Haller | Der seltsame Fremde | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Haller Der seltsame Fremde

Roman
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-641-08798-2
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

ISBN: 978-3-641-08798-2
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Manchmal sind wir uns selbst am meisten fremd.

Clemens Lang ist ein anspruchsvoller Fotograf. Der genaue Blick für die Strudel und Untiefen der Welt ist seine Stärke. Und doch ist er sich selbst am meisten fremd. Das jedenfalls beginnt er zu begreifen, als er sich auf die Reise zu einer bedeutenden Tagung in einer weit entfernten Metropole begibt.

Als der Fotograf Clemens Lang eine unerwartete Einladung zu einer Tagung irgendwo im Orient erhält, fühlt er sich enorm geehrt. Doch was ihm zunächst als verlockender Ausbruch aus dem Alltag erschien, entpuppt sich als Albtraum. Denn schon am Flughafen begegnet er einem seltsamen Fremden, der von da an sein hartnäckiger Begleiter wird. Selbst am Tagungsort taucht er in einem fort auf und führt dem Fotografen eine Welt vor, die undurchschaubaren Gesetzmäßigkeiten gehorcht. Und während Clemens Lang auf dem Kongress bald der Kopf schwirrt angesichts der hitzigen Diskussionen über Wahrnehmung und Wahrnehmungsgeschichte sowie über die Folgen der Digitalisierung für das Spannungsverhältnis von fotografischer Abbildung, Wirklichkeit und Kunst, wird er zugleich unbarmherzig konfrontiert mit sich selbst, seinem Kunstverständnis und seinem Verhältnis zu Gesellschaft und Leben. Bildgenau und mit höchster sprachlicher Sensibilität erzählt Christian Haller die Geschichte eines Mannes für den eine Reise in die Welt zu einer zutiefst verstörenden Begegnung mit sich selbst wird. Es ist ein Roman über die Kunst und das Leben, über die Bilder, die wir uns von der Welt machen, und über die Manipulation unserer Wahrnehmung von Wirklichkeit, über das Sehen und das Wegschauen und über die blinden Flecken in unserem Auge.
Haller Der seltsame Fremde jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


I

DAS ERLEUCHTETE ZIMMER

Es war der dritte Tag mit Nordwind. Der Fluss, die Uferbäume vor den Fenstern steckten wie schon gestern und vorgestern in einer Hülle aus Nebel: Schwaden, in denen schattenhaft Zweige und Äste auftauchten und verschwanden. Doch nun versprach ein Brief, blendend im Licht der Tischleuchte, ein Loch in die herbstliche Trübnis zu stoßen: We are honoured to invite you – stand unter den Lettern eines Institutes, das auf schneeigem Weiß den Dear Sir bat, für die Präsentation seiner fotografischen Arbeiten in eine ferne, nach meiner Kenntnis warme Gegend zu kommen. Da ich fand, es wäre schon lange an der Zeit gewesen, eine Einladung ins Ausland zu erhalten, beschloss ich, auf jeden Fall zuzusagen.

Der Briefkopf des »Institute for Contemporary and Colonial Studies ICCS« deutete auf eine gewichtige und international tätige Organisation hin, und ich war eben im Begriff, das Blatt mit Genugtuung aus dem Lichtkreis der Lampe zu schieben, als mir noch ein Nachsatz auffiel, der mir bisher entgangen war. Dieser besagte, dass zusätzlich zu meiner Präsentation der Aufenthalt während des Kongresses genutzt werden solle, ein Portfolio zusammenzustellen. Als Thema vorgegeben sei die Stadt und ihre Bewohner, ein Ansinnen, das meine anfängliche Freude etwas dämpfte.

Mein Arbeitstisch aus Spanplatten, die auf Stützen gelegt sind, nimmt die Länge des Zimmers ein. Er bietet neben den beiden Computern, dem LCD-Bildschirm, dem Drucker und Scanner genügend Platz, um Reihen von Fotos auszulegen. Zusätzlich sind an der Wand entlang Drähte gespannt, an denen sich Abzüge mit Magneten befestigen lassen. Durch Legen und Hängen der Bilder, durch Austauschen und Umstellen versuche ich in einem oft langwierigen Prozess, eine Abfolge zu finden.

Ein Portfolio! In fünf Tagen! Mit dem unbescheidenen Thema: »Der Ort und die Menschen« – während ich noch nicht einmal wusste, wo genau die Reise hingehen sollte, keine Ahnung von der Stadt, geschweige denn von ihren Bewohnern hatte.

