E-Book, Deutsch, Band 1, 384 Seiten
Reihe: Das dunkle Herz
Hainer Das dunkle Herz
18001. Auflage 2018
ISBN: 978-3-492-99076-9
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 1, 384 Seiten
Reihe: Das dunkle Herz
ISBN: 978-3-492-99076-9
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lukas Hainer ist einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Songtexter. In Zusammenarbeit mit der Band »Santiano« startete er 2017 seine Kinderbuchreihe »König der Piraten«, zu der ein Hör-Musical mit der Band und mehrere Hörbücher erschienen sind. »Das dunkle Herz« ist der erste Jugendroman des Autors, der nach Lebensabschnitten in Brasilien und Norddeutschland derzeit wieder in seinem Geburtsort München lebt. Gemeinsam mit seiner Familie genießt er dort von ganzem Herzen die Freiheit, jeden Tag an seinen Geschichten und Songs arbeiten zu dürfen.
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Trauerglocken
»Zum heutigen Gottesdienst erinnern wir uns auch an einen Jungen, der vor zehn Jahren von uns gegangen ist.« Der Pfarrer hatte nach seiner Predigt vor dem Altar Stellung bezogen.
Anna fand nicht, dass es etwas Besonderes war, wenn sie heute an den Jungen dachten, der ihr Bruder gewesen war. Sie konnte sich an keinen Tag in den letzten zehn Jahren erinnern, an dem sie nicht an ihn gedacht hatten. Sein Schatten lag in ihrem Elternhaus über jeder gemeinsamen Mahlzeit. Er lag in den Sorgenfalten ihrer Mutter und sein Name schien noch immer auf der Tür zu dem leeren Zimmer im Haus zu prangen, auch wenn die Buchstaben dort schon lange nicht mehr hingen:
»Ben«, der Junge, der von uns gegangen ist.
»Familie Engel schickt ihre Gedanken und Fürbitten zum Heiligen Vater. Wir beten gemeinsam mit den Eltern Susanne und Frank und mit der Schwester Anna für die Seele des kleinen Ben.«
Der Pfarrer suchte Blickkontakt mit Annas Mutter, und diese trat aus der Kirchenbank und machte sich auf den Weg nach vorne. Es war bis ins kleinste Detail dieselbe Szene wie im Jahr davor und davor und davor. Anna hätte wetten können, dass es auch an Bens Beerdigung so abgelaufen war, aber daran konnte sie sich nicht erinnern. Sie war vor zehn Jahren immerhin erst vier gewesen. Annas Mutter hatte vermutlich dasselbe schwarze Leinenhemd und die schwarze Hose getragen und war ebenso von einem Pfarrer nach vorne gebeten worden. Nur war sie dann wohl nicht an der Osterkerze, sondern an einem kleinen, leeren Sarg vorbeigelaufen.
Die meisten würden einen Sarg mit einem Kind darin vermutlich für schlimmer halten als einen leeren. Aber Anna wusste, dass ihre Eltern alles, was passiert war, weitaus besser verkraftet hätten, wenn sie Ben damals tatsächlich hätten beerdigen können.
»Danke«, sagte Annas Mutter mit brüchiger Stimme am Lesepult. Sie legte einen kleinen Zettel darauf und begann.
»Heute ist es zehn Jahre her, dass wir unseren Sohn Ben verloren haben. Meiner Familie und mir fällt es immer noch schwer, es bei unserem Abschied von ihm zu belassen.« Mit einer zittrigen Bewegung strich sie sich eine Strähne aus der Stirn. Anna hatte ihr volles Haar geerbt, doch bei ihrer Mutter wirkte es inzwischen matt und kraftlos. »Selbst nach all der Zeit suche ich ihn manchmal noch unter den Kindern, die von der Grundschule nach Hause gehen, obwohl er jetzt schon siebzehn Jahre alt wäre und vielleicht sein Abitur gemacht hätte.«
Sie musste eine Pause machen und kämpfte sichtlich mit den Tränen. Anna senkte den Blick, auch wenn es traurige Gewohnheit geworden war, ihre Mutter so zu sehen. Alles, was sie sagte, hatte Anna so oder so ähnlich schon zigmal gehört. Sie stellte sich vor, ihre Mutter spräche dort vorn über sie, und ihr großer Bruder säße hier an ihrer Stelle. Würde er weinen? Mit Sicherheit hätte er sich besser an Anna erinnern können als umgekehrt, denn die meisten Bilder in ihrem Kopf stammten aus alten Videos ihrer Eltern.
