E-Book, Deutsch, Band 2, 498 Seiten
Reihe: Heilerin Luzia Gassner
Haller Das Herz der Alraune
2023
ISBN: 978-3-8392-7732-4
Verlag: Gmeiner-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Bodensee-Roman
E-Book, Deutsch, Band 2, 498 Seiten
Reihe: Heilerin Luzia Gassner
ISBN: 978-3-8392-7732-4
Verlag: Gmeiner-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Cornelia Haller wurde 1966 in Immenstaad am Bodensee geboren. Als »Seekind« diente ihr die Heimat schon immer als Quelle der Inspiration. Uralte Mythen, eingebettet in einer lieblichen Landschaft, besitzen viel Erzählkraft. Nach drei veröffentlichten Romanen studiert sie derzeit literarisches Schreiben in Nürnberg und bereitet sich auf ihre Masterarbeit vor. Die Autorin lebt mit ihrer Familie noch heute in einer Bodenseegemeinde.
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2
Noch lag der Tau auf dem silbrigen Grün der alten Olivenbäume. Ihre ehrwürdigen Kronen, die im morgendlichen Zwielicht wie knorrige Wächter aus einer anderen Zeit wirkten, raschelten im Wind. Die elf Scholaren hatten sich schon vor dem ersten Morgenlicht im Jardin des Plantes, dem Heilpflanzengarten der Medizinschule, getroffen, um die Kräuterbeete zu wässern und die letzten Heilpflanzen des Jahres zu ernten. Im Schutz der Zypressengänge wollte jede duftende Pflanzenseele gehegt und gepflegt werden. So bescherte der auf unterschiedlichen Ebenen angelegte Garten den jungen Männern zu allen Jahreszeiten viel Arbeit. Neben den gängigen Heilpflanzen aus ganz Europa beherbergte die grüne Lunge von Montpellier auch ungewöhnliche und exotische Pflanzen, wie etwa den Arabischen Jasmin oder die Hand Buddhas. Mit ihren fingerartigen Fruchtständen war die Zitronatzitrone ein Gast aus dem fernen Indien. Gemeinsam mit anderen seltenen Gewächsen verströmte sie einen schweren, fast animalischen Duft.
Zur Morgenbesprechung hockten die Schüler zu Füßen Professor Rosenzweigs, der seinen schwarzen Talar mit einer derben Gartenschürze schützte und erste Anweisungen erteilte. »Claude und Luzius, ihr beschneidet den Laurus und erntet die letzten Beeren des Sambucus, bevor ihr euch ins Gartenhaus begebt, wo bereits all die stumpfen Sicheln und Messer darauf warten, dass ihr ihnen zu neuer Schärfe verhelft«, ordnete er mit ruhiger Stimme an.
Der sanfte, stille Mann unterrichtete neben Astronomie und Astrologie auch Botanik. Er fügte sich beinahe nahtlos in die Umgebung des Gartens, und Luzius würde sich nicht wundern, wenn er eines Tages als Faun zwischen den Beeten entschwinden würde.
In der Kühle ging die Arbeit leicht von der Hand, und so beeilten sie sich, bis zum Mittagsläuten fertig zu werden. Die Scholaren arbeiteten zügig und unterhielten sich leise. Ezra Rosenzweig, der Maître Botanicus, hasste jeden Lärm und liebte die Stille.
»Steht da, als hätte er nichts zu tun!«, raunte Claude Luzius zu und deutete in Richtung der arabischen Wasserläufe, die links und rechts neben der prächtigen Zypressenallee verliefen und dem Garten mit ihren filigranen Springbrunnen eine fast spielerische Leichtigkeit verliehen. »Miguel beobachtet dich. Ist er dir heute etwa schon wieder gefolgt?«
»Nein, ich glaube nicht«, erwiderte Luzius und setzte seine Arbeit mit einem unguten Gefühl fort. Als er selbst unauffällig über die Schulter blickte, war der Spanier bereits verschwunden.
