E-Book, Deutsch, 192 Seiten, Format (B × H): 145 mm x 205 mm
Gumbs Unertrunken
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-311-70386-0
Verlag: AKI Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Was ich als Schwarze Feministin von Meeressäugetieren lernte
E-Book, Deutsch, 192 Seiten, Format (B × H): 145 mm x 205 mm
ISBN: 978-3-311-70386-0
Verlag: AKI Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
ALEXIS PAULINE GUMBS, geboren 1982, ist Poetin, Wissenschaftlerin, Aktivistin und Autorin der in Kürze erscheinenden Biographie The Eternal Life of Audre Lorde. Sie promovierte in den Fächern Anglistik, African and African American Studies und Women and Gender Studies an der Duke University in Durham, North Carolina, schrieb zahlreiche Bücher, darunter Undrowned, Black Feminist Lessons from Marine Mammals (2020), Dub, Finding Ceremony (2020) und Spill, Scenes of Black Feminist Fugitivity (2017), und ist Mitherausgeberin von Revolutionary Mothering, Love on the Front Lines (2016). Gumbs arbeitet als Redakteurin der Zeitschrift Feminist Studies und ist Mitbegründerin des Mobile Homecoming Trust.
Autoren/Hrsg.
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Einleitung
Wenn du im Ozean schwimmst und jemanden atmen siehst, was tust du dann? Wenn du jemanden siehst, wie du ein Säugetier und doch anders – nicht gebunden an Boote und Taucherbrillen und Land – dann wirst du dich wundern, wer das ist, und was sie tun, und wie sie es tun. Wie leben sie in Salz und Tiefe und Bewegung? Das magst du dich wundern. Und für diesen Fall brauchst du ein Handbuch. Die zugänglichsten Handbücher im Moment sind der und das . Sie versammeln die verfügbaren wissenschaftlichen Informationen über Verbreitungsgebiete, Verhaltensweisen und Erscheinungsformen aller Tiere, die Wissenschaftler*innen beobachtet haben, damit du ein Säugetier identifizieren kannst und später, wenn du aus dem Meer steigst, weißt, wen du dort angetroffen hast.
Ich identifiziere mich als Säugetier. Ich identifiziere mich als Schwarze Frau, abstammend und geprägt von einer ganzen Gruppe von Menschen, die zu Besitz gemacht und über einen Ozean hinweg geraubt wurden. Und, wie viele von uns, zieht mich das Meeresleben einfach an. So ging ich ins Aquarium und kaufte beide diese Handbücher in der Hoffnung, aus ihnen etwas über meine Verwandten zu lernen.
Was ich feststellte, war, dass die sogenannte »neutrale« Wissenschaftssprache dieser Meereshandbücher gespickt ist mit Formulierungen der Abgrenzung und Abwertung (zum Beispiel der Begriff »herumstreunende Jugend«, um Mützenrobben zu beschreiben), mit unbeholfenen binären Zuschreibungen von biologischem Geschlecht sowie einer merkwürdigen Kriminalisierung jener Säugetiere, die sich dem Blick der Biolog*innen entzogen. Ich wollte nur wissen, welcher Wal welcher ist, und fand mich konfrontiert mit den kolonialen, rassistischen, sexistischen, heteropatriarchalen, kapitalistischen Konstrukten, die mich zu töten versuchen – das Netz, in dem ich bereits gefangen bin, sozusagen. Wie kann ich dir also erzählen, wen und was ich sah?
Zur selben Zeit, als ich mehr über die Meeressäugetiere erfuhr, lernte ich durch die Schlupflöcher der Sprache zu spähen, mithilfe meiner poetischen Fähigkeiten, die ich mir hatte aneignen müssen, um mich selbst finden und lieben zu können in einer Welt, die mich täglich falsch benennt. Und ich empfand so viel Liebe und Demut. Ich empfand so viel Ehrfurcht und Möglichkeit. Ich musste dir zeigen, was ich empfand. Ich postete also jeden Tag in den sozialen Netzwerken, was ich über Meeressäugetiere lernte, dank und trotz der Handbücher, durch mein eigenes Nachforschen und durch afro-futuristische Spekulation, und was sich in meinem Herzen rührte.
