Nenn mich Krücke
Auf einmal war der Einbeinige vor ihm. Wie aus dem Boden gewachsen. Thomas folgte ihm, er konnte gar nicht anders. Der hüpfende, hastende Mann, der zwischen zwei Krücken hing, zog ihn wie ein Zauberer hinter sich her.
Er war gekleidet wie einer vom Zirkus. Genau genommen sah er verboten aus. Auf dem Kopf trug er eine zu kleine Schirmmütze. Die blaue Jacke hatte bestimmt einmal zu einem vornehmen Anzug gehört. Nur war sie dem Einbeinigen viel zu groß. Sie hing an ihm wie ein zu weiter Mantel. Die Uniformhose erinnerte daran, dass er Soldat gewesen war und es wohl nie mehr sein würde: Das linke Hosenbein war auf Kniehöhe abgeschnitten und franste aus. Ein großer Stoffbeutel, den er sich umgehängt hatte, schwang bei jedem Krückenschritt mit. Er war dick gefüllt.
Der muss einer von denen sein, dachte Thomas, die hamstern können, die wissen, wo es was gibt, Pferdewurst oder frisches Brot. Solchen Kerlen war er öfter begegnet. Meistens waren sie Einzelgänger, legten Wert darauf, für sich zu bleiben.
Vielleicht, ging es ihm durch den Kopf, vielleicht ist der anders.
Unversehens verschwand der Einbeinige, zwischen seinen Krücken schwingend, in einer Ruine. Thomas blieb erschrocken stehen. Womöglich hatte der Mann ihn bemerkt und wollte ihn nur loswerden. Dann entdeckte er in der Ferne, in einer Staubwolke, einen Jeep. Wahrscheinlich eine russische Streife. Und wusste, weswegen sich der Mann verkrümelt hatte. Er tat es ihm nach, kletterte über eine bröckelnde Mauer, ging in die Hocke, presste sich gegen den warmen Stein und wartete ab, bis sich der Motorenlärm entfernte.
Als es wieder still war, richtete er sich auf, lugte über die Mauer hinweg – der Einbeinige war bereits wieder unterwegs. Thomas hielt einen größeren Abstand als zuvor. Auf keinen Fall wollte er vorzeitig entdeckt und von dem Mann verscheucht werden. Es interessierte ihn, wohin es ihn so zielstrebig zog.
Die Sonne begann zu stechen, und es fiel ihm ein, wie er in dem Zug, den er Wagen für Wagen nach Mutter absuchte, gefroren hatte. Das war lange her.
Sie liefen nun durch Straßen, die von Bomben verschont geblieben waren. Menschen waren unterwegs. Eine Straßenbahn klingelte, trieb ihn zur Seite. Und dann endete die Stadt. Die Häuser wurden niedriger, schäbiger, lösten sich voneinander, standen nicht mehr eng in einer Zeile. Der Himmel weitete sich, und Thomas hatte das Gefühl, er atme leichter.
Vor ihm breitete sich eine merkwürdige Landschaft aus, eine Steppe, in der sich wie auf Inseln Bäume zusammendrängten, struppige Büsche vergeblich versuchten, sich zu Hecken zu vereinen, vereinzelt Häuschen oder Hütten standen. In dieser Steppe gab es Leben. Wo immer sich Menschen bewegten, zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit einem Leiterwagen, wirbelten Staubwölkchen auf. Sie wanderten, trieben auseinander, sammelten sich von neuem.
Der Einbeinige sang. Thomas verstand kein Wort, aber es musste ein vergnügtes Lied sein.
Sie liefen in die Weite hinein. Nach einer Weile schwang sich der Mann über einen schmalen Graben, hüpfte auf einen räderlosen, aufgebockten Bauwagen zu, öffnete dort eine Tür und verschwand.
Unentschlossen setzte sich Thomas auf einen Feldstein vor dem Graben. Es war ihm klar, dass er eine Grenze markierte, die er nicht ohne Erlaubnis überschreiten durfte.
Er wartete.
Der Mann machte sich im Wagen zu schaffen, öffnete den Laden der Fensterluke. – Plötzlich stand er in der Tür und schaute zu Thomas hinüber.
Thomas richtete sich auf. Er schaffte es, den Blick des Einbeinigen auszuhalten. Der Mann hatte den komischen Jackenmantel ausgezogen, auch das Hemd, wenn er überhaupt eines darunter anhatte. Das zerrissene Unterhemd hing um einen ausgemergelten Brustkorb.
Hau ab, sagte der Mann, ohne dass sich seine dünnen Lippen bewegten.
Thomas rührte sich nicht und schaute dem Mann in die Augen. Es waren tief in den Höhlen liegende braune Augen.
Hau ab, wiederholte der Mann und hob drohend die eine Krücke. Mach ’ne Mücke.
Was, fragte Thomas, was soll ich machen?
’ne Mücke, wiederholte der Mann. Wenn du es so besser verstehst: Verkrümele dich, verpiss dich, zieh Leine! Ist das klar?
Klar war ihm das schon. Aber er hatte keine Lust, wieder alleine herumzustreunen. Jeden Abend von Angst gebeutelt zu werden, keinen Unterschlupf zu finden, um ein Stück Brot, ein paar Löffel Suppe betteln zu müssen. Das reichte ihm. Er hatte auch den Eindruck, dass es der Einbeinige nicht so ernst meinte.
Thomas setzte sich wieder auf den Stein. Er ließ sein Gegenüber nicht aus den Augen, blieb auf dem Sprung.
Der Mann lehnte sich locker gegen den Türrahmen, griff in die Hosentasche, fischte Tabak und einen Fetzen Papier heraus, begann, sich eine Zigarette zu drehen. Mutter hatte das »wutzeln« genannt. Das Wort hatte ihm damals gefallen.
