E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Haberl Der gekränkte Mann
22001. Auflage 2022
ISBN: 978-3-492-60054-5
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Verteidigung eines Auslaufmodells | Die Rolle des modernen Manns heute
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-492-60054-5
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Tobias Haberl, geboren 1975 im Bayerischen Wald, hat Literaturwissenschaften in Würzburg und Großbritannien studiert. Er schreibt für das Süddeutsche Zeitung Magazin. Sein letztes Buch Die große Entzauberung - Vom trügerischen Glück des heutigen Menschen wurde ein Bestseller. Er lebt in München.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Vorwort
Ich erinnere mich genau an den Moment, in dem ich beschloss, dieses Buch zu schreiben: Es war Oktober, draußen regnete es, ich nahm lächerlicherweise ein Honigschaumbad und blätterte im Spiegel, als ich in einem Interview mit Alice Schwarzer folgenden Satz las: »Rechtsradikale und Islamisten sind im Grunde gleich toxisch, es geht um den gekränkten Mann.«[1] Ich hielt inne, wurde nachdenklich, irgendwann ließ ich das Magazin über den Badewannenrand gleiten und verfiel in langes Grübeln: Der gekränkte Mann – irgendwas lösten diese drei Worte in mir aus.
Ich fühlte mich nicht gemeint, nicht direkt jedenfalls, schließlich bin ich weder rechtsradikal noch ein Islamist. Trotzdem spürte ich, dass in dem Satz eine tiefe Wahrheit steckt, weil sich vieles, was in unserer Gesellschaft gerade beschwerlich oder bedrohlich ist, damit erklären lässt, dass sich unsere Vorstellung von Männlichkeit gewandelt hat, ja dass Männlichkeit an sich immer öfter attackiert und verurteilt wird.
Ich bin sechsundvierzig. Kein alter Mann, aber auch kein junger mehr, der seine Jeans nach oben krempelt, damit man seine nackten Knöchel sehen kann. In den letzten Jahren stand man als mittelalter weißer Mann ganz schön unter Druck. Gerade hatte man sich damit abgefunden, dass einem Haare nur noch an Körperstellen wachsen, an denen gar keine sein sollten, schon musste man sich anhören, wie fragwürdig und toxisch man ist, im Grunde ein Auslaufmodell, ein Zivili-sationsirrtum, verantwortlich für jede Menge Unheil auf der Welt, denn ohne die Vorherrschaft der alten weißen Männer, das hört man ständig, wäre die Welt eine bessere, dann wären nicht Geld, Macht und Ichsucht unser Antrieb, sondern Empathie und Solidarität. Zu Beginn der Finanzkrise veröffentlichte das Süddeutsche Zeitung Magazin das Foto eines gewaltigen Büroturms, dazu die Überschrift: »Hochmut kommt vor dem Phall – Die Wirtschaftskrise ist vor allem eine Krise der Männer«, und dahinter in Klammern: »Im Ernst: Wäre Frauen der ganze Mist passiert?«
Okay, ich muss mich korrigieren, vielleicht bin ich doch gekränkt. Nicht so, dass ich weinen muss, aber immerhin arbeite ich an einem Buch, obwohl draußen der Sommer kommt. Vielleicht bin ich auch gar nicht selbst, sondern stellvertretend für andere Männer gekränkt, deren Lebensleistung ich kenne, die ich respektiere, bewundere oder liebe, zum Beispiel meinen Vater.
Auch ich finde, dass es jetzt mal reicht mit der Alleinherrschaft der weißen Männer, gleichzeitig geht mir die Aggressivität (und manchmal auch Heuchelei) der Gender-Debatte ziemlich auf die Nerven. Einerseits ist die Gleichstellung noch lange nicht erreicht, andererseits beobachte ich, wie ein teils dogmatischer Feminismus verunsicherte Männer nicht nur nicht überzeugt, sondern verschreckt, indem er sie als Mängelwesen diffamiert, die hoffentlich bald tot sind. Rational erkenne ich die Notwendigkeit einer Neuordnung, emotional kann ich mich nur schwer vom Bild des traditionellen und ja, wahrscheinlich auch fragwürdigen Mannes lösen.
Im Moment geht es vielen Männern so. Woher ich das weiß? Sie erzählen es mir. Die einen offen, die anderen hinter vorgehaltener Hand, im Flüsterton oder per E-Mail. Typen, die morgens mit der Lunchbox ins Büro radeln und abends Netflix schauen, Männer, die mit Helmut Kohl und der Schwarzwaldklinik, aber ohne Instagram aufgewachsen, die weltoffen und selbstkritisch sind, sich aber schon fragen, warum sie auf einmal »gebärender Elternteil« sagen sollen, wenn sie »Mutter« meinen.
Der Männlichkeit ist die Selbstverständlichkeit abhandengekommen. Das ist gut, weil sich gesellschaftliche Normen verschoben haben, das ist aber auch heikel, weil Millionen gekränkter Männer ein politisches Problem sind. Im Moment inszenieren sich die einen als Vorzeigefeministen, während sich andere resigniert durch die Kommentarspalten im Internet hassen. Ich kann mich mit keinem der beiden Lager identifizieren, weil ich Männer, die sich ihre Artigkeit wie eine Medaille um den Hals hängen, zu geschmeidig und Männer, die Feministinnen für »schlecht gefickt« halten, indiskutabel finde.
