E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Halimi / Burkhard / Klötgen Die Poetry Slam-Fibel 2.0
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-947106-69-1
Verlag: SATYR Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
25 Jahre Werkstatt der Sprache
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-947106-69-1
Verlag: SATYR Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
100 Texte, knapp 70 Autorinnen und Autoren,
darunter über 20 deutschsprachige Poetry-
Slam-Champions – eine Sprache. Sie steht im
Zentrum dieser Anthologie – das Handwerkszeug
aller Poetinnen und Poeten, das in vielen
Texten gespiegelt, betrachtet, lustvoll hinterfragt
oder spielerisch erweitert wird.
Bei allem Unterhaltungsfaktor bietet die Poetry-
Slam-Fibel eine Bühne für die Sprache
zwischen Sinnhaftigkeit, Rhythmus und Musikalität:
Sprache als lyrisches Präzisionswerkzeug,
als abschreckendes Beispiel, als klangvolle
Schallwelle, als sterbenskranker
Patient, als
Lustobjekt,
als Rhythmusmaschine, als Crash-
Test-Dummy. Sprache als Spielzeug und Sprache
als Waffe.
Seit über fünf Jahren ist dieses Standardwerk
sowohl beliebtes Slam-Lesebuch als auch Hilfsmittel
in Workshops und Deutschunterricht.
Die Herausgeber gehören zu den Mitbegründern
der deutschsprachigen Poetry-Slam-Bewegung.
Ihre Poetry-Slam-Fibel ist eine Rückbesinnung
auf den Poetry Slam als Forum und
Werkstatt der Worte und ein Plädoyer für die
spielerische und kritische Auseinandersetzung
mit Sprache
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
STEPHAN POROMBKA
VORWORT: DIE ›SCHOOL OF HARD KNOCKS‹ DER DEUTSCHEN LITERATUR
Wer je auf einem Poetry Slam war, der weiß: Am spannendsten ist dieser Moment, wenn der Master of Ceremony den nächsten Sprecher oder die nächste Sprecherin mit der nächsten Nummer angesagt hat. Der Applaus zieht an, wird laut, er hält sich ein bisschen, ebbt wieder ab, jemand pfeift noch oder johlt, von hinten an der Bar hört man ein paar Leute sprechen, es gibt kleine Ermahnungen, Zischlaute, dann wird es fast ganz still. Und jetzt: Es ist dieser Moment, wenn niemand genau weiß, was passiert. In solchen Momenten können bis dahin großartige Abende in den Abgrund kippen. Da tritt mitten in der wirklich guten Stimmung, die den ganzen Saal auf einem angenehmen High hält, plötzlich jemand auf, ein Hemdchen nur, ein Stimmchen, und präsentiert ein Textchen, abgelesen, hingestottert, kaum zu hören, irgendwas mit Straßenbahn und letzter Haltestelle, und alle denken: Das kann nicht sein, wo bin ich hier gelandet?! Und dann gibt es diese Momente, in denen das Publikum schon die Hoffnung aufgegeben hat. Der MC kommt wieder raus, kündigt den Nächsten an, schwacher Applaus, widerwilliges Murmeln, eine kleine Person tritt auf, nimmt das Mikrofon und räuspert sich. Und dann, Bäm!, geht es plötzlich ab, als würde der Stimmblitz mit Sprachwitz, dem dröhnenden Herzbeat und dem Donner einer großen Story in den Saal krachen und alle so elektrisieren, dass jeder denkt: Wow, das isses, dafür bin ich hier! In welche Richtung es beim Slam geht, ist kaum vorauszusagen. Es gibt schwindelerregende Achterbahnshows. Es gibt Fahrstuhlabende, an denen man dauernd hoch- und runterfährt, ohne zu wissen, durch welche Niveauplateaus der Saal das nächste Mal gejagt wird. Was man aber immer sicher weiß: dass man nicht mit Sicherheit weiß, wie es werden wird. Dass man nicht weiß, wie es werden wird, ist alles andere als eine Banalität. Denn in der Ungewissheit steckt das