E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Güngör Ich bin Özlem
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-95732-390-3
Verlag: Verbrecher Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-95732-390-3
Verlag: Verbrecher Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
'Meine Eltern kommen aus der Türkei.' Alle Geschichten, die Özlem über sich erzählt, beginnen mit diesem Satz. Nichts hat sie so stark geprägt wie die Herkunft ihrer Familie, glaubt sie. Doch noch viel mehr glaubten das ihre Kindergärtnerinnen, die Lehrer, die Eltern ihrer Freunde, die Nachbarn. Özlem begreift erst als erwachsene Frau, wie stark sie sich mit dieser Zuschreibung identifiziert hat. Aber auch wie viel Einfluss andere darauf haben, wer wir sind. Özlems Wut darüber bahnt sich ihren Weg, leise zunächst, dann allerdings, bei einem Streit mit ihren Freunden, ungebremst: Von Rassismus ist die Rede und von Selbstmitleid, von Scham und Neid, von Ausgrenzung und Minderwertigkeitsgefühlen. Ihre Geschichte will Özlem von nun an selbst bestimmen und selbst erzählen. Wie das geht, muss sie erst noch herausfinden.
Mit genauem Blick und bestechender Offenheit beschreibt Dilek Güngör, welche Kraft es kostet, sich in einer Gesellschaft zu behaupten, die besessen ist von der Frage nach Zugehörigkeit, Identität und der 'wahren' Herkunft.
Dilek Güngör, 1972 in Schwäbisch Gmünd geboren, studierte Übersetzen in Germersheim, Journalistik in Mainz und Race and Ethnic Studies in Warwick, England. Als Journalistin arbeitete sie bei der 'Berliner Zeitung'. Ihre gesammelten Kolumnen aus der 'Berliner Zeitung' und der 'Stuttgarter Zeitung' erschienen in den Bänden, 'Unter uns' und 'Ganz schön deutsch'. 2007 wurde ihr Roman 'Das Geheimnis meiner türkischen Großmutter' veröffentlicht. Für das Singspiel 'Türkisch für Liebhaber' an der Neuköllner Oper schrieb sie das Libretto. Zuletzt erschien ihre wöchentliche Kolumne 'Weltstadt' in der 'Berliner Zeitung'. Dilek Güngör ist Stellvertretende Chefredakteurin der Zeitschrift 'Kulturaustausch' und schreibt als Gastautorin Beiträge für die Zeit Online Kolumne '10 nach 8'.
Autoren/Hrsg.
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3
Ich gehe Philipp im Flur entgegen, mein Mann kommt von der Arbeit. Meist mache ich mir die Mühe nicht, heute schon, an den anderen Tagen ich rufe ihm bloß ein Hallo entgegen von dort, wo ich gerade bin. Er kommt dann zu mir, gibt mir einen Kuss, und oft halte ich ihm nur die Wange hin, manchmal den Mund. Er muss denken, dass ich mich nicht freue. Dabei schaue ich jeden Tag schon ab sechs auf die Uhr. Philipp hat Vanilleeis und Blaubeeren mitgebracht, ich will ihm die Tüte aus der Hand nehmen, aber er lässt sie nicht los. Erst kapiere ich nicht, dass er sie festhält, und ziehe noch einmal daran. »Lass ruhig, ich mache das schon«, sagt er. Ich weiß sofort, worauf er anspielt. Er hat eine Art, sich über mich lustig zu machen, über die ich auch lachen kann. »Sehr witzig. Jetzt gib her, du Idiot.«
