E-Book, Deutsch, 290 Seiten, Format (B × H): 145 mm x 205 mm
Hagendorff Was sich am Fleisch entscheidet
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-96317-775-0
Verlag: Büchner-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Über die politische Bedeutung von Tieren
E-Book, Deutsch, 290 Seiten, Format (B × H): 145 mm x 205 mm
ISBN: 978-3-96317-775-0
Verlag: Büchner-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Gesellschaft erlebt sich in einem Krisenmodus, ausgelöst durch eine Vielzahl ökologischer, sozialer und politischer Fehlentwicklungen. Was treibt diese an und wie können sie abgewendet werden? Bei der Beantwortung dieser Fragen wendet sich der Sozialwissenschaftler und Ethiker Thilo Hagendorff einem zentralen und dennoch kaum beachteten Aspekt zu: dem menschlichen Verhältnis zu Tieren. Denn gerade die industrielle Nutzung und Tötung von Tieren hat versteckte, aber weitreichende Implikationen für alle der genannten Fehlentwicklungen. Hagendorff zeigt die ideologischen wie psychologischen Mechanismen auf, die nicht nur zur Akzeptanz und Unterstützung von Gewalt gegenüber Tieren, sondern auch gegenüber Menschen führen. Mit Rückgriff auf zahlreiche wissenschaftliche Erkenntnisse macht er deutlich, dass die Abwendung aktueller Krisen untrennbar mit einem veränderten Umgang mit Tieren verknüpft ist. Eine von Frieden und gegenseitigem Respekt geprägte Gesellschaft ist ohne die Beendigung der globalen Tierindustrie nicht denkbar.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Einleitung
Menschen und Elefanten haben viele Gemeinsamkeiten. Genau wie Menschen sind Elefanten überaus soziale Wesen. Sie empfinden Empathie, verfügen über ein komplexes Gefühlsleben und Selbstbewusstsein und handeln nach moralischen Regeln. Die Tiere leben in unterschiedlich großen Familienverbünden zusammen, die von einem alten, erfahrenen Muttertier angeführt werden. Alle Tiere sorgen liebevoll füreinander, indem sie beispielsweise kranken oder verletzten Artgenossen Hilfe leisten. Wenn ein Elefant oder auch ein artfremdes Tier wie etwa ein befreundetes Nashorn stirbt, trauern die anderen Mitglieder der Gemeinschaft um es. Sie berühren den Körper des toten Tieres vorsichtig mit ihren Rüsseln, stehen einfach nur für eine Zeitlang in der Nähe des Körpers oder stoßen Laute der Trauer aus. Insgesamt sind Elefanten äußerst friedliche, ruhige und rücksichtsvolle Tiere. Dies kann sich jedoch ändern. Die größte Gefahr für das Leben und Wohlbefinden von Elefanten stellt der Mensch dar. Er jagt sie wegen ihrer Stoßzähne, nutzt sie zur Beförderung von Lasten oder führt sie in Zirkussen vor. Außerdem drängt er sie in immer kleinere Lebensbereiche zurück. Durch Menschenhand werden jährlich viele Tausend Elefanten getötet.1 Wenn junge Elefanten sehen, wie Mitglieder ihrer Herde oder gar ihre Mutter erschossen oder auf andere Weise getötet werden, brennt sich dieses Erlebnis tief in das Gedächtnis der Tiere ein. Und so ist es nicht unwahrscheinlich, dass Elefanten, die derart traumatisiert worden sind, ihrerseits möglicherweise beginnen, andere Lebewesen zu töten. Unter den Opfern befinden sich dabei nicht selten auch Menschen.2 Elefanten, die verstörende Ereignisse wie etwa den Tod von nahestehenden Artgenossen miterleben müssen, entwickeln Symptome, die einer posttraumatischen Belastungsstörung gleichen.3 Sie sind depressiv, übermäßig schreckhaft oder zeigen ein unberechenbares, hyperaggressives Verhalten. Bei Elefantenkindern, die ein Massaker durch Wilderer überlebt, dabei aber den Verlust der Muttertiere erlebt haben, hinterlassen derartige Ereignisse einen