Herkunft, Sprachen, Kulturen
E-Book, Deutsch, Band 2706, 128 Seiten
Reihe: Beck'sche Reihe
ISBN: 978-3-406-64754-3
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Die Spur der Sprachen:
Forschung und Mythos
Verwandtschaften. Als William Jones im Jahre 1786 in einem Vortrag vor der «Asiatick Society» in Calcutta die Ähnlichkeit des Sanskrit mit dem Griechischen, Lateinischen und anderen Sprachen herausstellte, konnte er nicht ahnen, dass er damit eine Bewegung auslösen würde, die Generationen von Forschern beschäftigt hat und bis in unsere Zeit für wissenschaftlichen Zündstoff sorgt. Jones war nicht der Einzige, der sich zum Sprachvergleich äußerte. Hinweise auf die Ähnlichkeiten zwischen den Sprachen Indiens und Europas finden sich bereits im 16. Jahrhundert, und einige Zeitgenossen von Jones hatten auf Ähnlichkeiten im Sprachbau von Sanskrit und verschiedenen Sprachen Europas bereits früher aufmerksam gemacht. Im Jahre 1767 hatte der französische Jesuit Coeurdoux dem «Institut Français» in Paris eine Studie über lexikalisch-grammatische Vergleiche zwischen Sanskrit und Latein übermittelt. Diese Studie blieb aber lange unbeachtet und wurde erst vierzig Jahre später gedruckt (Seuren 1998: 80). Auch in der umfangreichen Sprachenenzyklopädie von Lorenzo Hervás y Panduro (1784–87), der nach den Ursprachen (matrices) suchte, sind bereits erste, wenn auch nebulöse Konturen vom Komplex der indoeuropäischen Sprachen zu erkennen. In der damaligen Zeit stützte man sich bei Beobachtungen zur Verwandtschaft von Sprachen überwiegend auf Wortvergleiche, und intuitiv erkannte man, dass Sanskrit matár, griechisch meter, lateinisch mater, englisch mother u.a. ähnlich lautende Ausdrücke irgendwie zusammengehören. Aber woher kommt das? Eine Sprachverwandtschaft allein auf Wortvergleiche zu stützen, ist viel zu oberflächlich, um verlässlich zu sein. Dabei kann man auch in eine Sackgasse geraten, und es «fehlen» Wörter, die man eigentlich erwartet. Beispielsweise gibt es zum erwähnten Stammwort für ‹Mutter› kein verwandtes Äquivalent im Gotischen. Dies kann nur bedeuten, dass das aus der indoeuropäischen Grundsprache stammende Erbwort in der Tochtersprache durch einen anderen Ausdruck ersetzt wurde: Das gotische aithei leitet sich vermutlich von der Wurzel *at- her, die wie ähnliche Bildungen auf *an-, *ak- und *n-an als Reflexe von Lallwörtern der Kindersprache erklärt wird (z.B. hethit. annas, alb. nënë, altind. akka ‹Mutter›); aithei ist später als äiti ‹Mutter› ins Finnische entlehnt worden. Forschung zur Sprachverwandtschaft wird erst dann sinnvoll, wenn es gelingt, Ähnlichkeiten nicht nur im Wortschatz, sondern auch im Lautsystem, im grammatischen Bau und in der Syntax aufzuspüren und zu belegen. Von einfachen Wortvergleichen zur komparatistischen Analyse ganzer Sprachsysteme ist es ein langer Weg. Wenn nun also Sanskrit, Griechisch und Lateinisch irgendwie ähnlich erscheinen, wie kommt es dann, dass das Sanskrit und die damit verwandten Sprachen Indiens offensichtlich weiter entfernt von den anderen sind? Diese Frage stellten sich die europäischen Sprachforscher im 19. Jahrhundert, und sie fanden darauf eine typisch europäische Antwort. Im Zeitalter des Nationalismus, als Völker aufgrund der Sprachen identifiziert wurden, die sie sprachen, kreierte man für jede der verwandten Sprachen ein Volk. Da gab es dann die alten Inder, die Perser, die Griechen und Römer usw. Aber schon bei der Identifizierung der lateinischsprechenden Bevölkerung mit den Römern verstrickte man sich in unlösbare Widersprüche. Die Römer als Volk hat es nie gegeben, im weitest entwickelten Sinne waren alle freien Untertanen des Imperium Romanum «Römer». Und es waren viele Völker, die Lateinisch sprachen: nicht nur die Latiner, sondern auch alle anderen italischen Völker, sodann zahlreiche indoeuropäische (Veneter, Gallier, Daker, Illyrer u.a.) und nichtindoeuropäische (Etrusker, Ligurer, Iberer, Numider u.a.) Völker, die sich sprachlich assimilierten. Und die Völker – auch die, die es gar nicht gab – ließ man wandern, mal von Indien nach Europa, mal auch in umgekehrter Richtung. Die Ergebnisse solcher «Völkerverschiebungen» blieben aber letztlich unbefriedigend, und das aus gutem Grund. Das Verhältnis zwischen Sprachen und Völkern lässt sich nicht auf eine einfache Gleichung bringen. Jahrzehntelange Forschung war nötig, um Klarheit über die Beziehung der verwandten Sprachen und Kulturen zu den Populationen zu schaffen, die damit leben. In