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E-Book, Deutsch, 736 Seiten

Haller Fluss-Trilogie

Die autobiografischen Romane
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-641-33433-8
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Die autobiografischen Romane

E-Book, Deutsch, 736 Seiten

ISBN: 978-3-641-33433-8
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wie man seine Bestimmung findet: die große autobiografische Trilogie des Schweizer Buchpreisträgers Christian Haller in einem Band

DIE VERBORGENEN UFER: Christian Haller erzählt in diesem autobiographischen Roman die Geschichte eines jungen Mannes, der immer nur ausgewichen ist, sich weggeduckt hat vor den großen Erwartungen - in den Freundschaften wie in der Liebe. Der jedoch gerade darin eine Kraft gefunden hat, die ihn weiter tragen wird, als selbst die ihm nahestehendsten Menschen für möglich gehalten hätten.

DAS UNAUFHALTSAME FLIESSEN: Der Erzähler, der immer allen Anforderungen ausgewichen ist, ist nun Anfang zwanzig und auf der Suche nach einem Sinn für sein Leben. Er merkt, dass er sich hinaus in die gesellschaftliche Gegenwart begeben muss. Eher zufällig kommt er an das Gottlieb Duttweiler-Institut bei Zürich, macht Karriere, der Fluss seines Lebens trägt ihn in höchste gesellschaftliche Kreise. Doch mit dem Einblick in die Machenschaften von Politik und Wirtschaft muss er erkennen: Auch dies kann – trotz Aufstieg und Erfolg – nicht sein Weg sein.

FLUSSABWÄRTS GEGEN DEN STROM: Der Damm ist gebrochen, der Fluss des Lebens trägt Christian Haller näher an seine Bestimmung heran. Aus dem jungen Mann, der den Weg suchte, "den es nicht gab und den er dennoch gehen wollte", ist ein Schriftsteller geworden. Er muss kämpfen gegen finanzielle Nöte, gegen Ablehnung und für die Anerkennung seiner Arbeit. Doch schreibend gelangt er an sein Ziel: In der Erkundung seiner rumänischen Herkunft und jener Einschläge des 20. Jahrhunderts, die die Wege seiner Familie bestimmten, tritt allmählich das erzählende Ich hervor. Und mit ihm die Frage, wie der Untergrund des Lebens tatsächlich beschaffen ist.
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Die Schwindel wurden seltener und hörten schließlich ganz auf, als wir 1947 von Brugg nach Basel umzogen. Unweit unserer neuen Wohnung stand das St. Jakob-Denkmal, und ich sah staunend zu der Frau auf, die, umgeben von gebrochenen Kriegern, hoch aufgerichtet zur Altstadt sah. Die Gestalten aus weißem, angewittertem Marmor erinnerten mich an Figuren aus meiner Kinderbibel, doch hier ragten sie vor Bäumen und einem Sommerpavillon leuchtend zum Himmel. Die Frau mit erhobener Hand schien im Begriff, die gerade Straße zum Äschenplatz und weiter zum Münster zu eilen, von wo nach ersten Spaziergängen mit Mama allmählich das Rot des Sandsteins in meine neue Umgebung drang. Es fand sich nicht allein am Münster, es wehte von den Tür- und Fensterstürzen herrschaftlicher Gebäude in unser Quartier herein, verband sich mit dem gebrochenen Gelb der »Baumgarten-Häuser«, diesen in der Zwischenkriegszeit errichteten Mietshäusern, deren Fassadengestaltung dem süddeutschen Barock nachempfunden war. In den beiden Farben, dem Rot des rheinischen Sandsteins und des badischen Gelbs, begegnete mir eine Vergangenheit, von der ich zwar nichts Genaues wusste, die mir jedoch auf rätselhafte Weise vertraut war. Im »Kirschgarten-Museum«, das ich mit Mama besuchte, waren selbst die Räume noch entsprechend dem Rot des Sandsteins eingerichtet, und die vornehme Lebensweise, die sich in den hohen Räumen, Kachelöfen, den Bildern und Möbeln ausdrückte, empfand ich als eine mir entsprechende Art des Wohnens: Ich hätte gern in der Zeit des roten Sandsteins gelebt. Einen Nachhall dieses vergangenen Lebens fand ich an der Eulerstraße. Dort wohnten Mamas Eltern. Neben den vererbten, dunkel glänzenden Möbeln gab es auch orientalische Decken, bemalte Keramiken, alte Fotografien, und Großmama erzählte von einer noch anderen Vergangenheit, die »Rumänien« hieß. Diese Vergangenheit hatte die Farbe gebrochenen Gelbs, wie es ähnlich an den Baumgarten-Häusern in unserem Quartier zu finden war.

