E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Gurnah Ferne Gestade
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-641-29442-7
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman. Nobelpreis für Literatur 2021
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
ISBN: 978-3-641-29442-7
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Es ist ein später Novembernachmittag, als Saleh Omar auf dem Flughafen Gatwick landet. In einer kleinen Tasche, dem einzigen Gepäck, das der Mann aus Sansibar bei sich trägt, liegt sein wertvollster Besitz: eine Mahagonischachtel mit Weihrauch. Eben noch war Omar Inhaber eines Geschäftes, er besaß ein Haus, war Ehemann und Vater. Jetzt ist er ein Asylbewerber, und Schweigen ist sein einziger Schutz. Während Omar von einem Beamten ins Verhör genommen wird, lebt nicht weit entfernt, zurückgezogen in seiner Londoner Wohnung, Latif Mahmud. Auch er stammt aus Sansibar, hatte jedoch bei der Flucht aus seiner Heimat einst den Weg über den »sozialistischen Bruderstaat« DDR gewählt. Als Mahmud und Omar Jahre später in einem englischen Küstenort aufeinandertreffen, entrollt sich beider Vergangenheit: eine Geschichte von Liebe und Verrat, von Verführung und Besessenheit, und von Menschen, die inmitten unserer wechselvollen Zeit Sicherheit und Halt suchen. Ein differenzierter Blick auf die Themen Exil und Erinnerung, so bewegend wie meisterhaft erzählt.
Im Original 2002 erschienen, wurde »Ferne Gestade« für den Booker-Preis nominiert. Jetzt liegt der Roman erstmals wieder in der Übersetzung von Thomas Brückner auf Deutsch vor, durchgesehen und mit einem erläuternden Glossar.
»Von den ersten Zeilen an weiß man, dass man sich in den Händen eines echten Schriftstellers befindet, eines Menschen, der etwas über die Welt zu sagen hat.« The Observer
Abdulrazak Gurnah (geb. 1948 im Sultanat Sansibar) wurde 2021 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Er hat bislang elf Romane veröffentlicht, darunter »Paradise« (1994; dt. »Das verlorene Paradies«; nominiert für den Booker Prize), »By the Sea« (2001; »Ferne Gestade«; nominiert für den Booker Prize und den Los Angeles Times Book Award), »Desertion« (2006; dt. »Die Abtrünnigen«; nominiert für den Commonwealth Writers' Prize) und »Afterlives« (2020; dt. »Nachleben«; nominiert für den Walter Scott Prize und den Orwell Prize for Fiction). Gurnah ist Professor emeritus für englische und postkoloniale Literatur an der University of Kent. Er lebt in Canterbury. Seine Werke erscheinen auf Deutsch im Penguin Verlag.
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LATIF
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Auf der Straße hat mich einer »grinsender Schwarzamohr« genannt, als spräche er aus einer anderen Zeit heraus. Grinsender Schwarzamohr. Stellen Sie sich das einmal bildlich vor. Ich war auf dem Weg von der U-Bahn zur Arbeit, ein wenig in Eile, weil ich das kleine Schauspiel mag, die Station mit diesem entschlossenen und zielstrebigen Schritt zu verlassen, den nur ein verbindliches Ziel zu verleihen vermag. Gleichzeitig aber beeilte ich mich auch aus der gewohnheitsmäßigen Angst heraus, dass ich zu spät kommen könnte. Ich schaue oft auf die Uhr, aber an diesem Morgen trug ich gar keine. Vor ein paar Monaten war mir das Armband kaputtgegangen, und ich war noch nicht dazu gekommen, mir ein neues zu besorgen. Das führte dazu, dass ich mir ohne Uhr noch mehr Sorgen machte als mit und mir immer einbildete, spät dran zu sein, auch wenn ich gut in der Zeit lag. Ich weiß nicht, woher das kommt, dass ich mir wegen der Zeit solche Sorgen mache. Es ist irgendwie ungesund. Trotzdem mache ich mir immer ziemliche Sorgen und hasse es, zu spät zu kommen, hetzen und mich beeilen zu müssen, jemanden zu enttäuschen und mich entschuldigen zu müssen.
