Glaube im postoptimistischen Zeitalter
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-451-83692-3
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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2. Die momentane Krise
Zwei Phänomene werden momentan derart oft und an derart vielen Orten der Welt beschrieben, dass wir geneigt sind, ihnen einen globalen Charakter zuzuerkennen; zudem werfen sie die Frage auf, ob man sie mit der biblischen Rede von den Zeichen der Zeit benennen kann. Hierbei handelt es sich um die »Rückkehr der Religion« und die »Krise«. Wenn wir diese beiden Themen nur den Medien überließen, riskierten wir, dass das Wesentliche für uns im Nebel vager journalistischer Parolen verborgen bliebe. Aber selbst dann, wenn diese beiden Themen zum Gegenstand der empirischen Forschung der Gesellschaftswissenschaften würden, könnten wir spüren, dass hier immer noch etwas fehlte: ihre ehrliche theologisch-philosophische Analyse und geistliche Diagnose. Was bedeutet die Rede von der »Rückkehr der Religion«? Was kehrt hier eigentlich zurück? Handelt es sich um Religion oder Glauben, um Spiritualität, Frömmigkeit oder moralische Verantwortung, um Fragen nach dem letzten Sinn oder dem Bedürfnis nach heiligen Ritualen? Kehrt überhaupt etwas zurück, was es schon einmal gab, oder treten nicht eher Phänomene an die Stelle der traditionellen Religionen, die bisweilen nur entfernt an das erinnern, was wir uns »Religion« zu nennen gewöhnt haben, oder übernehmen diese neuen Phänomene eine von der Religion aufgegebene Rolle? Handelt es sich nicht schließlich um ein Ereignis, das sich nicht auf der Weltbühne, in der »objektiven Realität«, abspielt, sondern nur in den Köpfen jener westlichen Intellektuellen, die gerade aufgehört haben, die Religion zu unterschätzen? Die gerade ihre Brille der Säkularisierungstheorien ablegten, denen zufolge es eine unaufhaltsame Entreligiösierung der Welt gäbe, also jene sich selbst erfüllende Prophezeiung beziehungsweise jener »fromme Wunsch« der Gottlosen? Die gerade begannen, das wahrzunehmen, was sie so lange übersehen hatten? Was aber musste alles passieren, damit die Religion wieder so ein ernstes Thema wurde, dass viele von unserer Zeit als von einer »postsäkularen Zeit« sprechen? Wird die »Religion« stärker, oder erwacht nur das Interesse an ihr – und worauf richtet sich dieses Interesse an der vielschichtigen Welt der Religion? Wenn wir zulassen, dass unsere Zeit wirklich etwas Neues bringt, wie es der wachsende Einfluss der Religion in der Politik darstellt – die Repolitisierung der traditionellen Religionen, der überraschende Missionserfolg des evangelikalen Christentums, die Stärkung der traditionalistischen und fundamentalistischen Richtungen innerhalb der Religionen und der Durst nach spiritueller Erfahrung, auf welche die bunte Szene der »neuen Bewegungen« oder die neu wirkenden Puzzles aus Teilen alter Traditionen und Elementen der gegenwärtigen Psychotherapie antworten –, ist es dann möglich, all dieses auf einen einzigen Nenner zu bringen und von der »Rückkehr der Religion« zu sprechen? Ähnlich vieldeutig ist das zweite Thema – die Krise. Von welcher Krise sprechen wir heute eigentlich? Während ich diesen Text schreibe, wird der Ausdruck »Krise« (wahrscheinlich das meist gebrauchte Wort des öffentlichen Diskurses dieses Jahres) am häufigsten im Kontext der Wirtschaft genannt – die Krise des Bankensystems mit dem Epizentrum Manhattan hat sich am Ausgang des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts zu einer weltweiten Finanzund Wirtschaftskrise ausgewachsen, die wiederum eine ganze Reihe von sozialen und politischen Krisen zu entfesseln droht. Reicht jedoch diese Krise nicht noch tiefer als an die Stellen, wohin die Analysen der Ökonomen und Politologen reichen? Auch wenn, wie manche Optimisten versprechen, dieses akute Fieber bald vorübergehen sollte und es so plötzlich, wie es gekommen ist, wieder verginge, würde es sich nur um das Verschwinden eines Symptoms einer Krankheit handeln, die weiterhin andauert und jederzeit wieder ausbrechen oder sich auf eine andere Art bemerkbar machen könnte, wie wir es von den heute so verbreiteten Krebserkrankungen kennen? Ist die gegenwärtige Wirtschaftskrise nicht nur ein Anzeichen der sich hinschleppenden Krise der Moderne, von der die westlichen Denker schon seit dem 19. Jahrhundert sprechen – praktisch seit dem Moment, als die Gier nach Blut der jakobinischen Phase der französischen Revolution den Kulturoptimismus der Aufklärung in Zweifel zog –, bis hin zu den postmodernen Denkern, die gezeigt haben, wie die Einseitigkeit des neuzeitlichen Rationalismus in den zerstörenden Totalitarismus und die Manipulation der Natur, der Menschen und auch der Geschichte gemündet ist? Und