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E-Book

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Hacke Nächte mit Bosch

18 unwahrscheinlich wahre Geschichten

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-88897-628-5
Verlag: Kunstmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Eines Tages, als ich allein in der Kneipe stand, zupfte mich ein riesiges graugrünes Monster am Ärmel und sagte: Hey, willste nich mal ein Buch schreiben? Ich hab nix mehr zu lesen!'
Zum Glück hat Axel Hacke auf das Monster gehört. Und deshalb wissen wir jetzt, wie man sich den Abend vertreiben kann: 'Nachts, wenn ich einsam bin, setze ich mich gern ein wenig in die Küche und unterhalte mich mit dem Kühlschrank. Ich schätze diese Gespräche. Der gute alte Kerl, er heißt übrigens Bosch, hat immer was zu trinken da, und sein Verstand analysiert die Dinge auch zu dieser Stunde eiskalt.'
Aber man erfährt auch die wahre Geschichte über das traurige Leben des Schriftstellers Gehret und seine fantastische Sprachbesessenheit. Das Wahre ist, bei Tageslicht betrachtet, genauso unwahrscheinlich wie das Unwahrscheinliche wahr. Ob erlebt oder erfunden, wer möchte das bei diesen liebevoll-ironischen, dabei sehr genauen Beobachtungen eines skurrilen Alltags noch entscheiden.
'Hinreißende Ideen und Einfälle bringen eine Unterhaltung von größtem Seltenheitswert in den deutschen Literaturbetrieb: filmreife Slapsticks.' Brigitte.
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STERBEN VOR PRIMA KULISSE
DER TOD KOMMT UNAUFFÄLLIG in die Crellestraße; manchmal bemerkt man ihn nur, wenn er wieder einmal vergessen hat, das Licht auszumachen. Wer weiß denn genau, wie lange Gehrets Leiche damals schon in seiner Küche gelegen hatte, als dem Hausmeister eines Tages auffiel, dass hinter dem Fenster da oben im vierten Stock schon seit Tagen die Lampe nicht mehr ausgeknipst worden war? Die alte Frau in der zweiten Etage erinnert sich nicht einmal mehr, dass Gehret hier je gewohnt hat. Aber dass es keinen Hauswart mehr gibt, weiß sie und faucht es durch den Türspalt hinaus ins Treppenhaus. Bevor sie die Tür schließt, ruft sie noch: »Wir müssen alle raus!« Ja, die Crellestraße wird saniert. Auf der Straßenseite gegenüber haben die Häuser schon wieder Farbe. Das Trottoir ist frisch gebügelt, und gusseiserne Pfeiler, Zaunpfähle Altberliner Gemütlichkeit, begrenzen den Gehweg. Um die Ecke bietet der Hundesalon preisgünstig »Fleischschlund, Schlund mit Knorpel, Gurgel, Pansen, Fleck« an. Die Tasse Frucht- und Getreidekaffee bei Mangold-Naturkost kostet 1,20 Mark, und gleich nebenan annonciert der Wirt von »Schultheiß Zur Tankstelle« ein Eisbeinessen, pro Person 15 Mark, »plus ein Freigetränk«, aber nur, wenn man eine Woche vorher bezahlt. Das Haus Nummer 17, in dem Gehret 1986 tot gefunden wurde, hat sich nicht verändert. Neben den Zetteln, mit denen auf die ausgelegten Rattenköder hingewiesen wird, hängen aber schon Einladungen der SPD zur Diskussion über »Sozialdemokratische Erfolge und Perspektiven für das Sanierungsgebiet Crellestraße«. Die Hausfassade ist von Putzresten bedeckt wie von Blatternnarben. Unten im Eingang hat jemand das Wort »Mistschwein« in die Farbreste geritzt. Gleich hinter dem Haus beginnt die Berliner Steppe: Sand, Teppichreste, Kaffeefilter, alte Antennen, leere Apfelsaftgetränkekartons, rostige Lampen. An der Brandmauer des Nachbarhauses steht »Angesichts der Vergänglichkeit«. Hier fällt der Tod nicht auf, oder doch, manchmal doch. Per Aushang kündigt die bibo tv und film productions GmbH einige Zwischenfälle an. Man drehe einen Film, heißt es: Ein Mann solle verhaftet werden, flüchte aber und werde erschossen. »Die Aufnahmen werden mit einigem Lichtaufwand (Nacht) und einer gewissen Lärmbelästigung (Schüsse) verbunden sein.