E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Hagedorn / Löwe Stadt und Religion
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-451-82007-6
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wegzeichen zu einer postsäkularen Urbanität
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-451-82007-6
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ludger Hagedorn, geb. 1967, ist Permanent Fellow am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM). Studium der Philosophie und Slavistik an der Freien Universität Berlin, 2002 Dr. phil. (Technische Universität Berlin), von 2005 bis 2009 Purkyn?-Fellow der Tschechischen Akademie der Wissenschaften; Lehre u. a. an der Gutenberg-Universität Mainz, Södertörns Högskola (Stockholm), Karls-Universität Prag und der NYU Berlin. Patricia Löwe, geb. 1989, arbeitet als wissenschaftliche Referentin der Berliner Guardini Stiftung und ist nebenher als freie Autorin tätig. Studium der Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte und Religions-/Kulturwissenschaft in Berlin. 2019 Promotion zum Dr. phil. an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Dissertation zum Thema 'Die Erlösung des Cartesianischen Subjekts. Die Philosophie des Cogito als Ausdruck der Zerbrechlichkeit des Menschen'.
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Stadt und Religion. Wegzeichen einer postsäkularen Urbanität
Ludger Hagedorn
Einleitung
Religion ist zurück in den Städten. Vielleicht war sie nie verschwunden. Doch heute ist sie in einer Weise präsent, dass die lange für selbstverständlich gehaltene Gleichsetzung von moderner Urbanität und zunehmender Säkularisierung ins Wanken geraten ist. Diagnostizierte die Städteforschung schon vor 15 bis 20 Jahren einen starken Bedeutungszuwachs der Religionen vor allem in den Städten und Megacitys des globalen Südens, so erfahren heute auch die europäischen Metropolen vielfältige neue Einflüsse durch die Religionen. Nicht nur durch Migrationsbewegungen wird das Spannungsfeld von Religion und Urbanität vielschichtiger und widersprüchlicher, als es noch vor wenigen Jahren schien.
Der vorliegende Band versammelt Beiträge aus verschiedenen Disziplinen und Perspektiven, die sich mit dem Wechselverhältnis von Stadt und Religion befassen. Welche Bedeutung hat (haben) Religion(-en) heute noch – oder vielleicht wieder – für die Städte? Und wie wirkt das urbane Milieu zurück auf das Selbstverständnis und die Praxis von Religionen, die sich in den modernen Städten mit einer Vielfalt von Sinn- und Glaubensangeboten konfrontiert sehen?
Bereits in weniger als einer Generation werden wahrscheinlich 70 bis 80 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben. Die Vielfalt von Menschen und Gruppen mit verschiedenen sozialen, religiösen und kulturellen Hintergründen stellt neue Anforderungen an die urbanen Gemeinschaften und an die Gestaltung städtischer Räume und Architekturen. In den Metropolen dieser Welt, auch in den europäischen, lassen sich schon heute entscheidende Mentalitätsveränderungen feststellen in einem Umfeld, das neuerdings gern als »postsäkular« beschrieben wird. Religiöse Institutionen und Gemeinschaften wirken in vielfältiger Weise auf das urbane Leben und den städtischen Raum. Sie engagieren sich für das soziale Miteinander, organisieren neue Nachbarschaftsbeziehungen oder wirtschaftliche Netzwerke, sie wirken integrierend oder manchmal gerade im Gegenteil dissoziierend, und sie verändern die Städte auch architektonisch: Kirchenbauten erfahren Umwidmungen, Fabriketagen werden Gebetsräume, religiöse Neubauten entstehen, mit ihnen Gemeindezentren, Vorplätze und öffentliche Aktionsräume. Das Spannungsfeld von Religion und Urbanität ist vielfältig und betrifft eine ganze Reihe von entscheidenden Komponenten des Zusammenlebens in den Städten: sozial, ökonomisch, städtebaulich, im Ausleben von kulturellen und weltanschaulichen Spannungen oder deren Überwindung, in Fragen der Integration oder der Wahrung der Identität von Migrantinnen und Migranten, im Umgang mit Minderheiten sowie in der Kernfrage der religiösen Toleranz und der Unbedingtheit eines Glaubens, der weit in den urbanen Alltag hineingreift und seine Vereinbarkeit mit abweichenden Lebensmodellen zu erweisen hat.