lebenslangen Einfluss auf ihre psychosoziale Konstitution. Insbesondere die Störung oder gewaltsame Aufhebung einer natürlichen Mutter-Kind-Beziehung oder die Ermordung der wichtigen Leitkuh bedeutet für Elefanten nahezu unweigerlich, dass sie psychische Pathologien entwickeln. Mitunter ziehen Elefantenherden durch die Savanne, die lediglich aus jungen Tieren bestehen. Diese sind sich selbst überlassen, ohne die wichtige Begleitung der älteren Tiere. Eine Folge dessen sind willkürliche Fehden der Elefanten untereinander. Viele Elefantenbullen sterben, weil sie mit anderen Bullen in Kämpfe verwickelt werden. Ferner kommt es vor, dass Elefantenmütter ihre Kinder vernachlässigen oder abstoßen. Manche Mütter töten die Kinder anderer Elefanten. Zudem gibt es chronisch gestresste oder anderweitig verhaltensauffällige Tiere. Dazu gehören auch »Killerelefanten«, die Menschen angreifen, tottrampeln oder in menschlichen Siedlungen randalieren. Als resozialisierbar gelten psychisch kranke beziehungsweise verhaltensgestörte Elefanten nicht.4 Alles in allem kann festgestellt werden, dass die Störung des natürlichen Sozialgefüges bei Elefanten dazu führt, dass diese nicht mehr in der Lage sind, ein friedliches Zusammenleben zu führen. Die eigentlich sensiblen, empathischen Tiere verrohen Stück um Stück. Etwas Ähnliches lässt sich auch bei Tieren beobachten, die in Zoos gefangen gehalten werden. Primaten beispielsweise müssen in Zoos in Gehegen leben, die im Vergleich zu den natürlichen Lebensräumen der Tiere klein und beengend sind. Beobachtet man die Tiere über einen längeren Zeitraum, kann man feststellen, dass sie starke Spannungen und Aggressionen zeigen. Starke Tiere unterdrücken ihre schwächeren Artgenossen. Mütter vernachlässigen ihre Kinder. Kämpfe und Beißereien unter den Tieren führen zu Toten und Verletzten. Bereits vor vielen Jahrzehnten konnte bei Vergleichen zwischen in Freiheit sowie in Zoos lebenden Tieren gezeigt werden, dass aggressive Handlungen in Gefangenschaft signifikant häufiger auftreten als in freier Wildbahn.5 Heute stellt man die Tiere, die durch die widrigen Lebensumstände im Zoo Verhaltensstörungen entwickeln – und dies sind je nach Tierart durchweg alle Tiere6 –, schlicht mit Psychopharmaka ruhig.7 Es besteht kein Zweifel mehr darüber, dass bei Tieren – nicht anders als bei Menschen – Umwelteinflüsse einen signifikanten Einfluss darauf haben, inwieweit aggressive beziehungsweise destruktive Verhaltensweisen auftreten.8 Der berühmte Sozialpsychologe Erich Fromm, der sich in seiner Forschung ebenfalls mit aggressivem Verhalten im Tierreich auseinandergesetzt hat, schreibt im Hinblick auf in der Gefangenschaft von Zoos lebende Tiere: »Die Gemeinschaft [der Tiere] wird zu einem haßerfüllten Mob. Alle entspannen sich nur selten, man hat nie den Eindruck, daß sie sich wohl fühlen, und es kommt zu einem ständigen Zischen, Knurren und sogar zu Kämpfen.«9 Anhand der Untersuchungen in Zoos lässt sich die Erkenntnis gewinnen, dass die Häufigkeit aggressiver und gewalttätiger Handlungen in einem Abhängigkeitsverhältnis steht mit der »Populationsdichte« der Tiere. Der Begriff der »Populationsdichte« greift hierbei jedoch letztlich zu kurz, da er die Tatsache verbirgt, dass mit einer Veränderung räumlicher Strukturen gleichsam eine Veränderung oder eben Zerstörung natürlicher Sozialstrukturen einhergeht.10 Letzteres verursacht schließlich gewalttätiges, destruktives oder aggressives Verhalten, im Zuge dessen sich die Tiere untereinander unnötig Schmerzen und Leiden zufügen. Was für die Gemeinschaft der Elefanten oder der Affen gilt, hat viel mit der Gesellschaft