Hacker | Die Habenichtse | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Hacker Die Habenichtse

Roman
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-10-400939-1
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-10-400939-1
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis 2006 Isabelle und Jakob treffen sich am 11. September 2001 nach Jahren auf einer Party in Berlin wieder. Sie verlieben sich, heiraten und bekommen die Chance, nach London zu ziehen, wo Jakob - Schicksal? Zufall? - eine Stelle in einer Anwaltskanzlei antritt, die eigentlich für einen Kollegen vorgesehen war, der bei den Anschlägen auf das World Trade Center umgekommen ist. Isabelle arbeitet von dort aus weiter für ihre Berliner Grafikagentur und genießt, in den spannungsreichen Wochen vor Ausbruch des Kriegs im Irak, ihr Londoner Leben. Die beiden haben alles, was ein junges, erfolgreiches Paar braucht - und stehen doch mit leeren Händen da. Sehnsüchtig und ratlos sehen sie zu, wie ihr Leben aus den Fugen gerät. Jakob ist fasziniert von seinem Chef, Isabelle von Jim, dem Dealer. Die untergründigen Ströme von Liebe und Gewalt werden spürbar, und das Nachbarskind Sara wird ihr Opfer. Wie das Weltgeschehen ins eigene Leben eingreift, wie sehr dabei die Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen oder mitzufühlen, kollidiert mit der Sehnsucht nach existentiellen Erfahrungen, das erzählt Katharina Hacker meisterlich.

Katharina Hacker, geboren 1967 in Frankfurt am Main, lebt nach mehrjährigem Aufenthalt in Israel als freie Autorin mit ihrer Familie in Berlin und Brandenburg. 2006 erhielt sie den Deutschen Buchpreis für »Die Habenichtse«. 2015 erschien ihr Roman »Skip« und 2021 das Jugendbuch »Alles, was passieren wird«. Katharina Hacker wurde 2021 mit dem Droste-Preis der Stadt Meersburg ausgezeichnet. Zuletzt erschien ihr Roman »Die Gäste« (2022).
Hacker Die Habenichtse jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


2


Der Fernseher thronte auf einem niedrigen braunen Regal, über das Parkett flackerten die Schatten der in sich zusammenstürzenden Türme, der Menschen, die sich von den Fassaden lösten und in den Tod sprangen. Gläser und Teller für mindestens dreißig Gäste standen auf dem Eßtisch, aber die meisten waren nicht gekommen. Ginka hatte nachmittags drei Flaschen Gin gekauft und einen Kasten Schweppes, –für die, die etwas Stärkeres als Wein brauchen, sagte sie und zeigte auf Jakob, der zum ersten Mal eingeladen war. Am Morgen war er aus New York zurückgekommen, tags zuvor noch im World Trade Center gewesen, die anderen scharten sich um ihn wie um einen Überlebenden und stellten Fragen, die er nicht beantwortete; er war unkonzentriert. Isabelle verschwand in Ginkas Arbeitszimmer, um Alexa anzurufen, der Anrufbeantworter sprang an, und Isabelle fragte sich, wo Alexa und Clara diesen Abend verbrachten. Vor dem Fernseher war Isabelle fast in Tränen ausgebrochen, mit dem Telefon in der Hand, Alexas kurzer Ansage lauschend, fand sie es absurd, über Menschen zu weinen, die man nicht kannte, und unzählige andere Tote unbeweint zu lassen. Ein kleines, graues Sofa stand in Ginkas Büro, der Lederbezug war abgesessen, ein Kissen verrutscht, jemand hatte versucht, einen Fleck wegzureiben, eine längliche, helle Verfärbung verriet es. Sie setzte sich, schnürte nach kurzem Zögern die Schuhe auf, legte die Füße auf die Lehne, sie wollte die Augen schließen, nur für ein paar Minuten, als es klopfte und Jakob eintrat, er setzte sich umstandslos neben sie, ihre Füße berührten fast seinen Hals. Du erinnerst dich nicht, konstatierte er. Sie betrachtete ohne Neugierde das rotblonde Haar, die etwas zu weichen Gesichtszüge, die rundlichen Backen, die den Mund kleiner erscheinen ließen und durch die kräftige Nase und hohe Stirn ausgeglichen wurden, er sah gut aus oder jedenfalls angenehm. Sie erinnerte sich nicht. Auf einem alten, kleinen Tischchen mit dünnen Beinen stand ein Wasserglas mit drei verblühten Rosen, die Stengel hatten sich schon dunkel verfärbt, im schimmernden Wasser schwamm ein Blatt darin, wie vergrößert. Ginka rief etwas, rief nach ihr oder nach dem Mann, der vorsichtig ihre Hand faßte, in der seinen hielt, die ein wenig feucht war, und wartete. Freiburg, dachte Isabelle. Ungeachtet der zurückgelegten Kilometer, der Jahre und unzähligen Entscheidungen, Handgriffe, spie das Gedächtnis seine Erinnerungen aus, an die regennassen Baumstämme, kahl und dunkel in der Dämmerung, an das ausgedünnte Unterholz, wie zerzaust von einem Sturm, der doch so tief in den Wald nicht eingedrungen sein konnte, an den steilen Anstieg zum Bromberg hinauf, wo im Sommer unter Buchen Gras wuchs wie auf einer Lichtung, da die Bäume entfernt voneinander standen, als wollte keiner in seiner Ruhe gestört werden. Erstaunt sagte sie seinen Namen. Jakob. Sie erinnerte sich an den Spaziergang vor zehn Jahren, an den Wald, die Dämmerung und Nässe, an die Verwirrung, die sie nach Jakobs Hand hatte greifen lassen, obwohl sie wußte, daß sie zu ihrem Liebhaber zurückkehren würde, in ihr verwahrlostes und demütigendes Zusammenleben. Durch die halb geschlossene Tür fiel ein Lichtstreif genau auf die drei Rosen.

