E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Halík Traum vom neuen Morgen
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-451-83393-9
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Briefe an Brückenbauer
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-451-83393-9
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Tomáš Halík blickt auf die Herausforderungen der Gegenwart – seien es Missbrauchsskandale und Kirchenaustritte, Klimawandel und Kriege oder der Umgang mit künstlicher Intelligenz. Wie können wir Menschen all das bewältigen? Was kann das Christentum dazu beitragen? Um diese Frage zu beantworten, stell sich Halík das Ideal eines Papstes aller Suchenden vor: Raphael – das »Heilmittel Gottes«. Mit ihm tauscht er Gedanken, Hoffnungen und Ängste, Anregungen und Fragen zur gegenwärtigen Lage des Glaubens aus. Dabei entfaltet Halík gewissermaßen prophetisch seine Vision einer allumfassenden, wahrhaft ökumenischen Kirche der Menschlichkeit, die zugleich mutig und verantwortungsvoll die Zeichen der Zeit zu lesen weiß. Halík schafft mit diesem Buch ein Bekenntnis der Hoffnung.
Weitere Infos & Material
Einleitung:
Der Papst meiner Träume
Ich hatte einen Traum. Auf dem Balkon der Petrus-Basilika in Rom stand der gerade gewählte Papst. Er erklärte den versammelten Scharen den Namen, den er sich ausgewählt hatte. Raphael heißt »Heilmittel Gottes« oder »Gott heilt«; in der Bibel ist er bekannt und in der Tradition geehrt als ein treuer Wegbegleiter. Im Laufe meines Lebens saßen bisher sieben Päpste auf dem römischen Stuhl. Die Person des Papstes (und auch der Päpstin) tauchte in meinen Träumen verhältnismäßig oft auf; doch der Traum, dem dieses Buch seine Entstehung verdankt, war außergewöhnlich eindringlich. Papst Raphael trat nämlich aus meinem Traum heraus und wurde zu einem Bestandteil meines Lebens. Carl Gustav Jung gebrauchte die Methode der »aktiven Imagination« – auf eine kreative Weise kommunizierte er mit Personen aus seinen Träumen und aus seiner Fantasie, als ob sie lebendige Menschen wären. So begann ich ebenfalls, mit dem Papst aus meinem Traum zu kommunizieren. Er wurde für mich zu so jemandem, wie ihn Jung etwa in seinem geheimnisvollen alten Philemon fand, der ihm die Schätze in der Tiefe des Unbewussten eröffnete und ihn auf dem Weg des geistigen Reifens und der Integration begleitete. Manchmal passiert es mir, dass ich mit einer Frage aufwache, die wie eine Fortsetzung eines Traumes erscheint, den ich nicht mehr zurückzurufen vermag. Manchmal bringe ich mich dazu, dass ich aufstehe und anfange, eine Antwort in Form eines Briefes zu schreiben – eines Briefes an den Papst aus meinem Traum. Papst Raphael wurde für mich nicht nur zu jemandem, der mir Fragen stellt, sondern vor allem zu einem geduldig zuhörenden, inspirierenden und ermutigenden Begleiter, der an meinen Zeiten des Nachdenkens und Träumens, des Gebets und der Meditation teilnimmt. In meinen Briefen lege ich ihm meine Gedanken, Hoffnungen und Ängste, Anregungen und Fragen nur vor; ich teile mit ihm Gedanken aus meinen Vorträgen, Artikeln und Büchern. Ich befinde mich dabei in der Position seines Schüler. Er lehrt mich – sowohl durch seine Fragen, die er mir in den wertvollen Momenten an der Schwelle von Träumen und Wachen schickt, als auch dadurch, dass ich beim Schreiben sein aufmerksames Zuhören wahrnehme. In unserem imaginären Dialog reifen meine Gedanken. Die vatikanische Post muss ich damit nicht belasten. *** Wem ich ins Traumland schreibe, weiß ich. Es ist