In der Küche drückt er Johanna an sich und hebt sie in die Luft. Sie ist schmal und zierlich, selbst ich könnte sie hochheben. »Soll ich den Tisch decken?«, fragt er. Und wie er so vor den Tellern steht, tun mir plötzlich all die Male leid, die ich ihn voller Ungeduld angefahren habe, weil er die falschen Teller genommen hat. Er nimmt die großen flachen aus dem Schrank, wir brauchen auch die tiefen für die Suppe. Es ist egal, ich werde sie nachher dazustellen. Er soll sich nicht fühlen wie ein Kind an der Schultafel. Johanna fragt, wo wir Servietten haben, und ich gebe ihr einen Packen roter Papierservietten aus der Schublade. Zuhause rissen wir Quadrate von der Küchenrolle ab, wenn wir Gäste hatten. Dass man auch etwas anderes als Küchenpapier zum Mundabwischen nehmen konnte, stellte ich erst fest, als ich einmal bei meiner besten Freundin Stefanie zu Abend aß. Bei Stefanie gab es ein Esszimmer, darin einen großen Holztisch mit einer Schublade, in der das Besteck und die Stoffservietten lagen. Jeder in der Familie besaß eine eigene, mit einem Lötkolben hatte jemand die Namen der Eltern und der Kinder auf Holzringe gebrannt, die Servietten zusammengerollt und sie durch die Ringe gezogen. Ihr Vater saß am Kopfende, die zwei kleineren Geschwister auf der Bank, Stefanie und ich ihnen gegenüber, die Mutter gleich an der Küchentür. Vor dem Essen beteten wir »Komm, Herr Jesu, sei du unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Amen.« Ich betete mit, obwohl Stefanies Mutter sagte, ich müsse das nicht. Es gab auch Tischregeln. Aufstehen durfte man erst, wenn alle aufgegessen hatten, und wer die Ellbogen auf den Tisch stützte, wurde ermahnt und auch diejenigen, die die Wurst ohne Brot aßen oder zu viel Saft tranken. Nach der vierten Klasse kam Stefanie aufs Gymnasium, ich auf die Realschule, und obwohl wir in derselben Stadt lebten, verloren wir uns aus den Augen. Ich habe sie nie wiedergesehen. Ihre Mutter wohnt noch immer in dem efeubewachsenen Haus mit dem roten Balkon, angeblich lebt Stefanie in Freiburg. Meine Mutter traf ihre Mutter in der Sauna, sie hat mir sogar Grüße ausrichten lassen. Man müsste einfach mal hingehen und klingeln. Aber so etwas tue ich nicht. Johanna erinnert mich ein wenig an Stefanie. Die blonden Haare, die Haut, die Sommersprossen, die hellen Fingernägel. Sie haben beide etwas Unschuldiges, Unbedarftes, Sorgenfreies. Nivea und Labello und weiße Söckchen am Sonntag. Ist das ein Spleen, meine Versessenheit auf dieses nicht nur sauber, sondern porentief rein? Ich mag Johanna, ich mag sie sehr, aber wenn ich ihr das erzählen würde, würde sie mich für verrückt halten. Philipp brachte Johanna und ihren Sohn eines Tages nach dem Kinderschwimmen mit. Luis und Jakob, inzwischen beide schon sechs, sind, seit sie das Seepferdchen zusammen gemacht haben, die allerbesten Freunde, die es gibt. »Ich freu mich, dass du sie magst«, hatte Philipp gesagt, nachdem Johanna und Luis gegangen waren. Für ihn ist alles viel einfacher. Er kommt mit allen Menschen ins Gespräch, er ist freundlich, er ist interessiert, er ist witzig, er hört zu, er ist nicht laut, er denkt nach und im Zweifel hält er den Mund. Paare ergänzen sich angeblich, der eine sucht im anderen das Gegenstück zu sich selbst. Das kann man von uns nicht sagen, wir passen in ein, zwei Dingen gut zusammen, wir können miteinander reden, ich mehr als er, uns beieinander entschuldigen, ich öfter bei ihm als er bei mir, und wir lachen miteinander, auch wenn er viele meiner Witze nicht lustig findet. Das bisschen scheint auszureichen, um den Rest zusammenzuhalten. »Tobias bringt noch Wein mit«, sagt Johanna und sie sieht auf die Uhr. Gleich ist es acht. Außer Tobias, ihrem Freund, kommen noch Eva und Ralf