Jakob atmete ruhig ein und aus, ihr Gesicht war noch immer faltenlos, vielleicht war der Leberfleck eine Spur größer geworden, und ihr Hals schien weicher, er hätte ihn gerne geküßt. Ihre Augen erwiderten unbefangen seinen Blick, sie hatte sich damals im Wald gefürchtet und in sein schlecht geheiztes Studentenzimmer mitnehmen lassen. Er begriff, daß sie nicht auf ihn gewartet hatte.

Ginka trat in die Tür, auf ihren Stöckelschuhen und schmerzlich grimassierend. Als sie die beiden auf dem Sofa fand, brach sie in Gelächter aus und rief den anderen etwas zu, das niemand verstand.

Zu Hause versuchte Isabelle noch einmal vergeblich, Alexa zu erreichen. Der Fernseher lief, in einer perfekten, geraden Linie flog das Flugzeug auf den zweiten Turm zu.

Am nächsten Morgen war sie im Büro die erste. Sie schaltete den Computer ein, öffnete die Fenster, das Kopfsteinpflaster sah nach dem gestrigen Regen frisch aus, die Backsteinbögen der S-Bahn-Trasse wirkten dagegen glanzlos, als dämmerten sie ihrem Verfall entgegen. Auf Isabelles Schreibtisch lagen Entwürfe, die sie gestern ausgedruckt hatte, um sie Andras und Peter zu zeigen, es war nicht dazu gekommen, die Buchstaben der Firmeninhaber, Pannier & Tarnow, leuchteten blau, energisch unter dem Firmennamen: Hausordnung – Berliner Hausverwaltung. Sie mochte diese kleinen Aufträge, die den beiden Männern auf die Nerven gingen, Firmenschild, Broschüre, Briefpapier, Visitenkarten. Fertig. Kleinvieh, das auch Mist machte. Nur die Broschüre fehlte noch.

Um zwölf Uhr, Peter war endlich gekommen, ging sie in die Mittagspause. Sie lief zum Hackeschen Markt, der unbelebter war als sonst um diese Zeit, doch die Cafe´s und Restaurants hatten geöffnet, Touristen saßen darin, erkennbar unentschlossen, ob sie ihr Sightseeing-Programm fortsetzen sollten oder nicht. Überall die Zeitungen mit den Fotos. Isabelle ging, in einem halblangen und engen Rock, Turnschuhe an den Füßen, bis zur Oranienburger Straße – vor der Synagoge standen mehr Polizisten als gewöhnlich –, kehrte um, bog schließlich in die Rosenthaler Straße ein. Der Himmel war bedeckt, Straße und Schaufenster milchig, Passanten wie hinter einer dünnen Decke verborgen, als müßte man abwarten, sich vielleicht verstecken, und was sollte man denken, mit was für einem Gesicht herumlaufen? Isabelle stoppte vor einem Schuhgeschäft, um ihr Spiegelbild zu mustern, das keine Gefühlsregung zeigte. Sie nestelte das Gummi aus ihrem Haar. Hellbraune, mitteldicke Haare. Das Gesicht nur deshalb nicht durchschnittlich, weil es zu vollkommen war, ein ebenmäßiges, blasses Oval. Sie drückte ihre Nase nach rechts und nach links. Neben ihr stand, wie aus dem Erdboden gestampft, ein kleines Mädchen, äffte sie nach, dann grinste es Isabelle an und rannte los, in winzigen, pinkfarbenen Ballerinas. Isabelle warf einen Blick auf ihre Schuhe und trat in den Laden. Die Verkäuferin hob mißmutig den Kopf, schob die aufgeschlagene Zeitung vom Tresen, um sie achtlos zu Boden fallen zu lassen, unbekümmert um den weiteren Sturz derer, die auf dem Foto wie in der Luft festgefroren waren. Um acht Uhr, hatte Jakob gesagt, würde er sie im erwarten, und das Problem, dachte Isabelle, waren nicht die Schuhe, sondern wie man sich darin bewegte. Sie ließ sich ein Paar mit kleinen, halbmondförmigen Absätzen geben, lang und schmal zulaufend, in einem matten, ungleichmäßigen Schwarzbraun. Auf der Höhe des Spanns wurden sie rechts und links von einem schwarzen Gummi gehalten; klappernd auf dem dünnen, neuen Parkett, das schon verkratzt war, lief Isabelle vor dem Spiegel auf und ab, –ich habe heute abend ein , sagte sie, und … –Heute abend? vergewisserte sich die Verkäuferin, als hätte Isabelle eine Beerdigung angekündigt. Es war unsinnig, sich vorzustellen, daß wie in einem schlechten Film statt Jakob ihr Freiburger Liebhaber auftauchen könnte, den Geruch nach Heu in den Kleidern, der so wenig zu ihm paßte. Ebenso wie Jakob würde er sie sofort erkennen, weil sie sich kaum verändert hatte, seit sie zwanzig war, weil ihr Gesicht glatt blieb, unschuldig.