der Papst, die höchste Lehrautorität in der katholischen Kirche. Es ist kein Inquisitor, der nach den Irrtümern in meinen Aussagen späht. Es ist der geistige Vater, der weise Lehrer, der sich bemüht, mich zuerst gut zu verstehen, und wenn er in meinen Darstellungen einige Begrenzungen, Mängel und Irrtümer sieht, will er mir mit freundlicher Geduld helfen, meine Perspektive zu erweitern. Der Papst aus meinem Traum ist ein Papst mit einer besonderen Sendung: Er ist nicht nur der Kopf der katholischen Kirche, sondern geistiger Begleiter, Mystagoge, Hirte und Diener aller geistig offenen, durstigen und suchenden Menschen – sei es innerhalb der religiösen Gemeinschaften oder jenseits ihrer sichtbaren Grenzen. Um seine Sendung zu erfüllen, hört er den unterschiedlichsten Menschen aufmerksam zu, die ihm ihre Erfahrungen und Anregungen mitteilen; auch deshalb wagte ich, einer von vielen zu sein, die sich an ihn wenden. Laut dem bestehenden Kirchenrecht ist der Papst Bischof von Rom; vor allem ist er aber das Oberhaupt aller katholischen Gläubigen auf der ganzen Welt. Für die Verwaltung der römischen Diözese ernennt er seinen Generalvikar. Der Papst aus meinem Traum hat wohl seinen Vikar für die katholische Kirche, aber sein Dienst und seine Verantwortung sind breiter; sie reichen weit über die Grenzen der römisch-katholischen Ideenwelt hinaus. Er ist Diener einer viel breiteren Gemeinschaft als nur derjenigen, welche die bisherigen römischen Bischöfe repräsentierten. Ich sehe ihn als den »Diener der Diener Gottes« – und zwar wirklich aller Menschen, auch derjenigen, die nicht zu den Mitgliedern der katholischen Kirche gehören. Ich verstehe ihn als den Begleiter und Bruder auch derjenigen, für die Gott anonym und verborgen bleibt und die ihm dadurch dienen, dass sie die Wahrheit suchen und nach ihrem Gewissen Gutes tun. Diejenigen, die den Untergang der Religion in der euroatlantischen Zivilisation vorhersagten, sowie diejenigen, die im Gegenteil ihre triumphale Rückkehr ansagten, sind überrascht: Die Religion geht nicht unter, aber zugleich kehren ihre früheren Formen auch nicht zurück. Sie ist ständig hier, aber sie ändert sich ständig. Ihr gesellschaftlicher und kultureller Kontext ändert sich – und mit ihm auch die Ausgestaltungen und gesellschaftlichen Rollen der Religion. Zugleich wird das, was überdauert, im neuen Kontext neu verstanden und interpretiert. Dieselben Worte bekommen eine andere Bedeutung, dieselben Geschichten werden unterschiedlich gelesen und verstanden. Die traditionellen religiösen Ausdrucksmittel – Worte, Rituale, Institutionen – werden für die Dynamik des geistigen Lebens unserer Zeit zu eng. Das überaus stereotype, wenig verständliche und nicht genug überzeugende Angebot der religiösen Institutionen geht an den realen spirituellen Bestrebungen, Sehnsüchten und tatsächlichen Fragen und Bedürfnissen der Menschen unserer Zeit vorbei. In unserem Teil der Welt wächst deshalb die Anzahl der »nones« – derjenigen, die auf die Frage nach ihrer religiösen Zugehörigkeit »keine« antworten. Es wäre zu vereinfachend, alle diejenigen, die sich zu keiner »organisierten« Religion bekennen, durchweg für dogmatische Atheisten oder »Apatheisten«, für geistig Gleichgültige oder »religiös Unmusikalische« zu halten. Viele von ihnen sind Menschen, die eine Beziehung zum »Transzendentalen« des Lebens aufrichtig suchen, die jedoch in dem Angebot der religiösen Formen, denen sie begegneten, keinen gangbaren Weg zu ihr finden. Die Anzahl derjenigen, die sich für »spirituell, aber