, ist eine Position, die üblicherweise als »kompatibilistisch« gekennzeichnet wird. Sie wird häufig durch die Formel wiedergegeben, dass »Freiheit und Notwendigkeit miteinander vereinbar« seien, wobei vorausgesetzt wird, dass Nicht-anders-Handeln-Können mit Notwendigkeit gleichzusetzen sei und dass wir zwischen »Er konnte nicht anders handeln, als er gehandelt hat« und »Er hat notwendig so gehandelt, wie er gehandelt hat« nicht weiter differenzieren müssten. Dem Kompatibilismus wird dann der Inkompatibilismus gegenübergestellt, der, so heißt es, die Unvereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit behaupte. Die Debatte zwischen Kompatibilismus und Inkompatibilismus betrifft also die Frage der Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit, wobei Kompatibilisten und Inkompatibilisten sich hinsichtlich der Frage, ob wir frei sind oder nicht – also der Frage, die zwischen Deterministen und Libertaristen strittig ist –, grundsätzlich auch agnostisch verhalten können. Man kann behaupten, dass wir frei sind, auch wenn wir nicht anders handeln können, als wir es tun, ohne zu behaupten, dass wir nicht anders handeln können, als wir es tun. Man ist dann Kompatibilist, legt sich aber nicht hinsichtlich der Frage fest, ob ein Determinismus zutrifft, ob also menschliche Handlungen in dem Sinne »determiniert« sind, dass niemand anders handeln kann, als er es tut. Und man kann behaupten, dass, wenn wir frei sind, diese Freiheit erfordert, dass wir anders handeln können (also ausschließt, dass wir nicht anders handeln können, als wir handeln), ohne zu behaupten, dass wir frei sind. Man ist dann Inkompatibilist, legt sich aber ebenfalls nicht hinsichtlich der Frage fest, ob wir frei sind oder ob der Determinismus zutrifft.5 Es gibt zahlreiche Varianten kompatibilistischer Positionen, und es gibt zahlreiche mögliche Strategien, einen Kompatibilismus zu begründen.6 Eine dieser Strategien besteht darin, verschiedene Bedeutungen von »können« voneinander zu unterscheiden und zu sagen, dass jemand in einer bestimmten Bedeutung von »können« nicht anders handeln konnte, als er gehandelt hat, dass er hingegen in einer anderen Bedeutung von »können« sehr wohl anders handeln konnte, als er gehandelt hat. So unterscheidet Peter Stemmer zwischen einem »Können1«, das er – sehr unglücklich – »Können der Macht« nennt7 und das ich im Folgenden »Können der Umstände« nennen werde, und einem »Können2«, das er als »Können tout court« bezeichnet. Der Unterschied zwischen Können1 und Können2 ist folgender. Mit dem Können1 blicken wir nur auf die Umstände einer Situation, auf das, was sie zulassen oder nicht zulassen. Wir blicken aber nicht auf das Wollen eines Akteurs. Wir fragen, ob die Umstände etwas möglich oder unmöglich...


Hallich, Oliver
Oliver Hallich ist Professor für Philosophie mit dem Schwerpunkt Praktische Philosophie an der Universität Duisburg-Essen. Forschungsgebiete u.a.: Straftheorien, Philosophie des Verzeihens, Reproduktionsethik, Schopenhauer. Jüngste Buchpublikationen: "Strafe" (Grundthemen Philosophie), Berlin / Boston 2021; "Besser, nicht geboren zu sein? Eine Verteidigung des Anti-Natalismus", Berlin 2022.



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