E-Book, Deutsch, Band 1, 496 Seiten
Reihe: Wikingersaga
Hagan Der Verrat des Wikingers
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-492-97497-4
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Historischer Roman
E-Book, Deutsch, Band 1, 496 Seiten
Reihe: Wikingersaga
ISBN: 978-3-492-97497-4
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ken Hagans Interesse an der Wikingerzeit wurde durch isländische Sagen und zahlreiche Besuche von Wikingergräbern in Norwegen und Schweden geweckt. Aber auch sein Familienname könnte dabei eine Rolle gespielt haben, denn der Name »Hagan« lässt sich vom altnordischen »Hakon« herleiten. Vor dem Schreiben seines ersten Buches hat Ken Hagan im Bereich Unternehmensführung gearbeitet und einige Zeit im Nahen Osten verbracht. Heute lebt er in Lancashire.
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Unsere sechs Schiffe ankern im Fjord, seetüchtige Handelsboote der neuesten Bauweise. Voller Stolz betrachte ich sie. »Die besten Knorren, die sie jemals gebaut haben«, sagt mein Bruder Einar, und der muss es wissen.
Sie liegen weit genug vom Ufer entfernt an den Landungsstegen, auch nach dem Beladen wird es keine Grundberührung geben; eingeritzte Zeichen zeigen den Tiefgang an, jetzt noch gut oberhalb der Wasserlinie. Der Rumpf wird tiefer im Wasser liegen, wenn unser Vieh erst einmal an Bord ist, und noch tiefer, wenn sich alle Männer, Frauen und Kinder auf dem Deck drängen. Die Schiffe werden mit voller Ladung ablegen; nichts, das auch nur den geringsten Wert hat, wird zurückgelassen. Denn niemand rechnet damit, dass wir jemals von unserer Reise zu den Eislanden zurückkehren.
Mein Blick bleibt an der Vigtýr hängen, dem Schiff unserer Familie. Sie liegt küstenwärts, ihr graues Segel ist bis auf den letzten Fuß tipptopp eingerollt und beschlagen. Vorn und achtern befinden sich Wasserfässer, dazwischen Heuballen, die auf See an das Vieh verfüttert werden. Ich weiß, dass sich unter den Deckplanken das kostbare Saatgut und Getreide verbirgt. Wir bewahren es in Wollsäcken auf und schützen es vor Wind und Wellen mit großen Abdeckplanen.
Es herrscht Ebbe, der steinige Strand liegt trocken. Kein nennenswerter Wind, nicht einmal eine Brise weht von den kahlen Berghängen herab. Unsere Männer haben genug, alle sind ungeduldig, sogar Vater runzelt die Stirn. Das ruhige Wetter muss enden, bevor wir auch nur daran denken können, das Vieh auf die Schiffe zu treiben. Wir beten zu unserem Schutzgott Thor, der auf seinem Amboss die Stürme hervorhämmert, und zu Njörðr, dem Gott über See und Winde, dass er uns einen kräftigen Ostwind schicken möge, der unsere Schiffe auf das Meer hinausträgt. Seit Wochen lagern wir zusammen mit den anderen Familien auf dem trockenen Kiesstrand des Fjords, unterhalb von Thwartdale, und haben nur die wichtigsten Gerätschaften zur Hand – weswegen vor allem meine Mutter seit Wochen nörgelt –, denn alle Töpfe und Kochutensilien wurden längst an Bord verstaut, damit wir jederzeit Segel setzen können.
Sobald sich das Wetter dreht, wird es schnell gehen müssen. Die Männer haben große Flöße gebaut, an den Enden mit Weidenruten verbunden, die als einfache Verladerampen dienen, wenn die Tiere auf die Schiffe getrieben werden. Die Rampe liegt flach im seichten Wasser und dümpelt träge in den Wellen.