Da war ich also, ging zur Arbeit, war ein bisschen unruhig, aber nicht über Gebühr, in meinem Kopf schäumte der gewöhnliche Unsinn, Arbeit, unausgesprochenes Bedauern, vernachlässigte Pflichten, und ich lief an der Nordseite des Bedford Square von der Tottenham Court Road hinüber zur Malet Street. Ich musste einen Schlenker machen, um einem Mann aus dem Weg zu gehen, von dem ich eigentlich erwartet hatte, dass er auch ein wenig Platz machen würde, als wir auf dem Bürgersteig aufeinander zugingen. Eigentlich hatte ich es gar nicht bewusst wahrgenommen, dass er auf mich zukam, es lediglich irgendwie gemerkt und mich darauf vorbereitet, ein wenig zur Seite zu gehen. Wie sich herausstellte, machte er mir keineswegs Platz, und so musste ich ihm etwas stärker ausweichen, als ich zunächst gedacht hatte. Ich nehme an, dass ich ein bisschen übertrieben, die Schultern hochgezogen und einen leichten Seitschritt vollführt habe, so wie sie in einigen der albernen Gesellschaftstänze vorgeschrieben sind, die wir uns als Jugendliche zu Hause im Land der Geburt aus Büchern anzueignen suchten. Dann, als ich fast schon an ihm vorbei war, hörte ich, wie er zischte – »sssssssssss« – ein seltsames, bedrohliches und altertümliches Geräusch, wenn man, wie ich, nicht daran gewöhnt ist. Ohne mich umzudrehen, sah ich mir den Mann, an dem ich vorübergegangen war, ohne ihn recht wahrzunehmen, im Geiste noch einmal an. Als ich ihn dann noch einmal wirklich betrachtete, sah ich, dass es sich um einen älteren Mann in einem schweren und teuren schwarzen Mantel handelte, nicht sonderlich groß, die Schultern leicht eingefallen. Ein Zischen. Ein Zischen aus einer längst vergangenen Zeit. Und dann sagte er: »Du grinsender Schwarzamohr.«
Ich war mir nicht einmal bewusst, dass ich grinste, aber ich grinste tatsächlich, als er das gesagt hatte und ich mich umdrehte, um mir den Klugscheißer genauer anzusehen. Er sah aus wie einer dieser geschniegelten Engländer, die man aus britischen Filmen der Fünfzigerjahre kennt, ein Bankangestellter oder Beamter aus dieser Ära der Kinematografie, von einer Zwangslage der Tugendhaftigkeit gepeinigt, aus der er sich nicht befreien konnte, finster und feist, der jetzt, nachdem wir aneinander vorbei waren, weiterging, mit dem absichtsvollen Regenschirmschritt des dem Untergang geweihten Helden. Du glinsender Schwarzamohr. Doch ich will mich nicht lustig machen. Vielleicht machte er eine Krise durch und dachte an Selbstentleibung, und sein hasserfülltes Zischen war in Wirklichkeit ein Hilfeschrei im Tarngewand dieser angestaubten Beleidigung. Welch seltsames Wort, dieses Schwarzamohr. Das a zwischen »schwarz« und »Mohr« störte mich sofort, und Gewohnheit oder Ausbildung ließen mich augenblicklich darüber grübeln, wann es in Gebrauch gekommen sein mochte, ob es in einem Maße umgangssprachlich war, dass die Leute die Straße entlanggingen und einen vorbeilaufenden Schwarzkerl damit anredeten, oder ob es sich um eine literarische Neuschöpfung handelte, mit der die Redeweise einer vergangenen Zeit nachgebildet werden sollte. Sobald ich in meinem Büro war, schlug ich das Wort in meinem Concise Oxford Dictionary nach, fand aber nur wenig Erhellendes: »Neger, Wortbildung aus schwarz + Mohr.« Da hatte ich mir mehr erwartet. Also schlug ich unter schwarz nach und verzagte: Schwarzer Tod, schwarzes Loch, schwarze Liste, schwarze Seele, Schwarzmalerei, Schwarzfahrer, Schwarzmarkt, schwarzes Schaf. Eintrag um Eintrag las sich so, und als ich mich endlich durch alle durchgekämpft hatte, fühlte ich mich verabscheuungswürdig und niedergeschlagen, besudelt von der Sturzflut dieser Beschimpfungen. Natürlich wusste ich, wie man den Schwarzen als den Anderen, als das Gottlose, das Böse konstruiert hatte, wie man damit einen vergifteten, finsteren Ort im innersten Wesen selbst des feinsinnigsten, zivilisierten Europäers geschaffen hatte, aber auf einer einzigen Seite so viel »schwarz schwarz schwarz« entdecken zu müssen, das hatte ich nicht erwartet. So unvorbereitet darauf zu stoßen, war ein weit größerer Schreck, als von einem Mann, der wie eine verstimmte, aus der Mode gekommene Filmfigur aussah, »glinsender Schwarzamohr« genannt zu werden. Das ließ mich spüren, wie sehr ich gehasst wurde, und ich fühlte mich mit einem Mal schwach angesichts des Schreckens solcher Gedankenverbindungen. Das also ist das Heim, in dem ich wohne, dachte ich, eine Sprache, die mich hinter jeder dritten Ecke anbellt und verwünscht.