haben einige der vielen Formen der »Postmoderne« irgendeinen heilenden Ausweg aus dieser Krise geboten? Vielleicht wird gerade der gegenwärtigen ökonomischen Gestalt dieser Krise nicht nur deshalb so viel Aufmerksamkeit gewidmet, weil sie schmerzhaft den materiellen Standard vieler Menschen berührt und die sozialen Sicherheiten erschüttert, sondern auch deshalb, weil sie den »Moneytheismus« (die Religion des Geldes) selbst in Zweifel zieht, der in der Phase des neuzeitlichen Kapitalismus den Monotheismus der jüdisch-christlichen Tradition still und heimlich ablöste. Die wissenschaftliche Vernunft, die ein möglicher Aspirant auf den göttlichen Thron zu sein schien, und die Wissenschaft, die reiner »Zweck an sich« zu sein schien, wurden allmählich zum bloßen Mittel; der Gewinn und das Geld wurden im Gegensatz dazu aus einem bloßen Mittel zum Zweck und zu dem hinreichenden, alles entschuldigenden und höchsten Ziel. So hat beispielsweise die heutige wissenschaftliche Forschung in vielen Fachbereichen schon längst nicht mehr den Ehrgeiz noch die Freiheit, die Sehnsucht des menschlichen Geistes nach der Erkenntnis der Wahrheit zu erfüllen, wie es der Rationalismus der frühen Aufklärung pathetisch deklarierte, sondern sie erfüllt gehorsam die Aufträge, die ihr von den ökonomischen und gegebenenfalls politischen Interessen ihrer Mäzene (am offensichtlichsten ist es wohl bei der Manipulation der medizinischen Forschung durch die Interessen der Pharmakonzerne) diktiert werden: Der Gewinn wurde zur Wahrheit der Wissenschaft. Diese Werterevolution hat unauffällig die Welt verändert: Immer weitere und immer größere Bereiche der Lebensrealität wurden zu Sachen, die man nicht mehr wie einen Partner respektieren muss, sondern über die man völlig frei wie über Gegenstände verfügen kann; sie werden als austauschbare Ware begriffen. Dieser Trend beherrscht mehr und mehr auch das Verhältnis zum menschlichen Leben: Verfechter der Abtreibung brachten zum ersten Mal das Argument, dass die menschliche Leibesfrucht ein »Bestandteil des Bauches« sei, über den man wie über eine Sache beliebig verfügen könne, und den bisherigen Höhepunkt dieser Entwicklung stellen die Angebote des gentechnischen Ingenieurwesens dar, unter der schon eingeführten Marke »Mensch« weitaus effektivere Erzeugnisse auf den Markt zu bringen als den veralteten Homo sapiens. Das häufig kommentierte kurze Fragment Walter Benjamins »Kapitalismus als Religion« sollte gerade heute wieder aufmerksam gelesen werden: Benjamin zeigt, dass das Wesen des Kapitalismus im Angebot der »Erlösung aus der permanenten Verfehlung und Verschuldung« besteht (vgl. die entsprechende doppelte – moralische und ökonomische – Bedeutung beispielsweise des lateinischen Worts debitum oder des deutschen Worts Schuld). Im Angesicht der gegenwärtigen Krise sollte die Stimme des Christentums nicht nur die abgedroschenen Phrasen einer unwirksamen Moralisierung des Kapitalismus als Kult des Mammons oder des goldenen Kalbs wiederholen, sondern eine tiefere theologisch-religionswissenschaftliche Analyse des Geldpantheismus unserer Gegenwart versuchen. In der Tat wurde nämlich das Geld zum Sakrament der bürgerlichen Gesellschaft, zum »sichtbaren Zeichen unsichtbarer Gnade«, das die Teilhabe an allen Segnungen dieser Gesellschaft vermittelt (und in diesem Sinne die christliche Theologie der Sakramente und der Gnade – Werte, die »gratis gegeben« werden – umkehrt oder geradezu karikiert)1. Hans-Joachim Höhn, der diese Wahrnehmung formulierte, fügt jedoch hinzu, dass auch das Christentum mit der Ökonomisierung seiner Theologie phasenweise selbst zur Vergötterung der Ökonomie beigetragen habe (es sei hier an die Lehre über den »loskaufenden Wert des Opfers Christi« erinnert, insbesondere in Anselms Darstellung der »Zahlung eines Lösegelds für die Schuld des Menschen an den Teufel«, und auch an die katholische Praxis der Ablässe, der Messintentionen u.Ä.). Vom »Vergelt’s Gott« zum »Vergott’s Geld«2 ist es anscheinend kein allzu weiter Weg! *** In der Tat kann ich mich nicht des Gedankens erwehren, dass die aktuellen Probleme unserer Zeit – nicht nur die ökonomischen Schwierigkeiten, sondern auch der Terrorismus, die Folgen der klimatischen Veränderungen, die Pandemien der ansteckenden Krankheiten und insbesondere das Verlorengehen jeglicher Verantwortung für mögliche Folgen bestimmter wissenschaftlichen Experimente – sehr auffallend an den Verlauf einer ernsten Krebserkrankung oder einer Drogenabhängigkeit erinnern: Nach Perioden scheinbarer Ruhe kommt es immer wieder zu Rezidiven. Darf ich diesen Vergleich mit dem Hinweis auf meine eigenen Erfahrungen aus der pastoralen Begleitung von Menschen mit einer Krebserkrankung und aus den Jahren meiner klinischen Praxis in der Abteilung...