So gehörten die beiden Farben von nun an zu mir, und sie waren wie das Grün an den Blättern, wie das Rot und Gelb der Blumen in der Gärtnerei in Brugg oder auf den Juraweiden. Nichts Beherrschendes, Anmaßendes, Befehlendes ging von ihnen aus. Sie hielten sich im Gegenteil zurück, umgaben mich mit einem Gefühl von etwas Vertrautem in der noch neuen und unbekannten Umgebung. In der Phantasie konnte ich leicht in die vergangene Zeit des Sandstein-Rots und des Baumgarten-Gelbs zurückgehen, bewegte mich durch Zimmer mit Seidentapeten und Kristalllüstern, wie ich sie im Museum gesehen hatte. Die Stühle hatten hohe Rücken- und geschwungene Armlehnen, standen bei einem Kanapee mit aufgepolstertem Bezug. Durch die Fenster fiel gedämpftes Licht, und im schattig dunklen Hintergrund des Zimmers tagträumte ich eine Tür, durch die ich zum Flur und in ein Kinderzimmer gelangen konnte, das einen Riemenboden und mit Holzpaneelen verkleidete Wände hatte, karg und ordentlich war. Dort gab es neben einem Bett mit Gitterstäben vor allem Spielsachen, die ich selbst nicht besaß, ein Schaukelpferd etwa oder einen Kreisel. Menschen existierten in meinen Phantasien nicht, nur Räume, die ich in meinem Kopf wie ein mir allein gehörendes Museum durchstreifen konnte, und wenn ich genug von Wohn-, Speise- und dem Kinderzimmer gesehen hatte, lief ich die Treppe hinunter und trat durch die Toreinfahrt auf die Straße hinaus. Dort fuhren Kutschen, doch niemand spazierte auf den Bürgersteigen. Die Straßen waren leer, zogen sich an den Fassaden der Häuser entlang, und die Sonne warf ihren gelben Schein aufs Kopfsteinpflaster.

Dieser ruhigen, beschaulichen Vergangenheit, der ich an manchen Tagen nachhing, stand die Unruhe in vier Städten gegenüber, die ich eine Zeit lang beim Einschlafen über mir in den Ecken der Zimmerdecke sah: Sie türmten sich auf, bestanden aus ineinander verschachtelten Häusern, zwischen denen Gassen ein dunkles Labyrinth bildeten. In der ersten Stadt hausten Diebe und Betrüger, tückische und hinterhältige Menschen, die mich ängstigten. In der zweiten wohnte unter Elenden ein Weiser, der lesen und schreiben konnte, viele Bücher besaß und bei Fragen stets zu raten wusste. In der dritten lebte ein Kaufmann. Er besaß viel Geld und tyrannisierte mit seinem Reichtum die Mitbewohner der Stadt, ein jähzorniger, herrschsüchtiger Mann. Doch die schlimmste der Städte war die vierte, in der die Hexe wohnte. Sie fürchtete ich, da sie mir nach dem Leben trachtete. Zwischen diesen vier Städten in den Ecken der Zimmerdecke dehnte sich die riesige weiße Fläche des Meeres aus, und es war gefährlich, über das Wasser von einer Stadt zur nächsten an den Deckenkanten entlangzufahren. Das Meer war stürmisch, warf hohe Wellen auf, bedrohte das Schiff mit Untergang. Doch fahren musste ich, um die vier Städte ruhig zu halten. Ich versuchte, den reichen Jähzornigen zu besänftigen, für Ordnung bei den Dieben und Betrügern zu sorgen, mir Rat beim Weisen gegen die Machenschaften der Hexe zu holen. Das gefahrvollste Unternehmen jedoch war, von den Deckenkanten weg, hinaus in die leere Zimmerdecke zu segeln. In deren Mitte war die Verschlusskappe eines unbenutzten Elektroanschlusses: Der weiße Inselberg. Ihn zu erreichen war beinahe unmöglich, doch einzig dort gab es die Erlösung von den Unruhen und Machenschaften in den Städten. Wie sich diese anfühlen würde, blieb mir verborgen. Immer neu versuchte ich, den weißen Inselberg zu erreichen, was mir nie wirklich gelang. Stets schlief ich ein, bevor die Verschlusskappe mit ihrem Steilufer auch nur in Sicht kam. Doch bei all meinen Tagträumen und Einschlafphantasien drehten sich die Farben und Bilder nicht mehr in meinem Kopf. Nichts blitzte und irrlichterte hinter den Augen, der Schwindel und die monatlich zurückkehrenden Übelkeiten hatten aufgehört. Das Grau war in Brugg bei dem Schwarzen Turm, zurückgeblieben, während in Basel mit dem Sandstein-Rot und dem Baumgarten-Gelb Farbe in meine Tage kam, und diese heller und wärmer wurden.

