E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Hacke Aua!
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7558-1059-9
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Geschichte meines Körpers
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-7558-1059-9
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
AXEL HACKE lebt als Schriftsteller und Kolumnist des Süddeutsche Zeitung Magazins in München. Er gehört zu den bekanntesten Autoren Deutschlands, seine Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Für seine Arbeit wurde er u. a. mit dem Joseph-Roth-Preis, zwei Egon-Erwin-Kisch-Preisen, dem Theodor-Wolff-Preis und zuletzt dem Ben-Witter-Preis 2019 ausgezeichnet. Weitere Lebensläufe unter: www.axelhacke.de
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Haut
Ich betrachte die Haut meiner Hände. Sie sitzt nicht mehr so straff wie früher, auch sehe ich Flecken. Ist nichts Schlimmes, sagt der Hautprofessor zu mir. Wenn ich ihn frage, ob das Hautkrebs sei: Kann ich Ihnen wegmachen. Aber das Wegmachen verschieben wir auf den Herbst. Komischerweise gehe ich zum jährlichen Routinebesuch immer im Frühjahr. Bis zum Herbst habe ich mich mit den Flecken abgefunden. So bleibt meine Handhaut fleckig wie ein Tarnanzug.
Der Hautprofessor ist seit Jahrzehnten mein Stamm-Dermatologe. Ich schätze ihn über die Maßen, er redet nicht lange herum, weiß immer alles und sofort. Manchmal beantwortet er Fragen, bevor ich sie gestellt habe.
Sie haben eine gute Haut, sagt der Hochgeschwindigkeits-Hautarzt, und das macht mich stolz. So hoffe ich, dass meine gute Haut in Zusammenarbeit mit dem Arzt mich vor allem Malignen bewahren wird.
Ich habe auch eine Haut, die leicht braun wird. Ein Tag in der Sonne und ich sehe aus wie andere Leute nach drei Wochen im Süden.
Vielleicht sollte ich erwähnen, dass ich zu wenig Sonnencreme benutze. Der Arzt sagt, ich müsse mir, was die malignen Scheußlichkeiten angehe, wahrscheinlich nie Sorgen machen. Bei seinem Zusatz, wenn Sie eine 50er-Creme benutzen, bin ich gedanklich schon an der frischen Luft.
Wenn ich also mit meiner Frau am Meer bin oder an einem See, salbe ich mit Hingabe ihren Rücken. Das ist übrigens etwas, das ich im Leben erst lernen musste: mich mit Hingabe einem anderen Körper zu widmen, also vom eigenen Körper abzusehen und mich auf einen anderen Körper zu konzentrieren, den meiner Frau, wie gesagt.
Aber ich war ein guter Schüler. Ich befolgte alle Anweisungen, mehr auf die Schultern, heißt es ja immer. Ich lernte, keine Anweisungen mehr zu benötigen, und schließlich lernte ich, von mir selbst zu lernen, meinem eigenen Gefühl.
Aber bevor ich die Sonnencreme selbst benutzen könnte, habe ich schon was anderes zu tun. Sonnencreme langweilt mich, was meine eigene Haut angeht.
Warum?
Als Kinder wurden wir mütterlicherseits gemahnt, uns einzucremen. (Jedoch keineswegs so dringlich, wie Mütter das heute tun.) Wir taten es nie. Ein Sonnenbrand galt nicht als Todesbote, man hielt ihn für unvermeidlich. Ohne Sonnenbrand wirst du nicht braun, wurde gesagt. Fuhren wir an die Nordsee, galt entzündete Epidermis als unerlässliches Durchgangsstadium auf dem Weg zu Erholung und Bräune, was für identisch gehalten wurde. Wir wälzten uns nachts voller Schmerzen, die Haut ließ sich in Streifen vom Körper ziehen, rohes Fleisch wurde sichtbar. Das hörte nach Tagen auf.