Claude beschnitt den Lorbeer sorgfältig und verlieh den ausladenden Büschen geometrische Formen. So stand bald eine große Kugel zwischen Pyramiden und einem etwas missglückten Kegelstumpf. Indessen überlegte Luzius, ob sie auch dieses Jahr die letzten schwarzen Beeren des Holunders zu Wein verarbeiten würden. Im Winter hatte ihnen das aromatische Gebräu gute Dienste geleistet, sie hatten damit ein kaltes Lungenfieber niedergekämpft. Der Holunder wärmte den ausgekühlten Leib und regte zum Ausschwitzen der krank machenden Säfte an. Neben der Weidenrinde brauchten sie im Hospital auch die weißen, nach Honig duftenden Blüten für einen lindernden Aufguss.
»Und? Hast du dich entschieden?«, unterbrach Claude nach einer Weile die geschäftige Stille.
Luzius beschattete die Augen vor der Sonne, die inzwischen etwas höher stand. So konnte er den schmalen Franzosen, dessen Gesichtszüge immer leicht übernächtigt wirkten, besser sehen. »Ja«, sagte er und nickte. »Ich habe mich entschlossen, die Heimreise anzutreten, vorausgesetzt, ich bestehe auch das letzte Examen. Weißt du, ich möchte nicht mehr in dieser Angst leben, ständig verfolgt zu werden. Selbst wenn ich liebend gerne noch eine Weile hier im Hospital bleiben würde.«
Claude nahm den Strohhut ab, den sie während der Gartenarbeit gegen das Barett tauschten, und fächelte sich Luft zu. »Du hast doch mich!«, sagte er entrüstet, setzte den Hut wieder auf und stemmte die Fäuste in die Seiten. »Miguel tut dir nichts. Er ist einfach ein Marktschreier und neidet dir deinen Erfolg bei den Hebammen. Außerdem wird er nie ein Medicus werden. Das heißt, er wird dich mit seinem Anblick schon bald nicht mehr behelligen.«
Luzius nickte zustimmend. Dennoch wollte er sich endlich wieder frei bewegen können.
»Vielleicht kann sich Alvarez mit seinem medizinischen Wissen als Henker versuchen«, spottete Claude.
»Da hast du recht«, entfuhr es Luzius lachend. »Das Wissen um den menschlichen Leib ist bei etlichen Henkern besser ausgebildet als bei den Medici.«
»Aber du kannst es trotzdem nicht erwarten, in deine kalte, neblige Heimat zurückzukehren, was? Und das alles nur wegen dieses Hurensohns?«
Luzius nickte abwesend. »Am Bodensee ist es nicht neblig und kalt«, gab er nach einer Weile leise zurück und schob die Unterlippe vor. »Zumindest nicht immer. Und die lichtweißen Nebelfrauen gehören einfach dazu. Unter ihren schimmernden Netzen, die sie im Herbst aus Wasser und Luft weben, bewahren sie unsere ältesten Geheimnisse. Es ist schön dort, weißt du«, er sah einen Augenblick ins Leere, »sehr schön sogar«, flüsterte er dann mehr zu sich selbst.
»Ich glaube dir ja!«, beschwichtigte ihn Claude. »Und so stürmisch wie in meiner Heimat ist es am Lac de Constance sicher nicht«, fügte er mit einem freundschaftlichen Lachen hinzu.
Luzius hob die Schultern und versetzte der Luft einen leichten Tritt. »Wessen Heimat wird schon das ›Ende der Welt‹ genannt?«, fragte er mit einem Zwinkern.
Claude war am äußersten Rand des Frankenreichs daheim. Dort, wo der Atlantik von allen Seiten gegen das schroffe Land peitschte und als nächster Halt das Land der Angelsachsen gegenüberlag.
»Finis Terrae ist nicht das Ende der Welt. Es ist der Anfang«, parierte Claude und verzog sein Gesicht zu einer Grimasse.
