E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Haas Wackelkontakt
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-446-28361-9
Verlag: Hanser, Carl
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-446-28361-9
Verlag: Hanser, Carl
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Franz Escher wartet auf den Elektriker. Seine Steckdose hat einen Wackelkontakt. Um sich die Zeit zu vertreiben, liest er ein Buch über den Mafia-Kronzeugen Elio Russo. Elio sitzt im Gefängnis und wartet auf die Entlassung. Er hat so viele Leute verraten, dass er um sein Leben fürchtet. Aus Angst liegt er nachts wach und liest ein Buch. Es handelt von Franz Escher. Der wartet auf den Elektriker. Seine Steckdose hat einen Wackelkontakt.
Wolf Haas' neuer Roman zündet ein erzählerisches Feuerwerk: Was beginnt wie zwei halbwegs übersichtliche Lebensgeschichten, verwirbelt sich zu einem schwindelerregenden Tanz - mit einem toten Handwerker, familiären Verstrickungen und vielen ungelösten Geheimnissen, funkenschlagend und spannend bis zum finalen Kurzschluss.
Wolf Haas wurde 1960 in Maria Alm am Steinernen Meer geboren. Für sein Werk erhielt er u. a. den Bremer Literaturpreis, den Wilhelm-Raabe-Preis und den Jonathan-Swift-Preis. Er veröffentlichte die Romane Das Wetter vor 15 Jahren (2006), Verteidigung der Missionarsstellung (2012) und Junger Mann (2017) sowie neun Brenner-Krimis, zuletzt Müll (2022). Bei Hanser erschien zuletzt der Roman Eigentum (2023), der mit dem Erich Kästner Preis 2024 ausgezeichnet wurde. Wolf Haas lebt in Wien.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Das vierzehnjährige Mädchen, das nach einer Alarmanlage getauft war, versöhnte sich schnell mit ihrem Vater. Ala war so gerührt von seiner Zerknirschtheit, dass sie ihm nicht nur vergab, sondern sich ihrerseits zu einer Entschuldigung herabließ. Diese war zwar ehrlich gemeint, galt aber nur so lange, wie die Versöhnungsrührung anhielt. Immerhin war nach diesem Wutausbruch noch wesentlich klarer, dass er etwas vor ihr verbarg. Die Heftigkeit seiner Reaktion sprach Bände. Er musste ein Geheimnis haben.
Da Ala in einem Alter war, in dem man noch nicht alle moralischen Fragen resigniert zur Seite geschoben hat, dachte sie so lange darüber nach, ob sie ein Recht hatte, im Leben ihres Vaters herumzuschnüffeln, bis das richtige Ergebnis herauskam: »Hundertpro! Es ist mein gutes Recht!« Schließlich ging es auch um ihre eigene Geschichte. Und jeder Mensch hat ein Recht, diese zu kennen. Ihre Wut darüber, dass man sie für blöd verkaufte, war jetzt noch größer als zuvor, und sie war wild entschlossen, die Wahrheit herauszufinden.
Außerdem durfte sie ihren Lehrer nicht enttäuschen. Während sie das über Nacht erwachte Interesse ihrer Mitschüler an ihr unendlich nervte, wollte sie dem Geschichtslehrer gefallen. Was Ala nicht wissen konnte: Die nervende Zuwendung ihrer männlichen Mitschüler beruhte ausgerechnet auf jenem Erbe (Augen von Großmutter Gianna, Figur von Tante Petronilla), das sie gerade zu ergründen versuchte. Die Haare aber und die Unerschrockenheit und die forsche Entschlossenheit, mit deren Hilfe sie sich auf die Suche nach den Vorfahren ihres Vaters machte, hatte sie von ihrer Mutter.