« Man bittet um Verständnis, die Genehmigung liege vor. Prima Kulisse fürs Sterben! Bronxberlin, Pudelberlin, Rentnerberlin, Müsliberlin, Türkenberlin, Berlin-Schöneberg – Gehretberlin. Diesen Gehret fand man am 24. April 1986. Man fand neben der Küche ein Zimmer mit einem von Zetteln, Zeitungen, Büchern, Aufzeichnungen übersäten, blutigen und schmutzigen Bett, daneben einen Eimer mit Erbrochenem. Man fand ein weiteres Zimmer, in dem sich unter anderem befanden: 14 Aktenordner mit mehreren Tausend kurzen, jeweils vier bis acht handgeschriebenen Seiten umfassenden, bizarr-surrealistischen Texten; ebenso viele ganz ähnliche, aber auf Tonbandkassetten gesprochene Werke; etliche Hundert Seiten Kurzgeschichten; ein Tagebuch über 24 Jahre in 30 Kladden; 40 Ordner mit Sprachstudien, dem kindischgenialen Versuch der Entwicklung einer eigenen Sprache, einer eigenen Schrift sowie einem Sortiment selbst gebastelter Stempel, die ihrerseits mit jeweils eigenen Wortbedeutungen versehen waren. Die Geschichte des Reinhard Gehret verdichtet sich in zwei Fluchtversuchen vor dem Kleinbürgerleben in einer fränkischen Kleinstadt und vor dem drakonischen, jähzornigen Regiment des Vaters, Metzger dortselbst. Es ist die Geschichte vom Scheitern dieser beiden Versuche, von ein paar glücklichen Jahren dazwischen, vom verzweifelten Willen eines Menschen zur Unabhängigkeit und vom Preis, den er dafür zahlte. Und vom Entstehen einiger ziemlich guter Texte. Reinhard Gehret, geboren am 14. Juni 1949, gestorben im April 1986, unternimmt bereits mit 17 Jahren einen Selbstmordversuch, der keineswegs als Hilferuf inszeniert ist, sondern seinem Willen entspricht, endgültig Schluss zu machen: Gehret schießt sich mit einem Bolzenschussgerät, das normalerweise zur Tötung von Vieh verwendet wird, in den Kopf. Er überlebt, weil das Projektil zwischen beiden Hirnhälften hindurchgeht und die Ärzte eine Meisterleistung vollbringen, ist aber fortan schwer zuckerkrank, verliert den Geruchssinn und kann auf dem rechten Auge fast nichts mehr sehen. Unübersehbar ist für immer an diesem Auge die vom Einschuss herrührende Narbe. Später wird Gehret sagen, er habe keinen anderen Weg des Entkommens mehr gesehen. Nun findet er ihn. Nach monatelangem Krankenhausaufenthalt beginnt er sich als Hilfsarbeiter durchzuschlagen, zunächst im Würzburger Hafen, dann in einer Druckerei. Mit 18, das war 1968, packt er die Koffer und fährt nach Berlin, holt dort das Abitur nach, nimmt dann ein Linguistikstudium auf. Zu Hause lässt er zunächst einfach wissen, man solle ihn als gestorben betrachten. Bald bricht er auch sein Studium ab. Geld verdient er wieder als Hilfsarbeiter, die letzten zehn Jahre vier Stunden pro Tag in einer Kreuzberger Druckerei. Gehret versucht, mit einem Minimum an Geld auszukommen. Einmal notiert er stolz, dass ihm diesmal zehn Mark pro Woche gereicht hätten. Äußerlich wird er zu einem Stadtschrat mit langem, zotteligem Bart, den er gelegentlich wie einen Pferdeschwanz zusammenbindet, mit filzigen Pullovern und Hosen, die er in Altkleidersammlungen aufstöbert. Wenn es kalt wird, rollt er einen alten Teppich um den Leib. In seiner Wohnung friert regelmäßig das Wasser ein. Wenn Gehret heizt, verbrennt er im Ofen Holzabfälle, die er auf der Straße oder im Bauschutt gefunden hat. Neben dem Ofen hängt stets eine große Säge. Mit einem alten Fahrrad, das er