Auf einem davon war sie erst knapp zwei, wackelte ständig vergnügt quietschend hinter ihrem fünfjährigen Bruder her und rief: »Bem, Bem!«, während dieser sich von ihr fangen ließ. Sie hatte keine eigene Erinnerung an die Szene, kannte sie nur aus der Kameraperspektive ihrer Mutter. »Bem« hatte sie ihn noch bis zu seinem Verschwinden manchmal genannt, zwei Jahre später. Ob ihr Bruder tatsächlich nicht mehr lebte? Oder gab es doch irgendwo den mittlerweile siebzehnjährigen Jungen, von dem ihre Mutter sprach?
»Bis heute fällt es uns nicht leicht, damit zu leben«, fuhr diese am Pult fort. »Jeden Tag frage ich mich, ob ich an irgendetwas nicht gedacht habe. Ob es noch einen Hinweis gibt, den man verfolgen könnte, oder ob man erneut einen Aufruf starten sollte. Ich weiß nicht, wie wir mit der Situation jemals hätten umgehen sollen, ohne den vielen Rückhalt, gerade hier in der Gemeinde. Dafür möchten wir euch heute noch einmal danken.«
Anna konnte ihren Eltern nicht den Vorwurf machen, sie hätten nach Bens Verschwinden nicht alles versucht, um etwas Normalität zurückzugewinnen. Sie waren bei allen möglichen Therapeuten gewesen: für sich selbst, für ihre Ehe und für die Familie. Auch für Anna, als sie noch zu jung gewesen war, um sich dagegen zu wehren. Sie hatten sich bemüht, ihr die Kindheit zu ermöglichen, die die Umstände zuließen.
Natürlich hatte Anna selbst damals kaum etwas begriffen. Ihr Bruder war plötzlich fort gewesen und der »Tod« kaum mehr als ein abstrakter Begriff, den sie von angefahrenen Tieren auf der Straße kannte. Was sollte er im Zusammenhang mit ihrem Bruder bedeuten, mit dem sie jeden Tag spielte oder stritt oder durch die Wohnung tobte? Und dann war Ben ja nicht einmal wirklich gestorben, zumindest nicht auf eine Art, die irgendwie begreifbar war. Wie sollte eine Vierjährige damit umgehen, wenn das selbst Erwachsene nicht hinbekamen? Am allerwenigsten ihre Eltern.
Die ersten Tage hatte die ganze Familie praktisch durchgehend geweint. Noch für Wochen hatte Anna ihre Mutter nur mit verheulten Augen zu Gesicht bekommen. Doch im Nachhinein war diese erste Zeit nicht das Schlimmste gewesen. Es war der lange Schatten, den sie geworfen hatte.
Normalerweise, wenn ein Elternteil oder Geschwister starb, dann überschattete das vielleicht ein Jahr lang alles und danach normalisierte sich das Leben langsam wieder, so weit wie möglich. Anna kannte die Abläufe aus den Trauergruppen ihrer Eltern und den vielen Links in irgendwelche Foren, die sie von ihnen bekommen hatte. Doch bei ihr war es nicht nach einem Jahr Kindergarten vorbei gewesen. Ganz im Gegenteil hatten ihre Eltern den Jahrestag zum Anlass genommen, die Suche noch einmal so richtig in die Medien zu bringen. Und im Jahr danach hatte es einen neuen Aufruf wegen ganz neuer Verfahren und Möglichkeiten gegeben, Ben doch noch zu finden, und so weiter und so fort. Seit sie denken konnte, war sie gefangen in ihrer Rolle, weil es immer und immer wieder von vorne losging: Familie Engel mit ihrem verlorenen Sohn.
