E-Book, Deutsch, Band 6528, 207 Seiten
Reihe: Beck Paperback
Wie Deutschland den wirtschaftlichen Abstieg verhindert
E-Book, Deutsch, Band 6528, 207 Seiten
Reihe: Beck Paperback
ISBN: 978-3-406-80774-9
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Wirtschaftsexperte Alexander Hagelüken analysiert, wie die Bundesrepublik in den letzten Jahrzehnten ins Abseits geriet. Um seinen Wohlstand zu retten, muss Deutschland wirtschaftspolitische Tabus brechen: bei den Finanzen und beim Klimaschutz, bei Industrieförderung und Digitalisierung, bei Welthandel, Zuwanderung, Rente und Gleichberechtigung. Hagelükens Buch ist ein dringend nötiger Weckruf, der zeigt, wie wir den wirtschaftlichen Abstieg noch verhindern können.
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2020er Jahre, Schock-Zeiten
Selten war so viel Katastrophe. Und selten so unerwartet. Die Deutschen hatten ja eine goldene Dekade erlebt. Volle zehn Jahre lang boomte die Wirtschaft, stiegen die Einkommen, lief das Leben für viele Menschen friedlich dahin. Dann bricht 2020 die Corona-Pandemie aus und rafft weltweit sieben Millionen Menschen hin, 2500 ?Mal so viel, wie jährlich auf deutschen Straßen sterben. Ein Jahrhundert nach der Spanischen Grippe kommen vergessen geglaubte Ängste hoch. Soziale Kontakte bergen auf einmal tödliches Risiko. Die Wirtschaft torkelt von Lockdowns zu Lieferkettenausfällen, was Wohlstand vernichtet und die Inflation hochzutreiben beginnt. Noch während die Deutschen den Corona-Schock hinter sich zu lassen suchen, überfällt Russland die Ukraine. Hunderttausende werden verletzt oder sterben. Der erste Flächenkrieg in Europa seit 1945 ist ein unfassbar trauriger Einschnitt in die Gegenwart. Auch in nicht betroffenen Nationen fragen sich die Menschen verängstigt: Kommt der Krieg auch in mein Land? Gleichzeitig deckt der Überfall schonungslos das Versagen auf, sich von Wladimir Putins Gas und Öl abhängig gemacht zu haben. 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg fragen sich Deutsche erstmals wieder, ob sie im Winter frieren werden. Die Energiepreise entfachen eine Hoch-Inflation von zeitweise zehn Prozent, die Millionen Bürgerinnen und Bürger finanziell bedrängt. Corona-Schock, Kriegs-Schock, Inflations-Schock, Energie-Not: Es sind wahrhaft Schock-Zeiten. Die 1920er Jahre waren in Deutschland eine Zeit, in der auf Weltkrieg und Spanische-Grippe-Pandemie eine Hyper-Inflation, wirtschaftlicher Abstieg und eine Weltwirtschaftskrise folgten, in der Adolf Hitler die junge Demokratie beseitigte. Die 2020er Jahre umfassen bisher neben Krieg und Corona-Pandemie samt weltweiter Wirtschaftskrise eine Hoch-Inflation – und wirtschaftlichen Abstieg, der an der Demokratie kratzt. Natürlich waren Inflation, Krise und alles andere vor 100 Jahren weitaus katastrophaler. Doch auch jetzt gibt es ernste ökonomische Schäden. Nachdem die Wirtschaft in der 2010er-Boomdekade um 20 Prozent gewachsen war, stagniert sie in den Jahren seither. Immer wieder hofften die Bürgerinnen und Bürger auf einen Aufschwung. Immer wieder wurde die Hoffnung enttäuscht, wegen neuer Lockdowns, Lieferproblemen, Inflation, Energienot. Die realen Löhne, also abzüglich der Inflation, sind seit 2020 um fünf Prozent geschrumpft. In der Boom-Dekade davor stiegen sie um zwölf Prozent. Diese lapidaren Prozentzahlen erzeugen riesige Wirkung. Durchschnittsverdiener haben jährlich 4000 Euro Gehalt weniger, als wenn der Boom angedauert hätte. Wegen der Hochinflation nahm mindestens jeder siebte Bürger Schulden auf. Ersparnisse von 30.000 Euro dezimiert die Teuerung wertmäßig auf 25.000 Euro. Das sind heftige Verluste, die sich die wohlstandsverwöhnten Deutschen nicht gefallen lassen wollen. Ihre Enttäuschung wird dadurch verstärkt, dass der Graben zwischen Arm und Reich zum Grand Canyon geworden ist. Die 50 reichsten Haushalte besitzen zusammen mehr als die Hälfte der Bevölkerung, also als 40 Millionen Menschen. Es breitet sich Misstrauen gegen etablierte Institutionen und Parteien aus, das Rechtspopulisten und Wahrheitsverdreher ausnutzen, um gegen die Demokratie zu agitieren. So folgenreich die Schock-2020er-Jahre schon waren: Das ist nur ein Teil der Probleme, die die Bundesrepublik hat. Mit diesem Buch möchte ich eine tiefere Gesamtanalyse versuchen und dabei auf die langfristigen Herausforderungen zuspitzen, statt seitenlang aufzuzählen, was in diesem Land zweifellos alles gut läuft. Das soll in aller Bescheidenheit zu einer Debatte beitragen, wie die Republik einer Spirale nach unten entgehen kann. Während die neue Mischung aus existenziellen und materiellen Ängsten noch bei den Menschen einsickert, wirken die Schocks fort und produzieren weitere Schäden. Im Corona-Schock rissen die nach dem Billigstprinzip