Anstatt nur zu identifizieren, was was war, musste ich tiefer gehen. Ich folgte dem Beispiel der vielen Meeressäugetiere, die echoorten. Ich durfte mich nicht auf das konzentrieren, was ich sehen und erkennen konnte, sondern darauf, wo ich im Verhältnis stand, wie der Klang, der von mir abprallt, im Verhältnis zu den Strukturen und Umwelten, die mich umgeben, mich in einer beständig wandelnden Beziehung zu dir verortet, wer immer du inzwischen bist.
Während ich weiterhin in Beiträgen teilte, was ich lernte, schnellte die Zahl meiner Instagram-Follower in die Höhe, Leute schenkten mir Aquarellmalbücher mit Walen,[1] schickten mir gestrickte Buckelwal-Ohrringe,[2] den echten Rückenwirbel eines Wals (tatsächlich!),[3] und mehr. Ich erhielt auch jeden Tag Nachrichten von Menschen, die wissen wollten, wann und wo sie diese Gedanken in Buchform kaufen könnten, die sich als Forschungsassistent*innen anboten, die bekundeten, dass meine Beiträge zu ihrer täglichen Meditation wurden, die für die Entwicklung von Apps oder musikalischen Hörmeditationen mit mir zusammenarbeiten wollten, und eine besondere Nachricht von adrienne, die vorschlug, dass meine Texte Teil der bei AK Press werden könnten. Und hier sind wir nun.
Dies ist also eine andere Art Handbuch für unsere Bewegung und unsere ganze Spezies, basierend auf dem subversiven und transformativen Vorbild der Meeressäugetiere. Dieses Handbuch des Unertrinkens hört auf Meeressäugetiere als eine Lebensform, die uns viel lehren kann über die Verletzlichkeit, Kollaboration und Anpassung, die wir brauchen, um mit dem Wandel in unserer Zeit Schritt zu halten, insbesondere in Anbetracht des größten Wandels, den wir in dieser Klimakrise erleben und verursachen: das Ansteigen der Meeresspiegel. Ein anderer großer Wandel ist eine Pandemie, die ausbrach, als ich dieses Buch überarbeitete, und die ebenfalls unser Atmen bedroht.
Ich sehe dieses Buch nicht als Kritik an den beiden erwähnten Handbüchern. Ich sehe dieses Buch als ein Angebot an dich und als Ergebnis eines Prozesses, in dem ich stecke, namens . Wenn es je eine Zeit gab, sich demütig den meeressäugetierischen Mentor*innen anzuvertrauen, dann jetzt. Habe ich erwähnt, dass der Meeresspiegel steigt? Hast du die Anpassung unseres Atmens bemerkt? Dies ist ein pragmatischer Studiengang. Gleichzeitig geht es in dieser Ausbildung für mich auch um eine verwandelte Beziehung zu meinem eigenen Atmen, dem Salzwasser in mir, der Tiefe meiner Trauer und den Schichten meiner Liebe. Und um Raum zu schaffen für das Lernen und Verlernen, das für mich in diesem Prozess notwendig ist, muss ich der gewaltvollen und kolonisierenden Sprache fast aller Texte, aus denen ich Informationen über Meeressäugetiere, ihr Leben, ihre Familien, ihre Superkräfte und Schwierigkeiten geschöpft habe, etwas entgegenhalten.
