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E-Book

E-Book, Deutsch, 212 Seiten

Gutmann WENDEBLUES

Lukas Bentorffs dritter Fall. Thriller.

E-Book, Deutsch, 212 Seiten

ISBN: 978-3-95894-218-9
Verlag: Omnino Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Dorfpastor Lukas Bentorff ist in seiner Gemeinde nicht nur professionell mit zwischenmenschlichen Konflikten befasst. Diesmal auch persönlich. Ein neu zugezogenes Gemeindemitglied bezaubert Männer wie Frauen im Kirchenchor. Und sie wärmt auch sein Herz. Der Stress in der Gemeindearbeit nimmt ständig zu. Sein Whiskykonsum ist seiner Gesundheit nicht förderlich. Trauerfälle und Bestattungen gehen ihm zunehmend nahe. Irgendwann geht’s nicht mehr weiter. Ein kleiner Schlaganfall bremst Lukas vollständig aus – und gerade jetzt geschieht ein Mord … Lukas Bentorffs dritter Fall.
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2
Die Damen sind heftig im Gespräch. Ich halte mich zurück. Habe richtig Hunger. Frau Weimer hat von einem Verwandtschaftsbesuch in Brandenburg eine lufttrockene Salami mitgebracht. Eigene Herstellung auf dem Bauernhof. Unfassbar lecker. Eigentlich wollten wir über die Gemeindefinanzen sprechen. Jetzt liegt was anderes vorn. „Ich bin gestern Mittag endlich mal runtergegangen. Ich habe ein paar Worte Klartext geredet. Brennt mir schon länger auf der Seele. Ich habe schon seit Wochen keine ruhige Mittagspause mehr gehabt.“ Frau Kleinschmidt regt sich nicht oft auf. Diesmal scheint es ernst. Ich versuche, den Kontext zu erfassen. Es geht um das alt gewordene Ehepaar, das in der Wohnung unter der der Kleinschmidts wohnt. Das Haus ist sehr hellhörig. „Als wir vor zwanzig Jahren eingezogen sind, war Herbert Mahnke siebzig und seine Frau Elsbeth fünfundsechzig. Damals hat er noch Taxi gefahren. Das kann er ja nicht mehr. Mit seinen neunzig Jahren. Das waren damals freundliche Nachbarn. Die haben sich nie beschwert, wenn unsere Kinder mal Remmidemmi gemacht haben. Wir haben ja auch darauf geachtet, dass sie in der Wohnung nicht Rollschuh laufen oder mit den Kitschekugeln spielen. Wenn wir uns im Dorf oder vor dem Haus zufällig getroffen haben, sind die Mahnkes stehen geblieben und haben eine Weile mit uns geklönt. Die beiden waren damals unzertrennlich. Manchmal hat Herbert Mahnke seine Elsbeth mit dem Taxi abgeholt. Dann hat sie sich richtig schön gemacht, ein buntes Kleid angezogen, und sich von ihm mit dem Taxi nach Braunschweig ins Restaurant kutschieren lassen. Nie nach Lebenstedt. Es sollte ja was Besonderes sein. Jetzt können sie nicht mehr raus. Sie hocken beide den ganzen Tag aufeinander. Ab und zu kommt mal jemand vom Pflegedienst. Sonst haben sie wohl keine Freunde mehr. Kinder haben sie auch keine. Das geht morgens schon los. Mit: ‚Du Taugenichts!‘, ‚Du Nichtsnutz‘, auch mal: ‚Du Arschloch!‘ Elsbeth kann richtig laut schreien. Ich komme normalerweise mittags nach Hause und will mich ein bisschen auf dem Sofa ausruhen. Keine Chance. Sie schreit, und er, also der Herbert Mahnke, sagt keinen Ton. Er haut mit beiden Händen auf den Tisch. Nicht mal eben, sondern stundenlang. Sie schreit, und er haut. Gestern Mittag hat sie laut ‚Hilfe‘ geschrien. Da bin ich runter und hab gesagt: ‚Frau Mahnke, wir sind Nachbarn. Wenn sie um Hilfe rufen, dann muss ich damit rechnen, dass sie in Not sind.‘ Sie stand ganz verschüchtert im Flur. Herbert Mahnke saß in der Küche vor seinem Küchentisch, auf dem er die ganze Zeit rumgehauen hat, und hat sich nicht gerührt. Da bin ich deutlich geworden. ‚Sie müssen mich mittags schlafen lassen. Wenn sie noch mal um Hilfe schreien, dann komm ich nicht mehr runter. Dann hol ich die Polizei!