nicht religiös« bezeichnen, nimmt zu. Die Anzahl derer, die sich mit den religiösen Institutionen und ihrer Lehre und Praxis voll identifizieren, und auch die Anzahl der dogmatischen Atheisten nimmt in unserer westlichen Kultur ab. Dagegen wächst die Anzahl der »Suchenden« – und zwar sowohl zwischen den beiden sich ausgrenzenden Lagern, die immer kleiner werden, als auch innerhalb von ihnen. Viele, die sich für Atheisten erklären, grenzen sich eher gegen einen »Theismus« ab, also gegen eine bestimmte Interpretation des Glaubens, als gegen den Glauben als solchen. Mehr als gegen Gott grenzen sie sich gegen sein irdisches Personal ab. Und oft grenzen sie sich vor allem gegen ihre eigenen Vorstellungen von Gott und Religion ab. Zugleich wächst auch unter den aktiven Kirchenmitgliedern die Anzahl derer, für die der Glaube eher einen Weg darstellt, mehr ein Weg in die Tiefe als »ein feste Burg«. Diese fundamentalen Veränderungen der heutigen spirituellen Szene werden bei der Erforschung von Religiosität oft kaum erfasst, weil diese mit Kategorien arbeitet, die es nicht erlauben, die Veränderungsdynamik entsprechend zu beschreiben. Die Antwort auf die Frage, wer »gläubig« und wer »nicht gläubig« sei, ist viel komplizierter, als es auf den ersten Blick erscheinen dürfte. Das Verhältnis zwischen expliziter Religiosität (religiöser Überzeugung, die sich in Worten, Ritualen und Zugehörigkeit zu religiösen Institutionen ausdrückt) und implizitem, existenziellem, oft unbewusstem Glauben oder Nicht-Glauben (dem, was für den konkreten Menschen die Rolle Gottes spielt und welche Gottesbilder tief in seinem Unbewussten liegen und sein Handeln beeinflussen) ist ein immer noch wenig erforschter Bereich. Wir begegnen in der heutigen spirituellen Szene immer häufiger auch einem »Glauben der Nichtgläubigen« sowie einem »Nichtglauben der Gläubigen«. *** Braucht aber diese bunte Menge der Suchenden ihren Papst? Brauchen diese Menschen Kirche, Christentum und Religion? Ich kann ziemlich genau die Gestalt von kirchlicher Autorität, Kirche, Christentum und Religion beschreiben, die diese Rolle nicht erfüllen kann, von der die Menschen aufgeschlossenen Geistes verständlicherweise und mit Recht abgeschreckt sind. Einigen pathologischen und destruktiven Gestalten der Religion begegne ich in der heutigen Welt sowie in meiner katholischen Kirche ziemlich oft. Manchmal bin ich in Versuchung zu meinen, dass es sogar mehr von diesen Gestalten gibt als von denjenigen, in denen ich mit Freude die heilende und befreiende Macht des Evangeliums erfahren kann. Das Negative ist nämlich lauter und sichtbarer; es liegt an der Oberfläche und ist deshalb einem oberflächlichen Blick derer zugänglicher, die sich nur schnell eine Meinung bilden. »Die Suchenden« suchen und brauchen keinen Hierarchen, keine patriarchale Autorität des alten Stils und auch keinen amtlichen Vertreter, Manager, Kontrolleur oder Ideologen, wie wir sie aus der säkularen Gesellschaft kennen. »Der Papst aller Suchenden«, dem ich in meinem Traum begegnete, ist ein Vater, wie schon der Titel Papst (papa) anzeigt, ein geistiger Vater, doch zugleich ein Vater von erwachsen gewordenen Kindern, der ihre Mündigkeit, Autonomie und Freiheit respektiert. Er ist nicht überflüssig; er kann mit dem Reichtum seiner Erfahrungen, mit seinem Überblick und mit seiner freundlichen Weisheit helfen. »Auch sollt ihr niemand unter euch auf der Erde Vater nennen; denn nur einer ist euer Vater, der im Himmel«,1 brachte Jesus seinen Jüngern bei. Papst...