Drei Familien warten auf Wind und Flut, mehr als fünfzig Leute, schätze ich, Kinder und Sklaven nicht mitgezählt. Dass eine so große Gruppe gemeinsam auf Fahrt geht, ist ungewöhnlich. Deshalb fragte ich Vater: »Pa, wir sind so viele – sind wir nicht schon ein richtiger Stamm?« Vater nahm sich Zeit für die Antwort. »Solche Dinge, mein Junge, hängen nicht von der Zahl ab. Familien können nur dann einen Stamm bilden, wenn sie durch Bluts- und Familienbande verbunden sind.«
Seither versuche ich herauszufinden, was Pa damit meinte. Unsere Familie ist irgendwie mit den beiden anderen Familien verbunden, die von Jarl dem Alten und Skar dem Grauen angeführt werden. Wir gehören zwar zu ihnen, aber wir haben doch das Gefühl, anders zu sein. Aber eigentlich ist es egal, ob wir nun so etwas wie ein Stamm sind oder nicht: Jeder kann sehen, dass sich die drei Familien gegenseitig helfen und füreinander da sind – die Jarlsons, die Skarsons und wir, die Thralsons. Und deshalb ist es fast so, als wären wir ein Stamm. Treibholz für die Strandfeuer wird geteilt, Fisch, Hartkäse, Sauerbutter oder gepökeltes Schweinefleisch werden großzügig getauscht.
Am Ufer ist das Getreide für das tägliche Brot ausgegangen. Vorgestern wurden die letzten Säcke Hafer und Gerste auf die Ruderboote geladen und zu den Schiffen gebracht, und schon vor einer Woche wurden Flachssamen, Linsen und Roggen verladen. Während der Fahrt werden wir kein Getreide verbrauchen und uns nur von Pökelfleisch und Trockenfisch ernähren. Das Getreide ist als Saatgut bestimmt, und zusammen mit dem Vieh ist es unser kostbarster Besitz, denn nach der Landung in den Eislanden wird es die Grundlage unseres neuen Lebens sein. Wenn alles so verläuft wie geplant, werden wir in fünfzehn Monaten unsere erste Roggenernte in den Eislanden einbringen.
Die Eislande – das Ziel unserer Fahrt ist uns völlig fremd, wir wissen fast nichts darüber, es ist ein unbekanntes Land, das wir erst nach wochenlanger Seefahrt erreichen werden. Doch wer würde bei dem Gedanken, was vor uns liegt, nicht dieses aufregende Kribbeln verspüren – der Aufbruch, die lange Seefahrt, die drohenden Gefahren, unter stolz geblähtem Segel immer weiter nach Westen?
Mir geht nicht aus dem Kopf, was Vater sagte – dass wir kein Stamm seien. Kann sein, dass das stimmt, aber die Umstände zwingen uns, einer zu sein. Alle, ob jung oder alt, sind voller Tatendrang. Unser gemeinsames Ziel bindet uns aneinander. Und das Starkbier macht uns mutig. Die Frauen haben uns mit ihren Braukünsten alle Ehre gemacht, denn das Beladen der Schiffe ist Schwerstarbeit und macht Durst.
Wir wandern nicht freiwillig aus. Die Oberhäupter der drei Familien wurden angeklagt, königliche Gesetze verletzt zu haben. Es ist streng verboten, in der Finnmark, dem königlichen Jagdrevier, zu jagen, denn der Handel mit Walrosselfenbein und Seehund- und Rentierfellen ist nun einmal nur dem König vorbehalten; für ihn ist es leicht verdientes Geld, mit dem er seine Kriegskasse auffüllt. Aber unsere Männer haben in der Finnmark gewildert und damit das Gesetz übertreten. Der König fällte ein Urteil, durch das wir jetzt gezwungen werden, in die Eislande auszuwandern.
»Wildern nennt er das!«, sagte Einar verächtlich, als er von dem Urteil erfuhr. »Wir haben uns doch nur ein paar Felle und Häute besorgt! Die Eisfahrer haben sie bereitwillig genug abgegeben!« Später zeigte der König ein wenig Nachsicht und machte den »Wilderern« – zu ihnen zählte er auch Vater, Skar und den alten Jarl – ein Angebot: Sie sollten eine »Spende« an die königliche Schatzkasse zahlen und sich außerdem verpflichten, ihm einen Teil der Beute abzutreten, die sie bei zukünftigen Raubzügen von den äußeren Inseln zurückbringen würden – gerade so, als sei Steuerzahlen besser als Auswandern.