‘ Seitdem ist Ruhe. Aber ich habe das schon mal erlebt. Zwei Wochen war Ruhe, und dann ging es wieder von vorne los.“ Betroffenes Schweigen. Oft herrscht beim Dienstfrühstück leichtherzige Stimmung. Heute nicht. „Herr Pastor, können Sie nicht mal bei den Leuten vorbeigehen?“ Ich überlege, wie ich darauf antworten kann. Natürlich kann ich mal beim Ehepaar Mahnke vorbeigehen. Ich kann allerdings nicht auf den Putz hauen. Ich kann mir erzählen lassen, was sie in ihrem Leben gemeinsam erlebt haben. Wo sie groß geworden sind. Wie es ihnen jetzt im Alter geht. Wenn sie das denn überhaupt erzählen wollen. In diesem Konflikt ist allerdings Frau Kleinschmidt meine eigentliche Seelsorge-Aufgabe. Ich werde sie in ihrer Arbeitszeit im Pfarrbüro öfter mal drauf ansprechen. Werde versuchen, sie zu stützen, so gut ich das kann. Ein nicht lösbarer Alltagskonflikt. Alltäglich im eigenen Haus. Jede Mittagspause futsch. Das ist der Hammer. Das alte Ehepaar ist eine Aufgabe für den sozialpsychiatrischen Dienst. Wenn es denn sowas hier auf den Dörfern gäbe. „Ich kenne die Mahnkes mein ganzes Leben lang.“ Elisabeth Bothe schüttet sich noch etwas Kaffee nach. „Ich wollte bloß nichts mit denen zu tun haben. Dazu ist zu viel passiert.“ Sie sitzt eine Zeitlang nachdenklich. „Als es losging mit den Nazis, also, als die richtig an die Macht kamen, da war ich Anfang zwanzig. Herbert Mahnke war fünfzehn Jahre älter. Da war der bestimmt schon seit zehn Jahren mit dabei. Es gab auf den Dörfern in den zwanziger Jahren nicht so viele, die sich so richtig in der Partei organisiert haben. Herbert Mahnke lief seit Mitte der zwanziger Jahre in SA-Uniform rum, wenn Schützenfest war im Dorf oder Heldengedenktag. Die Elsbeth war gar nicht so. Als dann Ende der zwanziger Jahre und in den Dreißigern viele von den Männern im Dorf ihre Arbeit verloren haben, da hat Herbert Mahnke einen Ortsverband für die Partei aufgemacht und einige für die SA rekrutiert. Im Juni 1934, als sie den Röhm umgebracht haben, hat er sich eine Zeitlang bedeckt gehalten, aber dann ist er wieder in Montur aufgetreten und hat große Sprüche gemacht, wann immer eine Gelegenheit dazu war. In den Krieg wurde er ziemlich spät eingezogen, er war ja schon älter. Er hat an der Westfront gekämpft und kam nach einem Beinschuss ins Dorf zurück. Seitdem hinkt er ein wenig. Dann war er nach dem 8. Mai bei den ‚Werwölfen‘ in den Wäldern und hat noch ein paar Wochen Privatkrieg gegen die ‚Tommys‘ und die ‚Amis‘ geführt.“ Frau Bothe lehnt sich zurück. „Jedenfalls: Ich kann das nicht vergessen. Auch wenn Herbert Mahnke und seine Frau jetzt alt sind.“ Ich denke nach über das, was ich gerade erfahren habe. Wir haben im Dorf eine ganze Reihe Männer, die sich bis heute damit brüsten, bei den „Werwölfen“ noch weitergekämpft zu haben, nachdem das Nazireich offiziell längst kapituliert hatte. Otto Viersen zum Beispiel. Seit Januar zudem noch Vorsitzender bei den „Lustigen Jecken Groß Samtleben“. „Warum kümmert sich denn von den alten PGs niemand um die Mahnkes?“ Ich suche den Blick von Frau Bothe. „Da müsste doch noch eine Verbindung lebendig sein. Jetzt könnte sich doch wirklich mal zeigen, ob die selbsternannten Helden unseres Dorfes nur Schnaps trinken und große Sprüche machen oder wirklich füreinander einstehen.“ „Ich weiß nicht, was da vorgefallen ist.“ Frau Bothe zuckt mit den Schultern. „Ich habe mich da nicht drum gekümmert. Aber das ist schon seit Beginn der Entnazifizierung, also seit Ende 1945 so, dass die Mahnkes im Dorf mehr oder weniger isoliert sind.“ „Gut. Ich werde mit Otto Viersen ein ernstes Gespräch führen.