eigentliche Erfolgsgeheimnis der Literatur, die auf Bühnen performt wird. Poetry Slams sind Abende aus der Wundertüte. Nicht zu wissen, wie es wird – das auszuhalten und mitzumachen und mitzufiebern und auch selbst dafür mitverantwortlich zu sein, dass es ein guter Abend wird, das macht für das Publikum den Reiz aus. In der Ungewissheit steckt aber noch mehr. Sie ist zugleich der geheime Mechanismus, der die Kreativität und Produktivität der Wort-Artisten aktiviert. Weil ungewiss ist, was aus einzelnen Auftritten und aus ganzen Abenden wird, nehmen alle Beteiligten billigend in Kauf, dass die Texte auch mal scheitern können. Das entspannt ungemein. Es eröffnet einen Spielraum, den die Buch-Literatur nicht kennt. Denn Bücher zu drucken heißt: Gedruckt ist gedruckt. Gebunden ist gebunden. Und ausgeliefert ist ausgeliefert. Verändert werden kann, was erst einmal in Büchern steht, nur noch mit sehr hohem Aufwand. Alles muss jetzt bleiben, wie es ist. Ganz anders beim Slam. Hier ist alles im Fluss. Die Texte sind in ständiger Entwicklung. Sie existieren eigentlich nur dann, wenn sie aufgeführt werden. Dabei gilt: Gerade weil sie nicht auf das Glatte und Gelungene festgelegt sind, dürfen Slammer etwas ausprobieren. Folgerichtig trifft man auf Poetry Slams nicht die perfekten Profis. Hier findet man alle Spielformen des strategischen Umgangs mit dem Unfertigen, dem Halbgaren, dem Scheiternden, dem Belanglosen. Textformate und Performances machen das Nicht-Perfekte ebenso häufig zum Thema wie die Texte selbst. Der Poetry Slam hat damit wie keine andere Bewegung in der Literatur den Dilettantismus als ästhetische Strategie integriert. Aber nicht als Naivität gegenüber den eigenen Möglichkeiten, sondern als Avantgardismus. Der Dilettantismus hat sich seit dem grandiosen Auftritt der (sich mit Absicht falsch schreibenden) »genialen Dilletanten« zu Beginn der Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts als einer der wichtigsten Treibsätze für künstlerische Innovationen erwiesen. Denn gerade weil die Avantgardisten des »genialen Dilletantismus« nicht bereit sind, sich den spießigen Vorgaben für eine angeblich gute Kunst und Literatur zu unterwerfen, sind sie aufs Experimentieren abonniert. Getestet werden neue Texte, neue Stile, neue Moves. Vorgeführt wird etwas anderes. Etwas Schräges, Überraschendes, Verrücktes, ein Übersprung raus aus den Konventionen. Ein Spielraum für Experimente öffnet sich beim Poetry Slam aber auch, weil die Slam-Texte so ausgesprochen kurz sind. In der Regel geht es um drei bis fünf Minuten. Manche Auftritte bleiben sogar darunter. Gelegentlich dauern sie sechs Minuten oder sieben, aber länger wird’s bestimmt nicht. Denn Slam-Stücke sind immer nur Songs und keine Symphonien. Es sind Tracks und keine Alben. Slam-Abende sind flotte Revuen und keine Konzerte. Das fördert die Geschwindigkeit, mit der im Slam produziert wird. Und die erhöhte Geschwindigkeit wiederum fördert die Geschwindigkeit, mit der sich die Texte weiterentwickeln. Weil die Wege zwischen Notizbuch und Bühne so kurz sind und weil die Zeit zwischen den Auftritten wie im Flug vergeht, lernen die Artisten und Artistinnen schnell. Oder sie geben auf. Slammer oder Spoken-Word-Performer sein, heißt: dauernd zu trainieren. Alles geht Schlag auf Schlag. Das verstärkt den Wirbel, der in den letzten zwanzig Jahren rund um die Wort-Artisten-Szene entstanden ist. Immer schneller sind von ihm die jungen Talente eingesogen und auf die Bühne