Im Untertitel dieses Buches ist die Rede von den »Wegzeichen« einer postsäkularen Identität. Das ist zunächst ganz wörtlich gemeint: Wegzeichen sind Hinweisgeber, Andeutungen, sie zeigen an, ohne den Weg in allen Details zu erläutern. So können und sollen auch die Beiträge dieses Bandes nur Hinweisgeber, Andeutungen von größeren Zusammenhängen sein, Markierungen von gesellschaftlichen Veränderungen, die das Spannungsverhältnis von Religion und Urbanität betreffen. Wegzeichen können sogar irreführend sein, und insbesondere Wegzeichen, die zukünftige Prozesse andeuten sollen, sind nicht frei von Unwägbarkeiten. Dennoch geht es um etwas Grundsätzliches, um ein Plädoyer vielleicht, ein Plädoyer für die Aufweichung der lang gehegten Überzeugung, dass die Religionen vollständig aus dem urbanen Umfeld der Zukunft verschwinden werden (oder gar sollen?). Wäre es nicht angebrachter zu fragen, welche produktive Rolle die Religionen auch in den gegenwärtigen und zukünftigen Städten spielen werden, und sogar, welche spezifischen Funktionen des Zusammenlebens gerade die Religionen gestalten können? Diese Überlegung bildet die vielleicht grundlegende Hypothese des Bandes – ein Wegzeichen für postsäkulare Urbanität.
Zugleich ist dieser Titel aber selbst ein Hinweis, ein Hinweis auf die berühmten »Wegzeichen« (russ. Wechi), die 1909 in Russland erschienen und ein zentraler Bezugspunkt für die Debatten nach der fehlgeschlagenen Revolution von 1905 waren. Herausragende Intellektuelle dieser Zeit reflektierten darin über die ideologische Verblendung und die Politisierung einer Intelligenzija, die sich als revolutionär verstand, aber in ihrer moralistischen Attitüde zunehmend autoritär und intolerant wurde. Die »Wegzeichen« sind ein Zeugnis der kritischen Selbstreflexion und der Zurückhaltung im ideologischen Eifer. Ganz in diesem Sinne wäre vielleicht auch heute zu fragen, ob der wechselseitige Ausschluss eines siegreichen aufgeklärten Säkularismus und einer vermeintlich rückständigen Religion nicht zu kurz greift. Es sollte darum gehen, das Zusammenspiel von liberaler Ordnung und religiöser Orientierung neu zu gestalten. Und wie es scheint, sind es heute gerade die Städte, in denen sich möglicherweise neue Verbindungen und neue religiöse Formen ausbilden.
Entwicklung und Bestand einer Stadt sind stets Spiegel politischer und gesellschaftlicher Ereignisse. Über größere – Jahrhunderte währende – Zeiträume betrachtet, wachsen oder verfallen Städte. Die Architekturen, die ihr Gesicht prägen, werden dabei fortgebaut, umgebaut, erweitert, zuweilen zerstört und ersetzt. Erfüllen Gebäude bestimmte Kriterien, erfahren sie Umnutzungen und werden an neue, andere Bedürfnisse angepasst. Das hängt zusammen mit den – gerade in Städten – permanenten Prozessen des Zuzugs und Wegzugs der sie bewohnenden Menschen. In diese historische Perspektive sind auch Geschichten sich verändernder territorialer Zugehörigkeiten einzuschließen. Neue Machthaber, neue politische Systeme, ein anderer Glaube und damit andere Anschauungen über die Funktionen des Glaubens und das Image einer Stadt sind hierfür entscheidend.