Sie loggte sich auf FAMILYTREE ein, einer jener Plattformen, die ihr Geschäft mit dem immer beliebter werdenden Hobby der Stammbaumforschung machten. FAMILYTREE versprach, verschollene Verwandte aufzustöbern oder komplett unbekannte Vorfahren zu finden. Man konnte sich in Chats mit gleichnamigen Menschen in fremden Ländern unterhalten, man konnte Suchinserate schalten, Fotos seiner Familie hochladen und Informationen über einzelne Familienmitglieder mit der ganzen Welt teilen.
Und neuerdings brüstete FAMILYTREE sich mit einer revolutionären Methode. Wer seine eigene DNA zur Verfügung stellte, konnte Verwandte mithilfe der in einem Höllentempo anwachsenden DNA-Datenbank von FAMILYTREE finden. Das war allerdings mit hohen Kosten verbunden, die Ala sich nicht leisten konnte. Wenn es sein musste, würde sie das Geld schon auftreiben, aber sie beschloss, es Schritt für Schritt anzugehen. Sie schaute sich die Sache einmal in Ruhe an. Eine Fähigkeit, die sie von ihrem Vater geerbt hatte.
Fotos waren für den Anfang das Einfachste. Ala begann mit ihrem Lieblingsfoto, das ihre Mutter gemacht hatte, als sie ihn erst eine Woche kannte. Auf einem uralten Fahrrad sitzt ihr Vater und blickt nach hinten, von wo die Kamera sein schüchternes Lachen einfängt. Auf die Rückseite des Papierfotos hatte ihre Mutter mit Bleistift geschrieben: Peugeot-Fahrrad (53) klapprig, Mann (25) frisch, Fotografin (21) verliebt.
Ala scannte das Bild ein und lud es hoch. »Wer kennt diesen Mann?«, schrieb sie als Überschrift in das dafür vorgesehene Feld. Und im Kleingedruckten erklärte sie: »Das ist mein Vater. Er ist 1982 geboren. Er sucht Kontakt zu seinen Verwandten. Es ist unbekannt, aus welchem Land er stammt. Wahrscheinlich Europa.«
Durch das Programm von FAMILYTREE würde der Text automatisch in der Sprache der User erscheinen, die Alas Seite anklickten.
Eine Woche lang passierte nichts. Dann erhielt Ala eine Nachricht. Beim Anklicken öffnete sich ein Fenster:
»Du hast eine Nachricht. Mit einem Upgrade auf FAMILYTREEGROWFASTER, kannst du die Nachricht lesen und beantworten.«
Das Upgrade kostete € 9,90 pro Monat oder € 79,90 pro Jahr. Ala investierte die zehn Euro und stellte zur Refinanzierung den grünen Armreif, dessen Verschluss ohnehin nicht richtig hielt, auf ihre -Seite. Sie verlangte dafür fünfzig Euro, war aber bereit, auf dreißig hinunterzugehen. Noch bevor das Bild von ihrem Armreif online war, hatte sich die Nachricht auf der FAMILYTREE-Seite schon geöffnet. Absender: Carlotta Esposito.
Ala konnte es nicht glauben. Immer wieder musste sie lesen, was diese Italienerin ihr schrieb. Sie überlegte, ob sie ihren Vater in der Arbeit anrufen sollte, denn es war unerträglich, bis zum Abend zu warten. Zum Glück wollte jemand sofort ihren Armreif kaufen. Der Käufer hatte es eilig, weil er ein Geschenk brauchte, und zahlte sogar den vollen Preis. Mit dieser Ablenkung war es leichter für Ala, die Zeit bis zum Abend herumzubringen.
»Kennst du eine Carlotta Esposito?«
Hüpfend vor Aufregung empfing sie ihren Vater mit dieser Frage, als er endlich heimkam. Es war der letzte Satz, den Marko Steiner in diesem Leben von seiner geliebten Tochter hörte. Der Schlag in Alas Gesicht war von einer schockierenden Heftigkeit. Seine Frau, die den Schlag ins Gesicht ihrer Tochter mit ansah, brüllte ihn fassungslos an. Sie verwendete dabei ein Wort, das er noch nie von ihr gehört hatte. Ein Wort, das klang, als hätte die Hölle sich geöffnet.