An den »Mappen«, eine Bezeichnung, die ich von einem alten, verehrten Fotografen übernommen habe, arbeite ich Monate, an einzelnen sogar Jahre. Kannten die Veranstalter überhaupt meine thematisch und formal komponierten Bildfolgen? Würden sie dann tatsächlich vorschlagen, ich solle während eines so kurzen Aufenthalts ein paar Schnappschüsse zu einem Portfolio zusammenstellen? – Egal! Es hatte lange gedauert, bis ich eine so ehrenvolle Einladung erhielt: Jetzt würde ich sie auch annehmen.

An diesem Morgen des 12. November stand ich also von meinem erleuchteten Arbeitstisch überm Fluss auf, trat mit meinen widersprüchlichen Empfindungen hinaus auf die Veranda. Durch das Fenster sah ich auf den Strom. Die neblig duftige Hülle war dauernd in Gefahr, von der Bise zerfetzt und übers Wasser weggetrieben zu werden. In den aufgerissenen Löchern, bevor neue Lagen sie bedeckten, wurden dunkle Einsprengsel sichtbar, Verunreinigungen, aus denen Büsche wuchsen, ein Stück Mauer, die Wiese und der Uferweg auftauchten und wieder unter Schleiern verschwanden.

Die Mappe mit den Flussbildern wäre vielleicht für die im Brief erwähnte Präsentation geeignet. Sie hätte mit meinem Wohnort, der unmittelbaren Umgebung meines Schaffens zu tun: Die Aufnahmen zeugten zudem von einer Arbeit, die mich schon lange beschäftigte, mit einem Lebensgefühl und einer gesellschaftlichen Situation zu tun hatte, die ich charakteristisch für die Gegenwart hielt.

Ich holte die Mappe aus dem Schrank, legte sie vor mich auf den Arbeitstisch, schlug eine beliebige Stelle auf:

Abzug 3: Die Stauung

Zu diesem Foto hatte ich in mein Arbeitsjournal notiert: »Der Widerspruch von Bewegung und Verharren, von Dauer und Vergehen ist in einem Moment durch ein klares Frühsommerlicht sichtbar geworden, als die schon tief stehende Sonne auf das Wasser fiel«, und ich hatte nach all den Wochen und Monaten des Beobachtens den mich überraschenden Moment erwischt, der in einem besonderen Zusammentreffen von Licht, Farbe, Materialität bestanden hatte:

Das Fließen zurückgehalten, verlangsamt, als wirke eine Kraft des Stillstands. Durch sie wird das Wasser einem polierten Speckstein ähnlich, in den unauffällige Muster geschnitten sind. Ketten kleiner Wirbel. Bänder, die um eine Nuance dunkler im Grünton sind, eine leicht gewölbte Oberfläche haben, deren Ränder von gegenläufigen Strömungen aufgeraut werden. Dazu Rippungen oberflächlicher Wellen, vom Wind gegen den Fluss getrieben. Ein fließender Stein. Auf seine eingearbeiteten Muster aus Wirbeln, Bändern, Windschauern legt sich das Spiegeln der Ufer: die Böschung, die Stützmauer, der Bahnhof, das dahinter ansteigende Gelände – Felsen und Büsche –, abgeschlossen von Häusern, deren Giebelzacken eine scharfe Schattenlinie in die Mitte des Stromes ziehen: Ein stehendes, sich dennoch dauernd veränderndes Bild. In diesen Wandel aus Beharren und Fließen, aus Mustern und Spiegelungen zieht ein Kormoran beim Aufsetzen aus dem Flug eine schäumende Linie, kurz, von rasch verströmender Vergänglichkeit.

Zufrieden war ich mit einer Arbeit nie, bei jedem neuen Betrachten fielen mir Einzelheiten auf, die nicht ganz stimmig waren. Ich fürchtete allerdings auch den Perfektionismus. Das ständige Überarbeiten verdarb am Ende das Bild und sein Motiv. Ich blies auf den Glanz des Fotos, um feine Staubpartikel zu entfernen, was mir vorkam, als wollte ich ihm Leben einhauchen, und legte den Abzug mit skeptischer Miene in die dunkelblaue Mappe zurück.

Drei Leuchten brannten im Zimmer: Die Halogenlampe über dem Arbeitstisch, die Leselampe neben dem Fauteuil, ein Kristalllüster im hinteren, dunklen Teil des Zimmers aus dem Haushalt meiner Großeltern. Drei Lichtkreise, die den Tätigkeiten entsprachen, die meinen Alltag bestimmten: Die Bilder bearbeiten und sichten, Studien betreiben und die Mappen ordnen. Das Einfügen einer neuen Arbeit gehörte zum Lüster, dessen Licht ein weiteres Erbstück beschien, einen massiven Nussbaumschrank mit geschwungenem Aufsatz, der von seitlichen Pfeilern getragen wurde. Das eingedunkelte Holz der Tür war rissig, versehen mit einem verschnörkelten Beschlag aus Messing. Im Innern standen auf den Tablaren die Mappen, aufgereiht in fünf Reihen mit verschieden dicken blauen Rücken. Sie hatten Titel, waren thematisch geordnet – um die vierhundert Stück –, und die Mappe mit den Flussbildern, die ich an ihren Platz zurückschob, trug den Titel »Strom und Fall«.