Ich bin irgendwas dazwischen: für gleiche Chancen, gleiche Rechte, gleiches Einkommen, aber gegen Gendersternchen, für mehr Frauen in Führungspositionen, aber gegen die reflexhafte Skandalisierung jedes nicht hundertprozentig besenreinen Satzes. Ich finde Sophie Passmann gut, aber Harald Martenstein auch, bewundere die Tennisspielerin Naomi Osaka, finde aber Frauenfußball langweilig, verehre die Schriftstellerin Sally Rooney und lese doch meistens Romane von weißen Männern, weil ich mich irgendwie mehr gemeint fühle. Es gibt Feministinnen, mit denen bin ich befreundet, andere respektiere ich, wieder andere empfinde ich als Zumutung. Ich bin fasziniert von Menschen, die weder Mann noch Frau sein können oder wollen, hänge aber an der Idee der traditionellen Familie, freue mich jetzt schon auf meine Elternzeit und spüre doch einen Stich, wenn ich Männer mit gepunkteten Socken sehe, die mit stillenden Müttern im Café »Schneewittchen« über Kitagebühren plaudern. Es ist tatsächlich so, dass ich im Bayerischen Wald, wo ich aufgewachsen bin, als fortschrittlich und in München, wo ich wohne, als konservativ wahrgenommen werde. Die einen sagen: Man merkt, dass du in der Stadt lebst. Die anderen: Man merkt, dass du vom Land kommst.
Es geht in diesem Buch um die Sehnsucht nach einer Männlichkeit, die sich nicht verleugnet, aber auch nicht anbiedert, denn natürlich möchte ich kein Typ von gestern, aber halt auch nicht dressiert und totalangepasst, nicht immer nur zeitgemäß und glatt geschliffen sein. Im Moment bin ich auf der Suche, weil die Idee von Männlichkeit, die mich ein Leben lang begleitet hat, nicht mehr gilt. Weil vieles, was früher okay war, problematisch und vieles, was lässig war, lächerlich geworden ist. Weil ich aufpassen muss, wie ich mich hinsetze (nicht zu breitbeinig!), wie ich spreche (geschlechtergerecht!), wie ich Witze mache (diskriminierungsfrei!), weil ich also erkannt habe, dass ich mich mit Mitte vierzig noch mal grundsätzlich hinterfragen muss.
Ich habe Freunden von diesem Buch erzählt. Einer hielt mich für lebensmüde, ein anderer für masochistisch. In den Tagen danach hatte ich ernste Motivationsprobleme. Irgendwann habe ich mich selbst gefragt, warum ich eigentlich für Männer in den Ring steige, von denen ich die meisten selbst peinlich finde, und warum ich mir das alles antue: böse E-Mails, fiese Shitstorms, geschockte Kollegen, enttäuschte Cousinen. Ich bin nämlich gar kein Alphamann, im Gegenteil: Ich finde Macht so langweilig wie Promi Big Brother, rede fast nur über Gefühle und fange nach den ersten Takten von Schuberts Winterreise zu heulen an. Am Ende habe ich nur eine Antwort gefunden: Bevor Björn Höcke oder Jan Böhmermann auf die Idee kommen, sich Gedanken über Männlichkeit zu machen, mache ich es lieber selbst, weil die Sache an den politischen Rändern ja klar ist: Der eine will den starken Mann zurück, dem anderen kann es nicht gendersensibel genug sein. Interessant aber ist es dazwischen, wo es widersprüchlich wird und sich meistens auch die Wahrheit versteckt.
Ich weiß, dass ich den Zeitgeist eher nicht auf meiner Seite habe: Bücher, die traditionelle Männlichkeit nicht nur verteufeln, stehen in der Buchhandlung irgendwo zwischen Kollegah und Thilo Sarrazin. Die Gefahr, dass ich in eine finstere Ecke geschoben werde, ist groß, ziemlich sicher werden mich einige absichtlich falsch verstehen. Außerdem hat man, wenn man sich in der Geschlechterdebatte auf keine Seite schlägt, am Ende meistens alle gegen sich. Aber wie sagte schon Stefan Zweig: »Jede Widerstandsgeste ohne Risiko ist nichts als Geltungssucht.«
Es gibt Menschen, die jeden Trend mitmachen, weil sie das Neue grundsätzlich interessanter als das Alte finden. Mich hat immer nur das Wahrhaftige interessiert, egal, ob es alt oder neu ist. Und wenn ich ehrlich bin, denke ich seit Jahren darüber nach, welche der vom Zeitgeist geforderten Verhaltens- und Sprachrevisionen nur sinnvoll erscheinen, weil sie neu sind, und welche, weil sie unsere Gesellschaft tatsächlich gerechter machen. Was ist gut, und was klingt nur gut – auf Twitter und in Talkshows? Was ist aufrichtig, was Effekthascherei? Was Ethik, was Heuchelei?
Ich bin seit Jahren elektrisiert von der Gender- und Identitätsdebatte, fühle mich ...