Danach noch unter »Mohr« nachzuschlagen, hatte ich nicht mehr den Mut. Später am Nachmittag aber, nach der letzten meiner drei Lehrveranstaltungen an diesem Tag, dem vollsten in meinem Wochenplan, ging ich in die Bibliothek und schlug »Schwarzamohr« im OED nach, der Mutter aller Wörterbücher. Da stand es: das Wort tauchte gedruckt erstmals im Jahre 1501 auf und ist seitdem solchen Würdenträgern der englischen Literatur wie dem menschenfreundlichen Sidney, dem unvergleichlichen William Shakespeare, dem besonnenen Pepys und einer ganzen Reihe kleinerer Lichter aus der Feder geflossen. Das hob meine Stimmung. In mir regte sich das Gefühl, während all dieser beladenen Zeiten dabei gewesen zu sein. Ich war nicht vergessen worden, hatte mich nicht bloß schnaubend durch Urwaldsümpfe gewühlt oder nackt von Baum zu Baum geschwungen, sondern war wirklich dabei gewesen, mittendrin, und hatte seit Jahrhunderten aus dem literarischen Kanon herausgegrinst.
Als ich wieder in meinem Büro war, rief ich beim Flüchtlingsrat an. Kann auch sein, dass es an einem anderen Tag gewesen ist. Vor einer Weile schon hatte jemand eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter in meinem Büro hinterlassen und gefragt, ob ich als Dolmetscher im Fall eines alten Mannes einspringen könnte, der gerade als Asylbewerber aus Sansibar eingetroffen war und kein Englisch sprach. Die Anruferin sagte, man habe ihr mitgeteilt, dass ich die Sprache verstünde, die man dort sprach. Ich unterdrückte die Scheu, die mich jedes Mal befällt, wenn es erforderlich ist, jemandem aus dem Land der Geburt gegenüberzutreten. Würden sie mir sagen, oder es auch nur denken, wie sehr ich zum Engländer geworden war, wie anders, wie sehr ich den Kontakt verloren hatte? Als ob es darauf hinausliefe, entweder hier oder da, ob und wie sehr ich mich verändert hatte oder nicht, als ob das zwingend irgendetwas hinsichtlich des Prozesses der Entfremdung klarstellte, als sei ich nicht mehr ich, sondern eine Täuschung, ein Abbild meiner Selbstverleugnung, ein aufbereiteter Handlanger. Und ich unterdrückte meinen Ärger über die Unterstellung, dass die Sprache, die da draußen gesprochen wurde, das Swahili, nicht zu benennen und unbekannt sei, obwohl sie von mehr Menschen gesprochen wurde als das Griechische, das Dänische, Schwedische, das Holländische oder wahrscheinlich all diese Sprachen zusammen. Möglicherweise.
Ich hatte schon manches Mal solche Aufträge von Flüchtlingsorganisationen angenommen und hätte es auch gern wieder getan, doch die nächste Nachricht auf dem Anrufbeantworter teilte mir mit, dass sich die Angelegenheit erledigt habe. Trotzdem schrieb ich mir die Nummer auf und heftete den Zettel an die Tafel über meinem Schreibtisch, wo er sich zu zahlreichen anderen gesellte, die ich dort festgesteckt hatte, weil sie mögliche Quellen für das eine oder andere darstellten: eine Idee, ein Gedicht, die Erinnerung an eine Verpflichtung, irgendeine Geschäftigkeit. Es ist harte Arbeit, will man bei seinem Geschäft immer obenauf sein. Ein paar Wochen später – nein, Monate danach, irgendwann im nachfolgenden Semester … an dem Tag, an dem der dem Untergang geweihte Held des britischen Kinos der Fünfzigerjahre mich einen grinsenden Schwarzamohr genannt hatte … an einem Tag im späten Frühjahr – rief ich diese Nummer an, um herauszubekommen, was aus dem alten Asylbewerber geworden war. Möglicherweise hatte die Tatsache, auf der Straße beschimpft worden zu sein, den Wunsch nach einer Art Solidarität in mir wachgerufen. Und so nahm alles seinen Lauf.
Ich verabscheue Gedichte. Ich lese sie und unterrichte sie und verabscheue sie. Ich schreibe sogar selber welche. Ich lehre sie meine Studenten (natürlich nicht meinen eigenen Schund, Gott behüte) und quetsche aus ihnen heraus, was nur irgend geht, lasse sie lakonisch klingen, wo sie weitschweifig sind und sich in Pose werfen, klug und prophetisch an Stellen, wo sie sich zu plumpen Fantastereien versteigen. Kunstvoll sagen sie nichts, sie offenbaren nichts, sie führen zu nichts. Schlimmer als Tapete oder eine...