Von der Krise zur Vertiefung des Glaubens
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-451-82249-0
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Die Zeit der Heimsuchung
Vorwort
Die Fastenzeit 2020 begann. Fast den ganzen Aschermittwoch verbrachte ich im Flugzeug; ich befand mich auf dem Rückweg von der amerikanischen Jesuiten-Universität Boston College, wo ich im Januar und Februar einen Vorlesungszyklus zum Thema »Identität des Christentums im postreligiösen und postsäkularen Zeitalter« gehalten hatte, mit anderen Worten: Was macht das Christentum zum Christentum in einer sich rasant verändernden Welt? Knappe zwei Stunden nach der Landung in Prag stand ich am Altar der Salvatorkirche und stand dem Gottesdienst vor, der in den gesamten Osterfestkreis einführt. In dieser Zeit ahnte ich noch nicht, dass binnen weniger Wochen rasante und einschneidende Veränderungen unseren ganzen Planeten ergreifen würden und dass in diesem Zusammenhang die Frage nach der Identität des Christentums eine sehr konkrete und dringliche Form bekommen würde. Vom dritten Fastensonntag an bis zum Pfingstfest war unsere Kirche, die über Jahrzehnte jeden Sonntagabend bis zum letzten Platz gefüllt war, leer und geschlossen. Während der gesamten Zeit der Quarantäne trat ich vor die leeren Bänke und schaute lediglich ins Auge einer Kamera; für jeden Sonn- und Feiertag habe ich Predigten und Reflexionen gedreht, deren geringfügig überarbeitete Form ich in diesem Buch vorlege. Ich hatte dabei nicht nur unsere Pfarrgemeinschaft, sondern auch eine breite Öffentlichkeit vor Augen. Seit vielen Jahren dient die Akademische Pfarrgemeinde einer breiten Gemeinschaft von Gläubigen und geistlich Suchenden über die Grenzen von Kirchen und Staaten1 hinweg, indem sie die Predigten im Internet archiviert, Bücher der »Salvator-Autoren«2 herausgibt und indem die Mitglieder unseres Teams in den Medien auftreten. Daraus bildete sich eines der markantesten Gesichter des zeitgenössischen tschechischen Christentums. Die Akademische Pfarrgemeinde verwandelte sich allmählich in eine intellektuelle und spirituelle Werkstatt und Schule, in einen Ort des Dialogs mit Wissenschaft, Philosophie und Kunst und in einen Ort von fruchtbaren ökumenischen und interreligiösen Begegnungen.3 Während der dreißig Jahre seit dem Fall des kommunistischen Regimes wurde diese Pfarrgemeinde für viele zum Eingangstor in die katholische Kirche; einige Tausend erwachsene Menschen, insbesondere Hochschulstudenten, haben hier das Sakrament der Taufe, der Firmung und der Erstkommunion empfangen. Das Geheimnis der Vitalität dieser Pfarrgemeinde – wie ich es in der Abschlusspredigt dieses Zyklus an Pfingsten auszudrücken versuchte – sind jedoch längst nicht nur Predigten. Es besteht vielmehr in der Bemühung, drei Pfeiler des pastoralen Dienstes zu vereinen: Erstens die Pflege eines durchdachten Glaubens, der fähig ist, einen intellektuellen Dialog mit einer vorwiegend agnostischen, »apatheistischen«, antiklerikalen (jedoch nicht atheistischen) Gesellschaft zu führen, zweitens die Pflege eines beständigen persönlichen geistlichen Wachstums, die Kultur eines kontemplativen Zugangs zum Leben, und drittens die Pflege des Engagements von Christen in einer bürgerlichen Gesellschaft. Als Stütze des ersten Pfeilers (den Papst Benedikt XVI. bei seinem Pastoralbesuch in der Tschechischen Republik sehr betonte) dienen langfristige Kurse zu den Grundlagen des Glaubens, Predigten, Vorträge und Diskussionsabende. Im Lauf der Jahre zeigte sich jedoch, dass der absolute Schlüsselbereich der Pastoral der zweite Pfeiler ist – die ständige Vertiefung des persönlichen geistlichen Lebens. Dazu dienen regelmäßige abendliche Meditationsbegegnungen, die persönliche geistliche Begleitung und besonders ein reiches Programm an geistlichen Übungen und Kontemplationskursen auf dem »ausgelagerten Arbeitsplatz der Salvator-Pfarrgemeinde« im Zentrum für Spiritualität und Exerzitien im ehemaligen Kapuzinerkloster in Kolín. Während früher die Absolventen der fast zweijährigen Vorbereitung des Katechumenats und der ähnlichen Vorbereitungen auf den Empfang des Sakraments der Firmung oder der Ehe und andere Teilnehmer der Kurse zu den Glaubensgrundlagen nach ihrem Weggang aus der lebendigen Prager Pfarrgemeinde nur mit großen Schwierigkeiten ein geistliches Zuhause in den häufig aussterbenden dörflichen Pfarrgemeinden finden konnten und dabei oftmals eine Krise der eigenen christlichen Identität und Kirchenzugehörigkeit durchmachten, zeigt sich nun, dass diejenigen, die Vorträge und Diskussionen in der Pfarrgemeinde mit der geistlichen Praxis im Kloster in Kolín kombinierten und danach dorthin zu Einkehrtagen zurückkehrten, verschiedene Krisen gut meistern konnten – ihr Glaube hat Wurzeln geschlagen. Als dritten