aus Angst vor Dieben Abend für Abend über steile Treppen in seine Wohnung schleppt, bewegt er sich fort; die Berliner Verkehrsgesellschaft boykottiert er aus finanziellen Gründen. Dabei ist Gehret ein liebenswürdiger Mensch von philosophischer Freundlichkeit, der durch intensive Zuwendung und Zuhören die abstoßende Wirkung seines Äußeren meist nach wenigen Sätzen ins Gegenteil verkehrt. Seine Unabhängigkeit aber lässt er nicht antasten. Als seine sonst über alles geliebte Schwester, Zahnärztin in Dillingen, ihm den Kauf einer Eigentumswohnung in Berlin anbietet, droht er mit dem Abbruch der Kontakte. Jeden Pfennig (zum Schluss werden es mehrere Zehntausend Mark sein) legt er für die Realisierung seines Traums zurück: »Das Bild von einem eigenen (oder gemieteten) Haus im Süden: hell, luftig, mit weiß gekalkten Wänden und in der schönsten Ecke der Schreibtisch mit allen Utensilien. H. Hesses Montagnola kenne ich nicht; davon habe ich nicht einmal ein Foto gesehen. Aber ich stelle es mir ideal vor für meine Bedürfnisse.« So steht es im Tagebuch. Das Leben zu diesem Ziel ist drakonischer Systematik unterworfen. Als Diabetiker hat Gehret strenge Diät zu leben, gegen die der Körper immer wieder rebelliert. Jeder Krümel Knäckebrot wird in einem speziellen Tagebuch notiert, aber fast immer endet der Tag mit dem Selbstvorwurf, »gefressen« zu haben. Einmal schreibt er: »Der Diabetes ist eine objektive Unterdrückungsmaschine im Gegensatz zum Katholizismus. Wäre das was: Den Diabetes zum Gott zu machen für ein schönes, neurotisches Ritual? Beichten, wenn ich gefressen habe. Beschwörungen, dass die Regelmäßigkeit zwischen Dosis, Diät und Blutzuckerwert (das Orakel) erhalten bleibt?« Das steht auch in jenem minutiösen Tagebuch, für ihn »mein Kompass durch den Sumpf«, »meine einzige Rettung vor dem Sumpf«, mit dem er sich die »Depressionen vom Hals geschrieben« hat. Gehret schreibt besessen, zu jeder Tages- und Nachtzeit, immer nach der Uhr. Am Anfang und Ende jeder Seite wird die Zeit vermerkt, manchmal mitten im Wort: »viel – 15:10–leicht«. Vier bis neun Minuten benötigt er für ein Blatt in seinen Kladden. Gehret sammelt Material dafür, wo es geht, schneidet belanglose Gespräche auf einem Tonband mit, das er mal in einem Backofen, mal in der Tasche versteckt, sammelt noch weggeworfene Tonbänder auf, die er im Müll findet, spricht seine Halluzinationen während eines LSD-Rausches ins Mikrofon, spielt mit Zuständen von Über- und Unterzucker, um die Bewusstseinszustände dabei zu protokollieren, liest Berge von Zeitungen und Büchern. Er saugt Leben auf und sondert es in neuer Form wieder ab – wie in Trance. Gehret schreibt surrealistische Texte, die er selbst »Fölmene« nennt. Er geht mit dem Rekorder in der Hand durch die Straßen und diktiert mit fränkischem Akzent und leicht anstoßender Zunge, beinahe atemlos keuchend, weitere Texte, die er als »Dikdale« bezeichnet. Absurde Geschichten sind das, von Tanzlehrerministerien und Belobigungsbüros, Texte, die wimmeln von Schwarzwurzeltänzerinnen und Maikäferlikör, von Greisbrei und Darmgeschmeide. Ein Schlaflied ist auch dabei: Ich habe die Decke über mich gezogen & die Augenlider. Und ich warte ein wenig bis die Wörter kommen Buchstabenbilder mit...


Axel Hacke lebt als Schriftsteller und Kolumnist in München. Er gehört zu den bekanntesten Autoren Deutschlands, seine zahlreichen Bücher sind in 16 Sprachen übersetzt. Bei Kunstmann erschienen alle seine Werke, zuletzt das Hörbuch 'Wofür stehst du?' (zusammen mit Giovanni di Lorenzo).


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