vielen Fällen hat erst die moderne Humangenetik verlässliche Informationen ermittelt, wer die Sprecher bestimmter Sprachen waren und woher sie kamen; dies gilt beispielsweise für die Sprecher des Tocharischen (s. Kap. 6). Die Verwandtschaft der Sprachen Indiens und Europas war der Ausgangspunkt für Beobachtungen über den Zusammenhang einer ganzen Sprachfamilie, und erst später beschäftigte sich die Forschung mit den kulturellen Traditionen und der Mythologie ihrer Sprecher. Die indische Mythologie wurde bereits von den Sprachforschern im frühen 19. Jahrhundert untersucht. Eine ernstzunehmende Archäologie der alten indoeuropäischen Völker entwickelte sich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit den Ausgrabungen der hethitischen Hauptstadt Hattusa. Und die frühen Nomadenkulturen der Steppenregion Südrusslands und Zentralasiens sind erst in den vergangenen Jahrzehnten systematisch erforscht worden. Die Benennung der indoeuropäischen Sprachen stammt aus dem 19. Jahrhundert. Thomas Young war in der englischsprachigen Welt der erste, der im Jahre 1813 den Begriff «Indo-European» verwendete. In der älteren deutschsprachigen Tradition nennt man diese Familie «indogermanisch», ein Ausdruck, der dem Zeitgeist der Romantik entsprang und zuerst 1823 von Friedrich von Schlegel verwendet wurde. In Franz Bopps vergleichender Grammatik aus dem Jahre 1816 ist von «indisch-europäischen» Sprachen die Rede. In beiden Namenformen weisen die Komponenten jeweils auf die Peripherien des Verbreitungsgebiets, die östliche (indo-) und die westliche (germanisch bzw. europäisch), hin. Wollte man das Kriterium der geographischen Ausdehnung exakt anwenden, müsste die Sprachfamilie das Attribut «indoromanisch» erhalten, mit Bezug auf die Pyrenäenhalbinsel im Südwesten, oder aber «indokeltisch», wenn man die Situation im extremen Nordwesten Europas berücksichtigt, wo keltische, nicht germanische Sprachen verbreitet sind. In der modernen deutschsprachigen Terminologie kann man eine Tendenz zur Angleichung an internationale Benennungen feststellen: dt. indo-europäisch als Äquivalent zu engl. Indo-European, franz. indoeuropéen, ital. indoeuropeo oder russ. indoevropejskij. Auch wenn die Zusammengehörigkeit der verschiedenen regionalen Sprachgruppen (d.h. indische, germanische, slawische Sprachen, Griechisch, Lateinisch usw.) früh erkannt wurde, kursierten noch lange allerlei Spekulationen über die «Urmutter» der Sprachen. Das Sanskrit mit seiner uralten schriftsprachlichen Tradition schien ein guter Kandidat zu sein, und jahrzehntelang gingen die Forscher davon aus, dass sich alle indoeuropäischen Sprachen von dieser Quelle ableiten. Entsprechend galten als Träger dieser Kultur und Urahnen aller Europäer die Arier (nach ihrer Selbstbezeichnung Arya). Erst in den 1870er Jahren, durch die Arbeiten der Junggrammatiker, gelangte die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft zu der Erkenntnis, dass das Sanskrit selbst die Tochtersprache einer Ursprache ist: des «Proto-Indoeuropäischen», damals auch «Ur-Indogermanisch» genannt. Der Ariermythos. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, wenn die Begriffe «indogermanisch» und «arisch» miteinander verquickt und quasi wie Synonyme gebraucht wurden. Die Verherrlichung arischer Kulturtraditionen war nicht nur eine Triebkraft nationalen Selbstwertgefühls bei den indischen Ariern selbst (s. Kap. 5), das Prestige des Ariertums wurde auch von anderen Völkern usurpiert, besonders bei den Europäern. Vor allem bei den germanischen Völkern war der Arierkult seit dem 19. Jahrhundert populär (Marchand 2009). Die Selbstidentifizierung der Europäer als Arier im Sinn einer Völkerbezeichnung war – entgegen allen neuen sprachwissenschaftlichen Erkenntnissen – fest im westlichen Kulturbewusstsein verwurzelt. Eurozentrische Spekulationen und völkische Mystifizierungen prägten einen Zeitgeist, der auf ethnisch-rassische Segregation abzielte. Damit standen die Deutschen nicht allein. Auch französische und britische Intellektuelle werkelten am Fundament einer europazentrierten Rassenkunde. Joseph Arthur Gobineau legte mit seiner Studie über die Ungleichheit der Rassen («Essai sur l’inégalité des races humaines», 1853–55) die Grundlagen für den Mythos von der Überlegenheit der arischen Rasse, und der Begründer des Sozialdarwinismus, Herbert Spencer («Social statics» von 1851, «Synthetic philosophy», 1896), untermauerte den vermeintlichen Anspruch auf Weltherrschaft der weißen Rasse....