geworfen worden. Einige von ihnen standen mit fünfzehn das erste Mal am Mikrofon. Viele hat der Slam wie ein starker Durchlauferhitzer auf beeindruckende Temperaturen gebracht. Große Slammer sind ins Comedy-Fach gewechselt. Andere sind Werbetexter geworden. Man hört von Professoren, die einst Slammer waren und jetzt Vorlesungen halten. Es gibt auch Slammer, die sind Songwriter geworden. Oder Lyriker. Oder Romanautoren. Alles schaut wie gebannt auf die Schreibschulen an den Universitäten, an denen Autoren ausgebildet werden, die als Bachelor oder Master den Literaturbetrieb prägen sollen. Aber hat jemand schon einmal ganz konkret ausgezählt, was der Poetry Slam für die Literatur und ihren Betrieb gebracht hat? Ist man sich eigentlich klar darüber, dass so unglaublich viele Autoren überhaupt erst durch den Slam zum Schreiben gekommen und auf der Bühne ausgebildet worden sind und dort oben ihre inneren und äußeren Stimmen weiterentwickelt haben, immer hin und her zwischen hop oder top, Sieg oder Niederlage? Der Poetry Slam ist nie eine gemütliche Schreibschule gewesen. Slammer konnten nie ihre Schreibblockaden mit bemühten Selbstreflexionen intellektualisieren. Der Slam kennt keine Dozenten, die vorführen, wie man für den Elfenbeinturm oder den Bahnhofsbuchhandel produziert. Slammer kennen keine wöchentlichen Schreibwerkstätten, in denen sie Creditpoints für ihren Abschluss verdienen. Der Slam ist, was die Amerikaner »the school of hard knocks« nennen. Die Schule der harten Schläge. Das Klassentreffen auf dem Bordstein. Während sich in den letzten zwei Jahrzehnten in den feinen Etablissements der Literatur alles bis zur Langeweile wiederholt hat, wurde das literarische Schreiben und Sprechen aus dieser Schule der harten Schläge mit völlig neuen Impulsen versorgt. Dass die Literatur heute wieder Frische hat und fasziniert; dass sie als großartiger Event wiederentdeckt worden ist; dass die Säle gefüllt sind, wenn Autoren kommen und lesen und sprechen und mit dem Publikum spielen; dass man zu Lesungen geht, weil man etwas Starkes erleben will – das alles geht auf den Poetry Slam zurück. Ist das zu dick aufgetragen? Nein! Die Feuilletonchefs, die Kulturredakteure, die Literaturkritiker und die Literaturgeschichtsschreiber mögen die Nase rümpfen. Sie mögen sich darüber mokieren, dass nun ausgerechnet das, was in ihrer Filterblase doch gar nicht als echte Literatur zählt, so viel stärker und einflussreicher als das sein soll, was sie als Qualitätsliteratur einstufen und zur Rezension durchlassen. Dabei ist das noch gar nicht alles. Slam ist noch viel mehr. Er hat nämlich die Literatur nicht nur mit neuem Leben erfüllt, als sie in ihrer eigenen Langeweile zu ersticken drohte. Der Poetry Slam hat die Literatur auch an riesige Energiereservoirs der Medien- und Popkultur angeschlossen, aus denen sie langfristig schöpfen kann. Es ist kein Zufall, dass die Performance-Literatur ihren ersten großen Hype erlebt hat, als sich die PCs verbreitet und zum Internet zusammengeschlossen haben. Auf die Krise des gedruckten Wortes hatte der Poetry Slam eine produktive Antwort parat. Mitten in der Krise hat er zwei Sachen ins Spiel geholt, die in der Printkultur nie richtig mitspielen durften: den Körper und die Stimme. Live und unmittelbar. Und zwar so intensiv, dass das Gedruckte mindestens für ein paar Momente völlig vergessen werden konnte. Damit hat der Poetry Slam vollzogen, was in der Medientheorie schon lange vorher als »sekundäre Oralität«...