Einen Stadtspaziergang durch das heutige Paris mit einem Reiseführer von 1896 in der Hand zu unternehmen, wie das etwa der niederländische Publizist Geert Maak tat, kann in dieser Hinsicht ebenso aufschlussreich sein, wie mit Rose Ausländers Erinnerungen dem ehemals so »buntschichtigen« Czernowitz zu begegnen. Heute sind es die Geschichten von Glaubensarchitekturen wie etwa der Hagia Sophia in Istanbul oder auch der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau, die große gesellschaftliche Aufmerksamkeit erfahren. Als symbolhafte Bauten erregen ihre Geschichten weltweites Interesse und kontroverse Debatten. Ähnliches gilt für die Präsenz von Minaretten in europäischen Städten. Doch auch jenseits dieser großen öffentlichen Diskurse um die Architektur gewordene Religion in den Städten besitzen religiös konnotierte Gebäude eine starke Symbolkraft. Selbst wo solche Architekturen nur einen kleinen Wirkkreis haben, in den städtischen Vierteln oder Kiezen, entbrennen teils heftige Kontroversen um die Umnutzung von Sakralbauten oder die Neuentstehung religiöser Orte.
Die Auseinandersetzung mit solchen Prozessen, auch im Kleinen und Lokalen, kann äußerst lehrreich sein und vermittelt grundlegende Erkenntnisse über das Funktionieren urbaner Lebenswelten. Gerade dieser Aspekt kam in dem mehr als dreijährigen Projekt, das der vorliegenden Publikation vorausging, ausführlich zur Geltung. Ermöglicht durch eine Förderung des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat (BMI) wurde das Projekt mithilfe der Berliner Guardini Stiftung realisiert. Einen wichtigen Pfeiler bildete dabei von Beginn an der Besuch von Orten des Glaubens in Berlin, einer Stadt, die den christlichen Kirchen lange als Hochburg des Atheismus erschien, die aber heute, auch bedingt durch demografische Veränderungen, Ort für eine enorme Vielfalt an Religionen und Konfessionen ist.
In sechs Staffeln von jeweils drei Exkursionen erkundete die Reihe »Ortsbekenntnis – Bekenntnisorte« das Interagieren von religiösen Gemeinschaften in Berlin mit dem sie umgebenden urbanen Umfeld. Wie stellen sie sich den Herausforderungen des Zusammenlebens mit anderen? Wie entwickelt sich religiöse Identität gerade im Umfeld der Städte? Was ist ihr Potenzial zur Veränderung der Stadtquartiere? Diese Fragen bestimmten den Besuch bei den verschiedenen Religionsgemeinschaften, die sich jede auf ihre Weise nicht nur den Bedürfnissen ihrer Gläubigen widmen müssen, sondern auch die städtische Umgebung mit in den Blick nehmen sollten. Manche Ansätze mögen sich als nicht tragfähig erweisen, andere wiederum zeigen, wie gerade Religionen zum Leben der Kieze beitragen können. Eine Art Synthese dieser Exkursionen anhand thematischer Kategorien wie Integration, soziales Engagement, Stadtplanung und interreligiöse Kompetenz liefert Patricia Löwe im nachfolgenden Beitrag. Ihr möchte ich als Projektleiter an dieser Stelle ausdrücklich und herzlich für die engagierte und kompetente Begleitung, für viele Ideen und zuverlässige Unterstützung danken. Gemeinsam umgesetzt haben wir nicht nur das aufwendige Exkursionsprogramm (die Flyer der einzelnen Reihen sind den Abbildungen beigegeben), sondern auch die Fachtagungen mit Vertreterinnen und Vertretern aus Stadtgeschichte, Theologie, Film- und Literaturwissenschaft, Soziologie und vielen anderen Disziplinen, die dem Grundthema »Stadt und Religion« seine vielfältigen Perspektiven gegeben haben, wie sie in den...