»Vielleicht im Bretonischen. Aber im Lateinischen bedeutet ›Finis Terrae‹ nun mal ›das Ende der Welt‹, und daran wirst auch du nichts ändern«, gab Luzius erheitert zurück. Doch in seiner Heiterkeit schwang ein Hauch von Trauer mit. Jedes Gewässer barg eine große Gefahr. Jakob, sein Onkel, hatte während des letzten Christmonds den Tod in den Fluten des Bodensees gefunden. Wenn die Herbststürme darüber hinwegrasten, wurde aus dem sanften blauen Saphir eine reißende Bestie. Einem gefährlichen Raubtier gleich, schlugen die tückischen kurzen Wellen ihre Reißzähne dann in das Ufer und fraßen alles, was sich ihnen in den Weg stellte: Steine, Erde, Bäume und manchmal auch Menschen.
Während Luzius die glänzenden Dolden des Holunders in seinen Korb legte, spürte er, wie seine Wangen ganz warm wurden. Normalerweise verwehrte er sich jeden Gedanken an die alte Heimat am Bodensee. Doch nun versetzte ihm das Heimweh einen schmerzhaften Stich.
»Dann wirst du bald wieder in Seefelden sein. Und was tust du dort?«
Luzius stutzte. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Seefelden war seine Heimat. Aber war er dort überhaupt noch willkommen?
Als Luzius wenige Wochen später an der Seite seiner Studienbrüder den großen Innenhof der Medizinschule betrat, wärmten die letzten Strahlen der Herbstsonne den ockerfarbenen Sandstein. Es war ihr letzter Prüfungstag, und ihnen blieb noch reichlich Zeit.
»Lass den Unsinn!«, brummte Claude, als Luzius im Vorbeigehen ein paar grüne Nadeln von einer der mächtigen Zypressen abstreifte. Sie bewachten den hohen Eingang zum Theatrum Anatomicum wie eine Reihe mahnend erhobener Finger.
»Unsinn? Wer von uns beiden ist denn der närrische Kindskopf? Ich liebe eben ihren besonderen Duft. Er tröstet mich und erzählt ein wenig von zu Hause. Ihr himmelstrebender Wuchs erinnert mich an die Eiben im Pfarrgarten zu Seefelden. Die Eiben gehörten zu meinen Lieblingsplätzen.«
Claude schenkte ihm ein Lächeln, das irgendwo zwischen Mitgefühl und Bewunderung schwebte.
Nun schlenderten sie in den steinernen Innenhof, der die Krankensäle vom Anatomiesaal trennte. Luzius setzte sich neben einen alten, knorrigen Ölbaum, dessen Wurzeln durch eine Trockensteinmauer begrenzt wurden, und drehte das Gesicht zur Sonne.
Die fiebrige Atmosphäre der Krankensäle hatte es Luzius besonders angetan. Im Umkreis der vielen Elenden vergaß er manchmal sogar seine eigenen Kümmernisse. Auch Claude wusste, dass sein Gefährte die leicht Übelkeit erregende Mischung aus alkoholischer Lösung und menschlichem Leid liebte. Was ihm und seinen Kameraden tagtäglich eine neue Herausforderung war, bedeutete für Luzius Trost und Hingabe. In Claudes Augen war der schmächtige Mann der geborene Medicus. Im Hospital fühlte er sich gebraucht, und sein Herz wog weniger schwer, wie auch in der knapp bemessenen Zeit, die er mit Claude verbrachte. Immer wieder hatte sich der Bretone gefragt, was der Grund für Luzius’ tiefe Traurigkeit sein mochte. Er hatte es ihm nie verraten, und Claude hatte seinen Kameraden nicht weiter bedrängt.
Ein großer gelb-schwarzer Feuersalamander flüchtete und verbarg sich im lichten Schatten der hohen Zypressen.
»Sieh nur, ein Feuersalamander!«, rief Claude begeistert. »Wusstest du, dass der Feuersalamander in Alchimistenkreisen als höchstes Wesen verehrt wird?«
Luzius nickte.
»Die Mythologie bezeichnet ihn sogar als Elementargeist, und böse Zungen behaupten, er könnte sich ganz nach Belieben in ein rothaariges Weib verwandeln und die Lenden der Männer verbrennen«, wisperte Claude geheimnisvoll.
Luzius’ Blick verdüsterte sich unmerklich. »Eine Rothaarige also, hm?«, entgegnete er...