zum Essen. Ralf ist ein alter Schulfreund von Philipp und Eva seine schöne, neue Freundin. So neu ist sie nicht mehr, seit drei Jahren sind sie zusammen, aber wenn man bedenkt, dass Johanna und Tobias schon seit Unizeiten ein Paar und Philipp und ich seit neun Jahren verheiratet sind, gehen Ralf und Eva als Frischverliebte durch. Unsere Kinder schlafen heute bei Oma und Opa, bei Philipps Eltern also. Meine Mutter nennen die Kinder nene, meinen Vater dede, so wie ich meine Großeltern nene und dede genannt habe und es noch immer tue. Mich irritiert nur, dass meine Cousinen in der Türkei, die als kleine Mädchen zu unserer Großmutter ebenfalls nene sagten, mich und die Kinder korrigieren, wenn wir von nene sprechen. »Anneanne, sag den Kindern, dass sie anneanne sagen sollen, nicht nene.«
»Warum nicht?«
»Weil anneanne viel schöner ist und weil deine Mutter noch viel zu jung für nene ist. Nene sagt man zu ganz alten Frauen.«
»Wir haben doch auch nene zu unserer nene gesagt.«
»Also ich sage anneanne.«
Den Wechsel von nene zu anneanne, zu Muttersmutter, muss ich verschlafen haben. Mein Fehler ist mir peinlich, wie es mir immer peinlich ist, wenn mein Türkisch korrigiert wird. Ich spreche es vorsichtig, oft befallen mich Zweifel, mitten im Satz, und plötzlich erinnere ich mich nicht mehr daran, ob ein Wort, das ich seit jeher benutze, richtig ist. Heißt es wirklich isigi kapa, heißt es nicht isigi kapat? Mach das Licht aus, mit einem t am Ende? Meine Eltern und ich haben immer kapat gesagt, oder nicht? Auf das Türkisch meiner Eltern ist kein Verlass. In ihren Familien waren beide die ersten, die man in die Schule schickte, aber auch nur so lange, bis sie einigermaßen lesen und schreiben gelernt hatten, meinen Vater fünf, meine Mutter vier Jahre. Wozu muss ein Mädchen auch länger in die Schule? Auf dem Feld gab es Arbeit, mehr als genug, zuhause vier jüngere Geschwister, und die Schafe mussten hinunter an den Fluss getrieben werden. Gut möglich, dass meine Eltern Fehler in ihrer Muttersprache machen, ohnehin sprechen sie einen Dialekt, und manche Ausdrücke verstehen schon die Leute in der nächsten Stadt nicht mehr. Manchmal lese ich ein türkisches Wort oder höre es bei Leuten, die sehr gutes Türkisch sprechen, und bin überrascht, dass sie es benutzen, ein Wort, dass ich bis dahin nur von meinen Eltern gekannt und das ich für ein Wort aus dem Dorf gehalten habe. Ich erkläre unseren Kindern, dass wir in Zukunft anneanne sagen werden, doch sie gewöhnen sich nicht an das neue Wort, sie rufen ihre Großmutter weiter nene, auch deshalb, weil mir andauernd nene herausrutscht. »Lass die Kinder sagen, was sie wollen«, sagte Johanna. »Ich habe immer Momi zu meiner Oma gesagt.«
Seither lasse ich die Kinder in Frieden. Ich schneide ein Stück vom warmen Brot ab, stelle Olivenöl und Salz auf den Tisch. Im Bad ziehe ich T-Shirt und Hose aus. Philipp steckt den Kopf herein. »Soll ich mich auch umziehen?«
»Brauchst du nicht.«
Ich bürste mir die Haare und schüttle sie aus, aber der Geruch nach Brot und Bratfett verfliegt nicht. Draußen lacht Johanna, jemand schlägt eine Schranktür zu, Gläserklirren, Philipp sagt irgendetwas. Wie gerne würde ich die Wanne volllaufen lassen, untertauchen und mit dem Kopf auf den Boden der Wanne sinken. Ich mag es, wenn meine Haare um meinen Kopf schweben und sich die Ohren mit Wasser füllen. Als Kind saß...