Manchmal kam es Anna vor, als hätten sich alle mit ihrem Schicksal abgefunden: Ihr Bruder war das vergötterte, verlorene Kind und ihre Eltern waren die gezeichneten Erwachsenen mit dem tragischen Schicksalsschlag. Aber niemand schien zu kapieren, dass sie selbst nun mal nicht wollte, dass das Verschwinden ihres Bruder vor zehn Jahren für immer jede Facette ihres Lebens bestimmte.
»… und deshalb bitte ich euch jetzt um eine Schweigeminute für Ben, während die Kirchenglocken für ihn läuten.«
Annas Mutter hatte ihre Trauerrede beendet und steckte den Zettel wieder ein. Anna fühlte sich schuldig für ihre egoistischen Gedanken, ausgerechnet hier und jetzt. Als sich alle erhoben und Anna ihre Mutter dort vorne stehen sah, fragte sie sich, wer sie vor dem Schleier aus Tränen gewesen war. Erinnern konnte Anna sich daran ebenso spärlich wie an ihren Bruder.
begannen die Kirchenglocken zu läuten, und der Klang erschien ihr schwer. Sie spürte das Dröhnen bis in ihren Bauch.
Es schlug ihr auf den Magen, und bei jedem Glockenschlag wurde es schlimmer. Als ihr schwindlig wurde, hielt sie sich mit den Händen an der Rückenlehne der Kirchenbank vor ihr fest. Sie hatten sich nicht in die erste Reihe gesetzt, Anna hatte sich geweigert. Sie fand, sie sitze durch die Erwähnung der »Familie Engel« mehr als genug auf dem Präsentierteller. Anna sah sich nervös um, doch die Kirchgänger waren allesamt ins Gebet versunken. Was war los mit ihr? Bloß nicht umkippen, betete sie sich vor. Es würde keinen Tag dauern, bis die ganze Schule wusste, dass sie einen Schwächeanfall während der Trauerglocken für ihren Bruder gehabt hatte.
Ihre Beine wurden zittrig. Vielleicht lag es daran, dass sie heute Morgen kaum etwas gegessen hatte. Annas Vater stand mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen neben ihr. Sie wollte ihn nicht aus seiner Andacht reißen, aber es ging ihr immer schlechter.
Schwarze Flecken tanzten in ihrem Sichtfeld. Anna hatte Schweiß auf der Stirn und hätte sich gern übers Gesicht gewischt, doch sie traute sich nicht mehr, die Bank vor ihr loszulassen. Mit beiden Händen klammerte sie sich daran fest, wie eine Ertrinkende. Sie spürte noch die bleierne Schwere in den Beinen, als ihr Blut plötzlich nach unten sackte – dann verlor sie das Bewusstsein. Sie würde sich später noch oft fragen, ob sie nicht doch für längere Zeit ohnmächtig gewesen war. Doch es fühlte sich nicht danach an: Ihre Sinne kehrten sofort zurück und Schwindel und Übelkeit waren nahezu verschwunden. Tatsächlich war sie auch nicht umgekippt, sondern stand noch immer aufrecht da. Nur eben nicht mehr neben ihrem Vater in der Kirche.
Anna fand sich in einer staubig roten Wüste wieder. Die Menschen, die Kirche, alles war plötzlich fort. Die Silhouette einer Stadt befand sich in einiger Entfernung. Doch diese Stadt hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihrem Zuhause. Es waren niedrige Bauten aus grau-braunem Lehm, die sich aus dem roten Sand hoben. Kaum fähig, sich zu rühren, spürte sie ein dumpfes Dröhnen im Boden. Sie hielt es zunächst für die Kirchenglocken, doch es hörte nicht auf, sondern war ein stetiges, leises Wummern.
Hinter Anna knirschte etwas im Sand und ein wirrer Redefluss in einer Sprache begann, die nach Arabisch klang. Anna fuhr zusammen und drehte sich um. Das Herz hämmerte ihr in der Brust. Dort krabbelte ein kleiner Junge auf dem Boden rückwärts von ihr weg und ließ sie dabei nicht aus den Augen. Seine...