Wenn wir uns eincremten, dann in der Regel erst, wenn wir einen Sonnenbrand hatten. Einmal las ich, die Haut merke sich jeden Sonnenbrand jahrzehntelang, und manchmal entstehe Hautkrebs als Folge solcher Schäden erst viel später. Das hat mich fürchterlich erschreckt. Aber nur kurz. Ich kann es eh nicht mehr ändern.
Ist die Haut nicht unser größtes Organ? Ja! Ich sollte sie besser behandeln.
Vielleicht muss ich erwähnen, dass ich Sonnenbaden hasse. Wenn andere sich im Schein der Strahlen aalen, eingehüllt in Ambre Solaire, Nivea, Tiroler Nussöl, Eucerin, Cetaphil und wie sie alle heißen, sitze ich mit Hemd im Schatten, mag die Hitze nicht und auch nicht das Herumliegen in einer sülzigen Panade aus Creme, Öl, Schweiß, Sand und Salz. Der Schatten ist mein Revier. Nasensonnenbrand habe ich trotzdem in jedem Frühsommer.
In den Niederlanden gibt es in vielen Gemeinden Gratis-Sonnenmilchspender, zonnebrandcrème, wie der Niederländer sagt, tegen de schadelijke gevolgen van de uv-straling. Auch bei der Fußballeuropameisterschaft 2024 standen Spender mit kostenloser Sonnenmilch in vielen deutschen Städten. Geht das weiter, werden bald unsere Offiziellen, die sich einst zu Beginn der Pandemie 2020 im Video langwierig ihre Hände wuschen, gefilmt, wie sie sich sorgfältig mit Sonnenmilch eincremen.
Jedenfalls ist es interessant, wie aus Vater im Verlauf meines Lebens Mutter Staat wurde, nicht wahr? Überall dieses um unsere Körper Besorgte. Kaum hat der April begonnen, warnt man uns vor den Gefahren des Sommers. Es scheint nichts mehr zu geben, das ungefährlich wäre, auch beim Licht sehen wir vor allem den Schatten. Juli und August sind voller Schrecken. Dann naht der triste Winter, ohne Sonne. Noch schlimmer als Sonne ist ja nur die Abwesenheit von Sonne.
Manchmal denke ich, was aus meiner Sonnenmilch-Aversion geworden wäre, hätte meine Mutter vor jedem Strandbesuch gerufen: Sonnenmilch gibt’s nicht! Wehe, du cremst dich ein! Wahrscheinlich würde ich mich heute einölen wie eine Dosensardine. Man entkommt seiner Kindheit nicht. Für meine Haut wäre es am besten, wenn an jeder Ecke staatliche Schilder vor Sonnenschutz warnten. Aber das kann man nicht verlangen.
Ich betrachte mich im Spiegel.
Da sind Falten, natürlich, sie stören mich nicht, von einigen am Hals mal abgesehen. Wissen Sie, was ich toll fände? Wenn ab und zu mal das Gesicht des jungen Mannes, der ich war, neben mir im Spiegel erschiene. Nur zum Vergleich. Es würde mich nicht traurig machen. Ich hadere nicht mit dem Älterwerden, wozu denn? Bedenke ich die Alternative, bin ich sogar froh.
Da sind auch Narben.
Die Naht rechts oben an der Stirn, die von einem Unfall herrührt, als ich vier Jahre alt war. Ein Motorroller hatte mich angefahren und die Haut aufgerissen.
In der Nähe des rechten Handgelenks ein schmaler Strich, der aussieht wie die Folge eines fehlgeschlagenen Suizidversuchs. Wir verbrachten als 17-, 18-, 19-Jährige ein Wochenende im Landhaus der Eltern eines Kameraden und waren dorthin unter anderem mit einem VW-Käfer gefahren. Am Nachmittag rasten wir mit dem Wagen durch den Wald, es gab Leute, die vorne auf der Kofferraumhaube saßen, ich stand auf der hinteren Stoßstange. Es war Wahnsinn, aber wir bejubelten unsere Freiheit. Der Fahrer war betrunken und ohnehin etwas irre, er donnerte im Rausch über die schmalen Waldwege. Ich konnte mich an einer Bodenwelle nicht mehr festhalten, rutschte langsam vom fahrenden Wagen ab und riss mir am Metall die Haut auf, gefährlich nahe an der Schlagader.