Pfeiler der christlichen Existenz sehe ich die Verbindung von Aktion und Kontemplation: Wir wollen keine geschlossenen Gemeinschaften in der Art von Ghettos oder von »Kirchen als Parallelgesellschaften« bilden (wie es zum Beispiel Rod Dreher in seinem populären Buch Die Benedikt-Option4 rät oder wie es die in sich geschlossenen Milieus einiger neuer geistlicher Bewegungen in der Kirche5 tun). Junge Christen aus unserer Pfarrgemeinde nehmen am Leben der bürgerlichen Gesellschaft teil, sie engagieren sich insbesondere in Initiativen für Ökologie, Bildung und Kultur oder in Bewegungen zur Verteidigung von Freiheit und Demokratie gegen Populismus, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit (wie »Eine Million Augenblicke für die Demokratie«), und auch bei der Hilfe für Flüchtlinge oder in Entwicklungsländern. Gerade in der Zeit der Epidemie des Coronavirus haben sich viele junge Christen zusammen mit anderen jungen Menschen den Freiwilligen im Gesundheitswesen und in der Pflege für die Senioren und andere Risikogruppen angeschlossen. Während in unserem Land in der Zeit der Coronakrise die Leitung der Kirche überwiegend schwieg und die Staatsführung eine Menge von Fehlern beging,6 bewiesen die bürgerliche Gesellschaft auf der Ebene der Gemeinden und der bürgerlichen Initiativen und kleine Gruppierungen der christlichen Laien ihre Vitalität und Wirksamkeit. Vonseiten der Hierarchie erklang keine gemeinsame Stimme in Richtung Öffentlichkeit, die von der Weisheit eines Hirten zeugen würde, von der Verantwortung und der Sorge für die ganze Gesellschaft. Die offiziellen Verlautbarungen der Kirche brachten typischerweise vor allem das Interesse am »kirchlichen Betrieb« zum Ausdruck. So wurde zum Beispiel in der Zeit der geschlossenen Kirchen vorrangig empfohlen, Messfeiern in den kirchlichen Medien zu verfolgen; in den Vorlagen für die Hausgottesdienste wurde zumindest in einer Diözese die strenge Warnung beigefügt, dass Laien nicht versuchen sollten, das Evangelium auszulegen oder zu den biblischen Lesungen eigene Kommentare hinzuzufügen. Dabei zeigte sich, dass gerade das gemeinsame Gespräch über die Evangelien in den Familien während der Hausgottesdienste als eine der kostbarsten geistlichen Früchte jener Zeit angesehen werden kann: Der Mut, die klerikale Angst und die eigene Scheu zu überwinden und seine Glaubenserfahrung auszudrücken und zu teilen, hat dabei geholfen, die Charismen der Nächsten und oftmals auch die Schätze der Schrift zu entdecken, die häufig unter der Routine der Kirchenphrasen begraben waren. Christliche Medien und soziale Netzwerke vieler Pfarrgemeinden boten reichlich Übertragungen von Messen. Der Cyberraum in der Tschechischen Republik wurde plötzlich mit religiösen Themen und religiösen Sendungen mit rekordmäßig hohen Einschaltquoten überflutet. Ich selbst habe mit Rührung die Übertragungen der Ostergottesdienste mit Papst Franziskus verfolgt und war dankbar dafür, dass ich zumindest auf diese Art in sein Gesicht schauen konnte, das von Schmerz und Mitleid gezeichnet war. Mehr noch als die Pontifikalmesse ergriff mich die Übertragung des Bittgebetes vor der Vatikanbasilika, zu der der Papst ganz allein im Regen über den leeren Petersplatz schritt. Ich denke, dass diese Szene nicht nur in meinem Gedächtnis, sondern auch im historischen Gedächtnis der ganzen Kirche haften bleiben wird. Ich war dem Papst dafür dankbar, dass er bei einer jener elektronisch übertragenen Messen eingestanden hat, dass er sich deren Problematik bewusst ist, nämlich der Versuchung, die reale Anwesenheit der Gläubigen bei der Eucharistiefeier durch den Konsum von Gottesdiensten auf den Fernsehbildschirmen zu ersetzen. In unserer Pfarrgemeinde haben wir keine Messen übertragen; mehrfach habe ich vielmehr meine Überzeugung geäußert, dass zur realen Anwesenheit Christi in der Eucharistie die reale Anwesenheit von Gläubigen um den Tisch des heiligen Mahles gehöre. Soziale Netzwerke sind eine begrüßenswerte Hilfe bei der Übertragung von Daten und Informationen – und dazu zählen viele Äußerungen der Kirche einschließlich Predigten und Katechese –, aber sie können nicht eine Feier ermöglichen, geschweige denn eine Eucharistiefeier. Ein Mahl lässt sich nicht durch ein »Mahl auf Distanz« ersetzen. Die Eucharistiefeier ist die Leben spendende Quelle der Kirche als Gemeinschaft, sie ist ein Medium der Kommunikation nicht nur mit Gott, sondern auch mit den anderen: Die Eucharistiefeier ist ein Mahl, bei dem die reale Anwesenheit Christi im Sakrament mit der realen (und nicht der virtuellen) Anwesenheit der Gläubigen verbunden ist; in der Eucharistie empfängt uns Christus und wir empfangen gleichzeitig Christus sowie seine Brüder und Schwestern, wir empfangen ihn in ihnen und durch sie. Das Argument, dass das Mitverfolgen...