Soll ich dir Beine machen?, fragte der Mann. Mit der Zungenspitze fuhr er über den Papierrand und drückte die Zigarette zusammen. Er hatte mehr sich gefragt als Thomas.
Thomas entspannte sich. So wie es aussah, hatte er beinahe gewonnen. Nun musste er nur noch abwarten und jedes falsche Wort vermeiden.
Der Mann sah über ihn hinweg, als beobachte er in der Ferne irgendeine Bewegung. In seinem schmalen, knochigen Gesicht saßen die Schatten wie Wundmale.
Bist du allein?, fragte er, sog an der Zigarette und blies den Rauch aus der Nase.
Gleich kommt er ihm aus den Ohren raus, dachte Thomas. Dann antwortete er: Ja.
Hast du keine Eltern?
Mein Vater ist gefallen. Bei Woronesch, fügte er hinzu. So hatte es in der Zeitungsanzeige gestanden: Gefallen bei Woronesch.
Der Mann blies diesmal den Rauch zwischen den Zähnen durch. Woronesch, das kenne ich. War ziemlich beschissen. Nichts als Schlamm. Und deine Mutter?
Sie war plötzlich weg, als wir in Kolin miteinander auf den Zug gewartet haben. Ich hab sie nicht mehr gefunden. Und Wanda auch nicht. Hier in Wien.
Wer ist Wanda?
Meine Tante. Bei der wollten wir uns treffen, wenn wir uns mal aus den Augen verlieren. Aber das Haus steht nicht mehr.
Ja, sagte der Mann. Da ist eine Menge verschwunden.
Er schien über alle die Menschen und Häuser, die verschwunden waren, nachzugrübeln.
Ich darf bloß nichts Blödes sagen, dachte Thomas erleichtert, dann geht nichts mehr schief. Bestimmt nicht.
Er beobachtete, wie der Einbeinige, den Rücken gegen den Türrahmen gepresst, langsam in die Hocke ging und sich setzte.
Wie heißt du?
Thomas, antwortete er, Thomas Schramm.
Wie alt bist du?
Im August werde ich dreizehn.
Also bald, stellte der Mann fest. Es gelang ihm, die Kippe so weit zu schnipsen, dass sie zischend in den Wassergraben fiel.
Hast du Hunger?, fragte der Mann.
Ja.
Der Mann lachte, strich sich mit der Hand über das heile Bein. Das war schon eine blöde Frage. Er sah Thomas wieder an. Seine Augen wurden um eine Spur größer, trauriger, aber auch freundlicher.
Es hat keinen Sinn, dass wir uns belauern und bekriegen, was? Wir sind beide arm wie die Kirchenmäuse, obwohl ich noch nie eine arme Kirchenmaus gesehen habe. Das kommt davon, dass ich selten in Kirchen gehe.
Der Mann forderte ihn auf, über den Graben zu springen, doch da war Thomas schon drüber. Denn noch immer konnte der alles zurücknehmen. Dem wollte er zuvorkommen. Der Mann kniff die Augen zusammen, ließ ihn an sich vorbei, sagte: Geh mal rein in diese Villa. Auf dem Tisch liegt mein Sammel- und Vorratsbeutel. Pack das Brot aus, die Pferdewurst, hol aus dem Karton neben dem Öfchen Messer und Teller und deck uns den Tisch.
Thomas ließ sich das nicht zweimal sagen. Er erledigte alles ungeheuer schnell.
Fertig?, rief der Mann.
Klar, antwortete Thomas.
In dem Bauwagen gab es erstaunlich viel Platz. Alles Notwendige war vorhanden. Ein Tisch, zwei Stühle, ein Regal aus gestapelten Obstkisten, die mit Wäsche und Hemden voll gestopft waren. In einer Ecke lag ein Strohsack, auf dem der Einbeinige wohl schlief.
Hilf mir den Tisch hinaustragen, forderte der Mann ihn auf. Hier drinnen ist es zu stickig. Und die Stühle bring nach.
Sie saßen sich gegenüber. Der Mann schnitt die Wurst, das Brot, legte das Messer ab und sagte: Es ist besser, wir reden beim Essen nicht. Wir genießen jeden Bissen. Aber sobald wir fertig sind, muss ich dir was sagen.
Und das tat er dann auch: Ich muss dir was sagen. Du stinkst. Du stinkst wie ein Geißbock, wie eine Tonne Jauche, wie ein Biber. Du stinkst, mein Junge, nach Dreck, nach Schweiß, nach Kohlenfeuer, nach Kellerschimmel. Wann, frage ich dich, hast du zum letzten Mal deine Sachen ausgezogen und gewaschen?
Ich weiß nicht.
Er konnte sich tatsächlich nicht mehr erinnern, wann er sich richtig gewaschen hatte. Sicher, das Gesicht und die Hände schon, wenn sich die Gelegenheit ergab, an kleinen Wasserbecken in Hausgängen oder an Regentonnen.
Pass auf, sagte der Mann. Hinter unserer Villa gibt es eine Wasserpumpe. Und auf dem Öfchen steht ein Topf, den füllst du, doch nur drei viertel voll, sonst kracht der Ofen zusammen. Dann machst du mit Papier und Holz ein Feuer, und sobald das Wasser heiß ist, wäschst du dich. Deine Klamotten ziehst du aus und hängst sie hinten auf die Leine. Deine Unterhose solltest du am Ende auswaschen. Schmierseife gibt’s auch. Also los. Ich räume inzwischen ab.
Bei jedem anderen hätte Thomas aufbegehrt. Bei dem...