Das - und das -Handbuch sind die Quellen aller nicht gekennzeichneten Zitate in diesem Buch, und ich beginne meine Meditationen oft mit der Nachahmung des objektiven Tons, den Handbücher behaupten. Ich mache das mit Absicht, denn ich will daran erinnern, dass es eine Behauptung ist, und dann will ich es anders machen. Obwohl ich Passiv-Formulierungen normalerweise vermeide, weil sie Verantwortung verschleiern (ich habe darüber an anderer Stelle geschrieben),[4] ist das Passiv in diesem Text eine wichtige Nachahmungsfigur wissenschaftlicher Schreibweisen, die Wissenschaftler*innen lehrt, sich mittels der Passivform selbst aus ihrer Forschung herauszunehmen und so die Illusion von Objektivität zu wahren. Nichts ist objektiv. Und bedenke, dass Wissenschaftler*innen, gerade diejenigen, die ihr ganzes Leben auf die Hoffnung, die Möglichkeit ausgerichtet haben, einem Meeressäugetier zu begegnen, und die außerordentliche Maßnahmen ergriffen haben (wie das Auswandern in die Antarktis), um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, ein bestimmtes Meereslebewesen zu Gesicht zu bekommen, offensichtlich besessen sind und höchstwahrscheinlich, so wie ich, verliebt. Ob sie es nun in ihren Publikationen zugeben können oder nicht.[5]
In diesem Buch wechsle ich, meist ohne Vorwarnung, von einem klinischen Ton zu einem zutiefst intimen. Die Worte »Ich liebe dich« kommen in diesem Buch am häufigsten vor. Ich bin mir sicher, dass diese Worte in keiner anderen Studie über Meeressäugetiere je vorkamen.[6] Meine Hoffnung, meine große poetische Intervention besteht darin, von der , jenem Prozess, durch den wir sagen, was was ist, beispielsweise welcher Delfin das da drüben ist und welche seine Eigenschaften sind, zum überzugehen, jenem Prozess, durch den wir unser Einfühlungsvermögen erweitern und unsere Grenzen fließender werden lassen, weil wir uns mit der Erfahrung eines Gegenübers identifizieren, vielleicht mit einem anderen Menschen, vielleicht mit jemandem aus einer anderen sogenannten Spezies. Das ist ein kniffliges Unterfangen, weil ich anfällig bin, nicht nur für die Unübersichtlichkeit meiner Gefühle, sondern auch für die Versuchung, auf eine ganze Reihe von Wesen einfach zu projizieren, ohne dass sie gegen meine Zuschreibungen verbal protestieren könnten. Und obwohl dieselben Systeme, die mir schaden, auch den hoch entwickelten Meeressäugetieren schaden (Ich bin ein Meeressäugetierneuling am Anfang meiner Entwicklung), machen wir nicht die gleichen Erfahrungen. In anderen Worten: Dies ist kein Buch, in dem ich versuche, Mitgefühl für Meeressäugetiere zu erzeugen, weil sie uns so ähnlich sind (obwohl wir tatsächlich viel gemeinsam haben). Stattdessen geht es bei der Intimität, der absichtlichen Unschärfe darin, wer wer ist, wer zu wem und wann spricht, darum, eine Definition des Menschen zu revidieren, die so verstrickt in Abgrenzung und Herrschaft ist, dass sie unsere Leben unvereinbar mit dem Planeten macht.
Meine Aufgabe, als eine Meeressäugetierpraktikantin, die ich mich der Mentorschaft dieser hoch entwickelten Meeressäugetiere öffne, ist es, mich zu identifizieren. Zu sehen, was passiert, wenn ich meine eigenen Beziehungen, Möglichkeiten und Praktiken überdenke und überfühle, und zwar in Anlehnung an die Beziehungen, Möglichkeiten und Praktiken hoch entwickelter Meereslebewesen. Das ist eine aufstrebende Strategie. Wenn die ineinandergreifende unterirdische Kommunikation der Bäume, Löwenzahn-Widerstandsfähigkeit und sensible Myzelnetze uns dazu inspirieren können, innerhalb einer Spezies und darüber hinaus anders miteinander umzugehen, dann können Meeressäugetiere das auch. Wahrhaftig aufstrebend. Ich befrage hauptsächlich dich und mich in diesem Text. Wir haben die Chance zu erwägen, was von hier aus möglich ist (und von hier und von hier).
Und da ich nicht umhinkann, zu bemerken, dass Meeressäugetiere queer, unbändig, sich gegenseitig beschützend, komplex und von...