Über der Nase die Spur einer – wie soll ich sagen? Friedensverletzung? (Ich habe als Soldat keinen Krieg erlebt, also habe ich auch keine Kriegsverletzung.) Ich hatte mir jedenfalls als Richtschütze tief unten in einem Bundeswehrpanzer während eines Manövers im Gelände am Zielfernrohr den Schädel aufgeschlagen.
Am Ringfinger rechts ein Strich, auch aus Bundeswehrzeiten. Damals wollte ich eine Dose, in der sich ein Gasmaskenfilter befand, mit der Hand aufbiegen, als der Dosenöffner abgerissen war. Es blutete höllisch, ein Arzt musste ran.
Ich erinnere mich, dass an einer Wunde einmal überschießendes Gewebe entstanden war, eine dunkelrote Wucherung, die dann wieder verschwand. Wildes Fleisch nannte der Arzt das, ein Ausdruck, den ich nie mehr vergessen habe, weil er wie der Titel eines Pornos klingt.
Heiße Körper, wildes Fleisch.
Die Haut sei der Reisesack des Lebens, hat Robert Musil im Mann ohne Eigenschaften geschrieben, als er einen Mann auf dem Totenbett beschrieb. Ja, nun: Sack? Das klingt, als wären wir hineingefüllt in diese Haut wie Kohlen oder Mehl. Aber das stimmt nicht, wir sitzen bestens strukturiert in unseren Häuten.
Manchmal stelle ich mir vor, meine Haut wäre mir zu groß wie ein Pullover Größe 56. Ich würde sie nicht ausfüllen und müsste sie zurechtzupfen.
Ich habe eine gute, schon etwas ältere weiße Haut. Vor mehr als sechzig Jahren wäre nie jemand auf die Idee gekommen, diese Tatsache als eine zu betrachten, die mir im Leben Privilegien verschafft hätte. Heute ist das anders. Es ist noch dazu eine Männerhaut. Ich halte nichts davon, beleidigt zu sein, wenn man mich als alten weißen Mann bezeichnet. Es stimmt ja (wobei, na ja, alt …), auch wenn sich die Leute mal eine weniger abgegriffene Formulierung überlegen könnten. Hätte ich mein Leben mit einer dunklen Frauenhaut verbracht, wäre alles schwieriger gewesen. Aber dann wäre es auch nicht mein Leben gewesen.
Was soll ich machen? Ich versuche, mich als meiner Haut halbwegs würdig zu erweisen.
Haut ist (und war immer) von kaum zu überschätzender Relevanz für unser Leben. Sie wird gelesen und interpretiert, mit neuen Bedeutungen versehen. Ihre Farbe ist seltsamerweise wichtig, obwohl wir lernen sollten, sie als unwichtig zu sehen. Blässe galt im 19.?Jahrhundert als Zeichen derer, die sich der Mühsal körperlicher Arbeit nicht unterziehen mussten, später wiederum als etwas Ungesundes. Man schminkt sich und definiert die eigene Person über Tattoos. Ist Haut ein Text, der gelesen wird? Oder ist sie ein Bild, das jeder von sich selbst entwirft oder das die Natur von ihm entworfen hat? Und ist sie gerade deshalb in unserem Zeitalter der Bilder von größter Bedeutung?
Auf Youtube sah ich einen kleinen Film mit dem Moderator Ralph Caspers zum Thema Quantenphysik: Wo endet mein Körper? Anders gesagt: Wo genau ist die Grenze zwischen mir und allem anderen?
Interessanterweise ist die Frage nicht leicht zu beantworten.
Rückt man der Haut auf die Pelle, unserer Grenze zur Welt, sieht man, dass sie mit ihrer äußersten Schicht endet, der Hornschicht, und zwar bei deren äußersten Zellen, und zwar bei den Aminosäuren, aus denen diese Zellen bestehen, und zwar bei den Molekülen, aus denen wiederum diese Aminosäuren...