“ Schweigen. Zu diesem Thema ist alles gesagt. Für den Moment zumindest. Frau Weimer gießt allen noch mal Kaffee nach. „Schlechte Stimmung heute?“ „Wir haben allen Grund zur Sorge.“ Frau Sassnitz kommt endlich doch noch auf das Thema Geld zu sprechen. „Wir haben ein monatlich wachsendes Defizit von jetzt 20.000 D-Mark. Das liegt im Wesentlichen an den Kosten für die Restauration des Flügelaltars. Wir haben immer noch keine Finanzierungszusage vom Land Niedersachsen. Gut, die Klosterkammer und die Stadt Salzgitter geben etwas dazu, in dem Umfang, in dem die Landeskirche Kosten übernimmt. Wenn das nicht wäre, würden die Schulden schon die Grenze zum sechsstelligen Bereich erreichen. Das kann nicht so weitergehen. Sie wollen doch auch mit den Konfirmanden im Sommer wegfahren, Herr Pastor. Dafür soll es Zuschüsse aus dem Gemeindehaushalt geben. Und die laufenden Kosten für all die Posten, die im Haushaltsplan vorgesehen sind, müssen erwirtschaftet werden. Entweder kürzen wir massiv in allen Arbeitsbereichen – und das bedeutet auch, dass Sie das dreiwöchige Konfirmandenferienseminar in diesem Jahr ausfallen lassen müssen …“ „Das können wir nicht machen …“ Frau Sassnitz wird heftig. „Können wir nicht machen. Können wir nicht machen. Herr Pastor. Sie haben immer bloß im Blick, was Sie alles an tollen Arbeitsvorhaben durchführen wollen. Alles unendlich wichtig, keine Frage. Es geht nicht mehr so weiter! Unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten sind wir pleite. Wollen Sie Konkurs anmelden?“ Ich spüre plötzlich Druck in der Herzgegend. Das hatte ich in den letzten Tagen schon häufiger mal. Das liegt, glaube ich, nicht an der finanziellen Lage der Gemeinde. Die sieht schlimm aus. Das ist blöd, aber es erreicht mein Herz nicht. Was mir zu schaffen macht, ist die fehlende Wertschätzung meiner Kirchenvorstandsvorsitzenden für meine Arbeit. Und für die Arbeit, die von vielen anderen in der Gemeinde geleistet wird. Kreise ich zu sehr um mich selbst? Diese Engführung des Blickes auf die finanzielle Situation. Manchmal habe ich den Eindruck, dass alles andere mehr oder weniger egal wird. Zum Glück scheint Frau Bothe ähnlich zu empfinden. „Ich meine, bevor wir eine Kürzungsdebatte führen, sollten wir überlegen, ob wir auf der Einnahmeseite etwas erreichen können.“ Sie blickt streng in die Runde. Streng und aufmunternd. „Oder?“ Frau Sassnitz zuckt mit den Schultern und lehnt sich verschnupft zurück. „Ich bin für jede gute Idee offen.“ „Na, dann wollen wir mal.“ Frau Kleinschmidt geht zum Schreibtisch rüber und bringt ein paar Bögen Papier mit. „Ich schlage vor, dass wir uns zehn Minuten Zeit nehmen. Jede schreibt ein paar Ideen auf, wie wir zu Geld kommen können. Okay?“ Wie gut, dass wir diese pragmatische Seele im Team haben. Frau Weimer gießt noch einmal Kaffee nach und reicht die Brötchen und den Wurstteller herum. Alle lehnen dankend ab. Ich bediene mich gern noch mal. Der Druck auf dem Herzen ist immer noch da. Vielleicht hilft leckere Wurst ein bisschen. Ich kann am besten nachdenken, wenn ich was im Bauch habe. Konzentrierte...


Gutmann, Hans-Martin
Hans-Martin Gutmann, in den fünfziger Jahren in einem Dorf im Vorharz aufgewachen, bis 2017 Theologieprofessor und Universitätsprediger in Hamburg, lebt als Schriftsteller und Jazzmusiker mit seiner Familie in Eimsbüttel.

Hans-Martin Gutmann, in den fünfziger Jahren in einem Dorf im Vorharz aufgewachen, bis 2017 Theologieprofessor und Universitätsprediger in Hamburg, lebt als Schriftsteller und Jazzmusiker mit seiner Familie in Eimsbüttel.


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