Weiter ging sie vor dem Spiegel auf und ab, den Blick auf ihre Füße gerichtet. Die Verkäuferin schaute zu, kreuzte ihre Beine in langen, engen Stoffhosen, spielte mit ihren Schuhen, hochhackig, rosa, mit einem goldenen Insekt statt einer Schnalle, zog eine Grimasse und schwieg. Sie hatte vergessen, Musik aufzulegen, aber welche Musik legte man an solch einem Tag auf? Und draußen die Autos, als führen sie langsamer als sonst. Durch die Schaufenster sah man ein Kind auf einem Fahrrad, die Mutter hielt den Gepäckträger fest. Jakob hatte keinen Zweifel daran gelassen, daß sie sich heute abend sehen würden, im , und dann weiter. Dann sehen wir weiter. Er hatte es nicht sagen müssen, hatte nicht mehr gelächelt, während Ginka kicherte und betont rücksichtsvoll die Türe zuzog. Tak-Tak die halbmondförmigen Absätze auf dem Parkett, Musik hätte jetzt geholfen, ein Rhythmus, ein sentimentales Lied, die Verkäuferin ging zum Tresen, beugte sich zu einer Stereoanlage hinunter, anmutig, aus der Hüfte heraus, die Beine gerade durchgedrückt, nur ihr kleiner Po streckte sich nach hinten, die Bluse rutschte hinauf, gab ein Stück Rücken frei, beinahe weiß, sehr schlank, darunter die leichte Schwellung, wo die Pobacken ansetzten, glatt und fest. –Sieht cool aus, wirklich, sagte die Verkäuferin gleichgültig.

Vormittags hatte Isabelle endlich Alexa erreicht, –ich bitte dich, was soll uns passiert sein, im Hintergrund Claras Lachen, –um was machst du dir Sorgen? Es hatte Isabelle einen Stich gegeben, wie jedesmal, nicht an erster Stelle zu stehen, nicht die erste Geige zu spielen bei Alexa, niemals, und warum auch –weil sie eine Wohnung geteilt hatten für zwei Jahre? Jakob aber würde sie heute abend erwarten, –ich warte auf dich, hatte er gesagt und war gegangen. Im ersten Berliner Jahr hatte Isabelle wie besessen Kleider gekauft, um den Heidelberger, den Freiburger Provinzmief loszuwerden, doch Hanna hatte sie ausgelacht. Alexa war zu Clara gezogen, und seither hortete Isabelle das Geld, als horte sie ihre Vergangenheit und ihre Zukunft, um in dem schmalen Spalt dazwischen unberührt zu bleiben, rührte das Geld, das ihre Eltern schickten, nicht an, zur freien Verfügung, wie ihr Vater jede Weihnachten und jeden Geburtstag schrieb. Isabelle schlüpfte aus den Schuhen, stand in schwarzen Nylonstrümpfen auf dem Parkettboden und nickte der Verkäuferin zu. 279...


Hacker, Katharina
Katharina Hacker, geboren 1967 in Frankfurt am Main, lebt nach mehrjährigem Aufenthalt in Israel als freie Autorin mit ihrer Familie in Berlin und Brandenburg. 2006 erhielt sie den Deutschen Buchpreis für 'Die Habenichtse', zuletzt erschienen der Roman 'Skip' (2015) und das Jugendbuch 'Alles, was passieren wird' (2021).

Katharina HackerKatharina Hacker, geboren 1967 in Frankfurt am Main, lebt nach mehrjährigem Aufenthalt in Israel als freie Autorin mit ihrer Familie in Berlin und Brandenburg. 2006 erhielt sie den Deutschen Buchpreis für 'Die Habenichtse', zuletzt erschienen der Roman 'Skip' (2015) und das Jugendbuch 'Alles, was passieren wird' (2021).



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.