Ich klickte am Laptop auf das Symbol des Kalenders, kippte hinein in den leuchtenden Raster aus den Tagen eines Monats, ein Netz von Linien, in das einzelne Stunden eingefangen waren, künftige Verpflichtungen, rot die Arbeit betreffend, blau die Vergnügen, zappte einen Monat weiter, und das Netz der Tage und Stunden zeigte einen mäßig beschäftigten Menschen, klar zu wenig für ein ausreichendes Einkommen, und geradezu bedenklich für jemanden, der Ende vierzig auf dem Höhepunkt seiner beruflichen Tätigkeit stehen sollte: Die Zeit der Reise war ohne unverschiebbaren Eintrag, eine Reihe dürftig gefüllter Quadrate. Es wäre ja auch Pech gewesen, hätte ich absagen müssen, Mr. Lang sei unfortunately anderweitig verpflichtet, obschon die Reise, der lange Flug auch Strapazen bedeuteten, ganz abgesehen von der Präsentation, bei der mir völlig unklar war, was genau man erwartete. Doch Sarah würde mich begleiten, und ihre Reaktion, als ich sie im Büro anrief, war genau so, wie ich es vorausgesehen hatte.

– Großartig, ich freue mich für dich, Clemens. Ich komme mit! Auf jeden Fall. Wir hängen ein paar Tage an, eine Woche oder so.

Und weg war sie, hatte den Hörer hingelegt, um ihre Agenda zu holen. Endlich!, hörte ich sie im Hintergrund sagen, endlich hast du eine Einladung, war aber auch Zeit, die Rollen des Stuhls gaben ein unterstreichendes Geräusch, als sie sich wieder hinsetzte, und im Hörer tönte das energische Blättern in ihrer Agenda.

– Das ist ja bereits in zweieinhalb Wochen, sagte Sarah, und die Verlangsamung ihrer Worte, das Abgleiten der Stimme in eine tiefere Lage verhießen nichts Gutes, veranlassten mich zum raschen Einwurf, ja, ja, es sei unanständig knapp!, nur um noch hinauszuschieben, was schon Gewissheit war:

– Ich habe Kurs. Ich kann die Vorlesungen nicht ausfallen lassen.

Sarah war Astrophysikerin, hatte einen Lehrauftrag an der Universität, zwar nicht allzu viele Stunden, doch sie musste bedacht darauf sein, dass diese nicht auch noch gestrichen wurden. Vom ehemaligen Institut waren grade mal drei Stellen übrig geblieben. Die Gruppe von Studenten, die sie zu betreuen hatte, war kleiner geworden, und die Sparrunde vor einem Vierteljahr hatte sie und ihre beiden Kollegen in enge Büros unters Dach des Physikgebäudes verbannt.

– Ich kann unmöglich weg, sagte sie, bevor sie auflegte, und ihre Entscheidung klang unwiderruflich.

Die Aussicht, ohne Sarah zu fahren, verdunkelte meine anfängliche Freude noch um ein Beträchtliches. Ich hasste es, allein unterwegs zu sein, obschon ich früher viel gereist war. Doch seit ein paar Jahren machte sich zunehmend ein leidiges »Erbstück« meiner Familie bemerkbar. Mamas »nervöse Leiden« während oder nach der Ankunft einer Reise waren geradezu sprichwörtlich, und ich kannte inzwischen mehr, als mir lieb war, worin diese nervösen Leiden bestanden: Seh- und Wahrnehmungsstörungen, denen oftmals Übelkeit folgte. In Sarahs Begleitung fühlte ich mich besser, sie...


Haller, Christian
Christian Haller wurde 1943 in Brugg, Schweiz, geboren, studierte Biologie und gehörte der Leitung des Gottlieb Duttweiler-Instituts bei Zürich an. Er wurde u. a. mit dem Aargauer Literaturpreis (2006), dem Schillerpreis (2007) und dem Kunstpreis des Kantons Aargau (2015) ausgezeichnet. Zuletzt ist die Novelle »Sich lichtende Nebel« erschienen, für die er den Schweizer Buchpreis 2023 erhielt. Christian Haller lebt als Schriftsteller in Laufenburg.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.