Einige der Plünderer nahmen den königlichen »Gnadenerlass« an, aber unsere Väter sind stolze Männer: Sie weigerten sich. Lieber wollten sie ihr Glück fern von der Heimat suchen, als faul am heimischen Herd zu liegen und sich den Forderungen des Königs zu unterwerfen.
»He, Knirps«, sagt mein Vater an diesem Morgen – ich bin der jüngste seiner Söhne – »steig auf den Hügel. Siehst du den zerklüfteten Felsen über der Stelle, an der unsere Schafe grasen? Dort setzt du dich hin und hältst Ausschau – melde es mir sofort, sobald sich im Osten die erste graue Wolke zeigt. Hast du verstanden, Junge?«
Vater ist mager und sehnig, weshalb er größer wirkt, als er ist. Er erwartet keine Antwort, aber ich schaue ihm direkt in die Augen, damit er sieht, dass ich aufpasse. Und wie immer wartet er gerade lang genug, um zu sehen, dass ich den Befehl verstanden habe, bevor er weiterspricht.
»Sobald du eine Wolke heranziehen siehst, befiehlst du den Hirten, unsere Schafe zum Strand hinunterzutreiben. Ich will nicht, dass du dann noch weiter dort oben herumtrödelst, bis die Sklaven die Herde zusammengetrieben haben – du rennst ihnen voraus, sobald du irgendetwas Graues am Osthimmel siehst, Junge. Verstanden? Komm dann sofort zu mir.«
Ohne ein Wort renne ich davon, steige über die Geröllhalde am Fuß der Klippen zu den Hügeln hinauf, die über dem Fjord emporragen. Es ist schwer, über das lockere Geröll zu klettern, aber ich nehme den Aufstieg lieber von der kahlen Bergseite in Angriff, als durch das Tal hinaufzulaufen. Der Aufstieg ist hier natürlich höllisch steil und ermüdend, aber beim Abstieg kann ich den Steilhang dafür runterrutschen. Das wird eine tolle Sache, das Rutschen, aber schlecht für die Lederhose, und man kriegt einen heißen Hintern.
Die Sklaven, die unsere Schafe hüten, sind jünger als ich mit meinen zehn Jahren, und der Altersunterschied zeigt sich deutlich: Sie sind alle buckelig, krumm gewachsen, schmächtig und unterernährt, während ich groß und stark bin und schon in drei Sommern ein Mann sein werde.
Der größte Sklavenjunge heißt Bedwyr. Er grinst mich schüchtern an, während die anderen mich mit kaum hörbarem Grunzen begrüßen. Elgyr und Tarkyr sind bestimmt überrascht, mich hier oben zu sehen, aber das würden sie nie zugeben. Gaukyr – der Faulste von allen – tut so, als hätte er mit den Schafen furchtbar viel zu tun, die zwischen den Ginsterbüschen und den verkrüppelten Fichten grasen. Ich glaube, alle vier scheißen sich fast in die Hosen vor Angst, dass sie übers Meer zu den Eislanden fahren müssen. Vielleicht haben sie gerade darüber geredet, als ich kam.
Im Unterschied zu ihren Eltern wurden diese Jungen hier geboren. Sie sind an harte Arbeit gewöhnt: Sie schuften auf Acker und Weide, stechen Torf, heben Güllegruben aus, solches Zeug eben. Aber keiner von ihnen ist jemals aufs Meer hinausgefahren, nicht mal zum Fischen in einem Ruderboot, geschweige denn auf einem Schiff hinausgesegelt, während ich mit meinem Bruder Cormac schon oft bis zu den Häfen weiter unten an der Küste gefahren bin. Kein Wunder, dass sie schon bei der Vorstellung, auf einer seetüchtigen Knorr aufs Meer hinausfahren zu müssen, von Entsetzen gepackt werden.
Jedes Mal, wenn ich diese Burschen sehe, muss ich an meinen Vater denken. Denn wie sie wurde auch Vater als Sklave...