der Menschen zu tun. Auch sie leben vielerorts unter den Bedingungen beschädigter Sozialstrukturen. Auch sie sind verroht. Auch sie diskriminieren oder bekämpfen sich gegenseitig. Mitunter bringen sie sich aus Hass gegenseitig um. Sie handeln rücksichtslos, respektlos, achtlos. Sie sind vielfach unfähig, sich angemessen um ihre eigenen Kinder zu kümmern. Sie leiden an körperlichen und psychischen Erkrankungen und vielem mehr. Die Gründe dafür sind die gleichen wie bei den Elefanten oder den gefangenen Affen. Menschen haben verlernt, ein friedliches Leben zu führen. Sie haben ihre natürlichen Lebensgrundlagen und ihre natürliche Art des Zusammenlebens, die geprägt ist durch Empathie, Kooperation und Fairness, vielerorts vernichtet – genau wie sie dies mit den Elefanten getan haben oder mit den Tieren, die sie gefangen halten. Die Dinge sind aus dem Ruder gelaufen. Die Idee, Parallelen zu ziehen zwischen tierlichen und menschlichen Gesellschaften, ist dabei weniger abwegig, als es vorerst scheinen mag. Bereits die beiden Wissenschaftler Marc Bekoff und Jessica Pierce haben in ihrer Forschung, in der sie moralisches Handeln bei Tieren untersuchen, diesen Gedanken festgehalten. Sie schreiben: »Wenn menschliche Gesellschaften zerfallen und das soziale Gefüge beschädigt wird, verlieren Menschen oft ihre moralische Orientierung. Dies kann auch für Tiergesellschaften gelten, die durch normative Standards und Verhaltensweisen zusammengehalten werden.«11 Ähnlich wie Elefanten werden Menschen, diese aufgrund ihrer besonderen sozialen Fähigkeiten eigentlich so großartigen Tiere, vielfach ihren Potenzialen nicht mehr gerecht. Die Gesellschaft hat sich in einen Zustand manövriert, in dem Menschen sich gegenseitig daran hindern, ein friedliches, ausgeglichenes, nachhaltiges Leben führen zu können. Ein in großen Teilen rücksichtslos agierendes Wirtschaftssystem, die hohen Bevölkerungsdichten, der kollektive Stress, ein naturzerstörerischer Lebensstil und fehlende soziale Kohäsion haben dazu geführt, dass Gesellschaften sich in einem Strudel aus mehr oder minder subtiler Diskriminierung, Hass oder gar Gewalt befinden. Dabei wird das »falsche Leben«12, wie der Philosoph Theodor W. Adorno es nennt, von den Älteren an die Jüngeren weitergegeben. Und in vielen Kindern und Jugendlichen, die über nichts weniger als die Zukunft des Planeten entscheiden, prägt sich das »falsche Leben« ein, noch bevor sie in der Lage sind, die Falschheit desselben zu reflektieren und sich von ihm loszusagen. Teil des falschen Lebens ist, nicht den Mut und das Selbstbewusstsein zu erlangen, von bestehenden Verhältnissen abzuweichen, gegen etablierte Normen zu handeln oder das Normale zu hinterfragen. Dies härtet das falsche Leben in der Gesellschaft aus, und es zu verändern scheint nahezu unmöglich geworden zu sein. Die Umstände, die das Leben in der Moderne kennzeichnen, sind von vielen – auch moralischen – Fortschritten geprägt.13 Dennoch gibt es offensichtlich diverse Entwicklungen, die mit Sorge zu betrachten sind. So verbreiten terroristische Vereinigungen überall auf der Welt Gewalt und Schrecken. Militäroffensiven durch verschiedene Nationen kosten Tausende Tote und traumatisieren Menschen über Generationen hinweg. Konflikte, Armut und Ressourcenknappheit treiben Millionen von Menschen in die Flucht. Polizeigewalt gegen missliebige Menschen, Demonstrierende oder die Ausübung zivilen Ungehorsams führt zu Verletzten und manchmal sogar Toten. Die Wut der Menschen resultiert in immer heftigeren Ausschreitungen. In diversen Ländern wählen Menschen, ohne sich der Konsequenzen bewusst zu...