Ala sagte gar nichts und blieb schockiert vor ihrem Vater stehen. Sie baute sich vor ihm auf wie ein Straßenschläger, der den schweren Fehler des unterlegenen Gegenübers genoss. Als wollte sie ihn provozieren, es noch einmal zu machen. Als hielte sie ihm auch die andere Backe hin. Als würde sie ihn dazu verfluchen, diesen Blick seiner Tochter nie wieder zu vergessen. Als warte sie nur noch eine Sekunde, bis er das in seinem Rücken steckende Messer spürte. Die Ruhe seiner Tochter erschreckte Marko zu Tode.
Noch ruhiger als Alas starres Dastehen war nur die Stimme seiner Frau: »Verschwinde, oder ich rufe die Polizei!«
Und Marko Steiner tat, was seine Frau von ihm verlangte. Ohne Versuch, etwas zu erklären und zu beschönigen, verließ er die Wohnung.
Zum ersten Mal in seinem ganzen Leben betrank er sich bis zur Besinnungslosigkeit. Er legte sich auf eine Parkbank und wunderte sich in der Morgendämmerung, dass er tatsächlich eingeschlafen war. Bei McDonald’s trank er einen Kaffee, wusch sich im WC das Gesicht und ging zur Arbeit. Keinem fiel was auf.
Als er am Abend nach Hause kam, war die Tochter verschwunden. Seine Frau hatte schon alle Freundinnen durchtelefoniert, aber niemand wusste, wo Ala war. Marko Steiner musste feststellen, dass seine vierzehnjährige Tochter das ganze Geld aus seiner Bargeldlade mitgenommen hatte. Er hasste es, mit Karte zu zahlen und predigte stets: Damit hinterlässt man zu viele Spuren. Noch nie hatte seine Tochter etwas gestohlen, aber jetzt war sie mit mehr als siebenhundert Euro durchgebrannt. Sonst hatte sie nichts mitgenommen. Nur das Geld und das Buch aus der Schublade ihres Vaters.
Marko und Gabi hatten keine Ahnung, dass ihre Tochter schon seit Stunden im Zug nach Neapel saß. Ala wusste jetzt, wo sie mehr über ihren Vater herausfinden konnte. Die Nachrichten von ihren Eltern ignorierte sie. Ihr Vater hatte schon hunderttausend Entschuldigungen geschickt. Aber sie spürte, dass er immer noch nicht die Wahrheit sagte. Väter sagten einem nie die Wahrheit.
Die Einzige, mit der sie während der Zugfahrt kommunizierte, war seine Cousine. Carlotta Esposito. Anfangs hatte Ala Carlottas Behauptung, das Foto zeige ihren Cousin, noch bezweifelt. Auch die Fotos, die Carlotta ihr schickte und die angeblich Alas Vater als Kind zeigten, hatten sie nicht überzeugt. Es gab eine unheimliche Ähnlichkeit, aber die Nase stimmte nicht. Doch bei einem der Fotos hätte sie schwören können, dass er es war. Dieses Lächeln hätte sie unter einer Million ähnlicher Gesichter erkannt. Und die Reaktion ihres Vaters auf Carlottas Namen war der endgültige Beweis.
Ala fuhr zum ersten Mal allein in einem Zug. Doch bisher war alles glattgegangen. Ala konnte erwachsen aussehen, wenn sie wollte. Trotzdem war sie froh, dass sie nicht ganz allein war, sondern mit Carlotta kommunizieren konnte. Carlotta betonte, wie sehr sie sich auf sie freue, und schickte ihr zwei weitere Fotos, die ihren Vater als jungen Mann zeigten. Dann wurden die Nachrichten weniger, und in der Nacht kam nichts mehr von Carlotta. Ala war...