In Basel gab es kaum einmal Nebel, keine Decke, wie sie oft wochenlang über der kleinen Stadt gehangen hatte, das Licht dämpfte, eine Kühle und Kargheit über die »Alte Promenade« legte und Feuchte aus den Mauern atmen ließ. Hier, vor dem modernen Wohnhaus, leuchtete die Sonne in den alten Bäumen, warf auf den Rasen an der Zufahrtsstraße entlang ihren Schein, und ein Schimmer Blau erfüllte die Luft. Dieser fiel durch die großen Fenster auch in die Zimmer unserer Wohnung, lag auf den Möbeln und Einrichtungen, drang in uns selbst ein, dass auch wir leichter wurden, färbte die Zeit mit Hoffnung und vorausblickenden Erwartungen. Papa, der in Brugg noch immer seinen Offiziersmantel aus schwarzem Leder getragen hatte, besaß nun einen eleganten Wollmantel, und ich durfte ihn nach dem Mittagessen zum Bahnhof begleiten, von wo er mit dem Zug zur Fabrik fuhr, in der er Direktor geworden war. Ich liebte es, neben dem großen, schlanken Mann zu gehen, der lange Schritte machte und die neuen, mit Lochmustern verzierten Bally-Schuhe beschwingt aufs Pflaster setzte. Er war nicht mehr der schwarze Mann, der nach dem Ruß der Gießerei roch wie in Brugg, und vor dem ich mich versteckt hatte. Ich war verstummt, solange er in der Wohnung gewesen war, behielt alles für mich, selbst zur Toilette wollte ich nicht gehen, wie stark der Drang auch sein mochte, wenn er da war. Doch nun hatte Papa ein Lächeln um den Mund, war ein Herr, der Mama küsste und beim Gehen die Hand auf meine Schulter legte. Er passte gut zu meinem Sandstein-Rot und Baumgarten-Gelb auf dem gemeinsamen Weg vom St. Jakob-Denkmal zum Bahnhof. Besonders in der schmalen Nebenstraße, die vom Boulevard abzweigte, spazierte ich mit Papa durch ein Stück meiner tagträumerischen Vergangenheit, ohne dass er davon etwas bemerkte. Die alten Häuser und Gärten, an denen wir entlanggingen, machten es leicht, mich mit dem großgewachsenen Mann an meiner Seite in die sandsteinrote Zeit zurückzuversetzen. In ihr blieb alles so, wie ich es im Museum gesehen hatte: Papa ginge immer weiter neben mir her, ein Herr, der seine Hand auf meine Schulter legte.

Mama hatte immer schon zur Vergangenheit gehört, zu einer, die für mich in Basel mit »Köln« und »Rumänien« zwei Namen bekam. In Brugg hatte sich diese noch namenlose Vergangenheit in einer vornehmen Unnahbarkeit ausgedrückt. Mama ließ sich nicht berühren. Sie war ein Standbild, von steinerner Kühle wie das St. Jakob-Denkmal. Ihr marmorweißer Teint passte gut zum Grau meiner monochromen Welt damals. Ich konnte sie lange betrachten, wie eine der Figuren in der Kinderbibel, sah zu, wie sie den Haushalt besorgte, ohne dass sich meine Gefühle verwirrten oder ich ihre Distanziertheit als einen Mangel an Zuwendung empfand. Nur manchmal, wenn Vaters Familie zu Besuch kam, bildeten sich auf dem marmorweißen Teint von Hals und Wangen Flecken von einem Rot, das es auch in den Mustern des Perserteppichs gab, dunkel und beunruhigend. Mama verachtete Vaters Eltern und Brüder. Sie hasste ihre Prahlerei, und sie wurde verachtet und gehasst wegen ihres »vornehmen Getues«. Ich aber sah während der Besuche zu Boden, wusste nicht, wohin ich blicken sollte, denn auch in Großvaters Gesicht stieg diese dunkle Röte auf.

Nach dem Umzug begann sich Mama an der städtischen, ihr mehr entsprechenden Umgebung, zu erwärmen. Sie nahm die leichte und durchsichtige Farbe der Gartenlandschaft an, für die der alte Föhrenbaum vor unserem Wohnhaus wie ein noch unbekanntes Zeichen stand. Er wuchs etwas seitlich von unserem Hauseingang, und sein schuppiger Stamm, der schlank und hoch aus dem Rasen drang, breitete auf Höhe unseres Balkons die Krone aus, einen Raum gewundener Äste, durch deren feine Nadelbüsche am Abend die Sonne schien und bläulich schraffierte...


Haller, Christian
Christian Haller wurde 1943 in Brugg, Schweiz, geboren, studierte Biologie und gehörte der Leitung des Gottlieb Duttweiler-Instituts bei Zürich an. Er wurde u. a. mit dem Aargauer Literaturpreis (2006), dem Schillerpreis (2007) und dem Kunstpreis des Kantons Aargau (2015) ausgezeichnet. Zuletzt ist die Novelle »Sich lichtende Nebel« erschienen, für die er den Schweizer Buchpreis 2023 erhielt. Christian Haller lebt als Schriftsteller in Laufenburg.



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