konstruierten Lieferketten, so dass deutsche Fabriken auch künftig immer wieder stillstehen werden. Monatelange Schulschließungen rissen Bildungslücken, so dass Firmen Fähigkeiten und künftigen Arbeitnehmern Einkommen fehlen werden. Der Inflations-Schock infiziert virusartig Alltagsprodukte und saugt das Geld aus dem Portemonnaie. Der Energie-Schock treibt gut bezahlte Industrie-Jobs ins billigere Ausland. All diese Schocks laden den Bürger(inne)n für die 2020er Jahre einen Rucksack voll Blei auf. Die Politik muss gegen die multiplen Schock-Folgen ansteuern, sonst steigt Deutschland wirtschaftlich ab. Dabei sollte man sich von Parallelen zu den 1920er Jahren nicht irre machen lassen. Die Bundesrepublik ist nicht Weimar. Die Demokratie ist durch Umfragerekorde der AfD unter Druck, aber sie ist gefestigt. Und während der damalige Reichskanzler Heinrich Brüning die Weltwirtschaftskrise durch Sparen verschlimmerte, verhüten die heutigen Politiker in den aktuellen Krisen durch Ausgaben Schlimmeres. In der Pandemie beschafften sie, wenn auch verzögert, ausreichend Impfstoff und verhinderten durch Kurzarbeit Massenarbeitslosigkeit. Nach dem russischen Überfall beschafften sie alternatives Gas und verhinderten durch Entlastungen zwar keine Nöte, aber doch den finanziellen Kollaps vieler Bürger:innen. Nun jedoch müssen sie von der kurzfristigen Krisenabwehr auf die Abwehr langfristiger Krisenfolgen umschalten. Das ist schwieriger. Das kurzfristige Ersetzen von Putins Gas leuchtet jeder Wählerin und jedem Wähler ein. Keiner will frieren. Dauerhaft Staatsmilliarden zu investieren und Klagen gegen Windräder abzuschmettern leuchtet weniger ein. Doch genau das ist unverzichtbar. Nur erneuerbare Energien aus Wind, Sonne oder Wasserstoff vermeiden den nächsten Energieschock und das massenhafte Abwandern gut bezahlter Industriejobs. Sich dagegen von Gas aus Katar abhängig zu machen, um sich bei den Wählern anzubiedern, liefert das Land dem nächsten Autokraten aus und beschleunigt den Klimawandel, der den Planeten verwüstet. Um den weiteren wirtschaftlichen Abstieg aufzuhalten, muss die Politik noch mehr Krisenfolgen stoppen: Zusammen mit Tarifpartnern und Europäischer Zentralbank verhindern, dass sich die Hoch-Inflation in Preisen und Köpfen festsetzt. Corona-Verlierer in den Schulen fördern, weil sich sonst Arbeitslosigkeit und Fachkräftemangel verschärfen. Mit den Firmen neue Lieferketten aufbauen und die Produktion essenzieller Medikamente oder Chips nach Deutschland zurückholen, um die Gesundheit der Bürger zu schützen und Fabriken am Laufen zu halten. All das entschieden anzugehen, erfordert eine Menge Kraft und Mut. Die Ampel-Koalition geht einiges davon an. Doch ihre Streitigkeiten bei vielen Themen lassen einen zweifeln. Der wirtschaftliche Abstieg lässt sich jedoch nur aufhalten, wenn die Regierungspolitiker nicht gegeneinander intrigieren, sondern gemeinsam ideologische Barrieren wegräumen, die Deutschland lähmen. In die Energieversorgung eingreifen, statt sie marktliberal in Abhängigkeiten wie von Putin rutschen zu lassen. Massiv investieren, statt den Staat neoliberal kleinzusparen. Bildungslücken zentral schließen, statt sie dem kopflosen Nebeneinanderher der Bundesländer zu überlassen. Wer der Politik schon solche Anstrengungen nicht zutraut, dem muss um Deutschland wahrhaft bange sein. Denn hinter den aktuellen Schocks bauen sich Herausforderungen auf, die in der öffentlichen Debatte noch zu wenig Raum einnehmen. Werden sie nicht bewältigt, steigt die Bundesrepublik definitiv wirtschaftlich ab. Das beginnt mit Alterung und Kinderarmut, die in den nächsten Jahren einen Doppelschock aus Personalmangel und Rentenlöchern erzeugen. Weil die geburtenstarken Jahrgänge in Ruhestand gehen, müssen immer weniger Beschäftigte immer mehr Rentner finanzieren. Und den Firmen fehlen bald Millionen Arbeitskräfte. Maßgeblich dadurch sinkt das Wirtschaftswachstum, was weniger Einkommen für genauso viele Bürger bedeutet. Vom jährlichen Wachstum von drei Prozent von 1950 bis 2022 lässt sich nur träumen. In nächster Zeit droht das Wachstum auf 0,4 Prozent pro Jahr zu schrumpfen. Selbst wenn man das mit dem zuletzt geltenden langjährigen Durchschnitt von 1,3 Prozent vergleicht, ist das ein heftiger Abstieg. Über eine Dekade fehlen 350 Milliarden Euro Wirtschaftsleistung – also sehr viel Einkommen. Wer verzichtet? «Deutschland steht ein schwieriges Jahrzehnt bevor, das durch Verteilungskonflikte geprägt sein wird», prognostiziert Stefan Kooths vom Institut für Weltwirtschaft. Personalnot und Rentenlöcher sind nicht die einzige große Herausforderung. Noch gar nicht quantifizieren lässt sich, was es bedeutet, dass das deutsche Exportmodell wankt. Keine große Industrienation hängt auch nur...