Grzanna | Eine Gesellschaft in Unfreiheit | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Grzanna Eine Gesellschaft in Unfreiheit

Ein Insiderbericht aus China, dem größten Überwachungsstaat der Welt - Mit einem Vorwort von Peter Kloeppel

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-641-26655-4
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Kaum ein anderes Land der Welt geht so restriktiv gegen Presse- und Meinungsfreiheit vor wie die Volksrepublik China. Die Proteste in Hongkong im Jahr 2019 sind nur ein Teil der Folgen dieser Politik, die auch auf Europa wirkt. Ausländische Reporter stehen zunehmend unter intensiver Beobachtung. Der deutsche Journalist Marcel Grzanna hat mit seiner Frau Pia Schrörs neun Jahre im Reich der Mitte gelebt und gearbeitet. In seinem Debüt gibt er Einblicke in ihren außergewöhnlichen Alltag, in einen Staat, der sein Volk in Unfreiheit erzieht, und in die ständigen, bisweilen auch bedrohlichen Konfrontationen mit Polizei und Staatssicherheit während ihrer akribischen Recherchen. Ein schonungsloser und zugleich persönlicher Bericht über die Mechanismen des größten Überwachungsstaates der Welt.
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1
Zu neuen Ufern Ende Dezember 2006: Kälte und schlechte Luft haben Peking fest im Griff. Wir stehen auf einer Fußgängerbrücke über der Chaoyangmenwai, einer der Hauptverkehrsadern der Stadt, und starren auf die Autos unter uns. Seit zwei Tagen befinden wir uns in der Hauptstadt der Volksrepublik China. Die ersten Eindrücke sind deprimierend. Der Smog hängt so dicht über den Straßen, dass die Sicht nur wenige Hundert Meter beträgt. Die Sonne klebt als gelbe Scheibe am Himmel. Aber sie strahlt nicht. Sie wirft kaum mehr als mattes Licht auf die Tristesse dieser Wintertage. Alles ist grau und trüb. Peking ist eine einzige Baustelle gut anderthalb Jahre vor den Olympischen Spielen. Und die Menschen hier sind ein anderer Schlag als jene, mit denen wir noch 48 Stunden zuvor in Taiwans Hauptstadt Taipeh tagein, tagaus zu tun hatten. Pia, meine Frau, hatte bei Radio Taiwan International, einem öffentlich-rechtlichen Radiosender, der in 13 Sprachen, darunter Deutsch, in alle Welt sendet, ein Praktikum absolviert. Ich hatte bei meinem damaligen Arbeitgeber zwei Monate Resturlaub und freie Tage eingereicht, sodass wir den Trip nach Taipeh nutzten, um gemeinsam in einer Sprachschule Mandarin zu pauken. Es wurden traumhafte sechs Wochen. Wir waren in einem kleinen netten Hotel mitten im Stadtzentrum abgestiegen. Die Tochter des Betreibers freute sich mit uns über jeden neuen Satz, den wir halbwegs unfallfrei aussprachen. Morgens marschierten wir die Straße hinunter zu einer Bäckerei, die von einer Frau eröffnet worden war, die ein paar Jahre in Deutschland gelebt hatte. Es gab leckeres Brot und wahlweise frisch gemahlenen Kaffee aus Kolumbien, Brasilien oder Costa Rica. Wenn sie selbst im Laden stand, unterhielten wir uns über deutsche Politik, und sie offenbarte Detailwissen über die Kanzlerschaften von Kohl und Schröder. Sie nannte sich Claudia für ihre deutschen Freunde. Wir verstanden uns so gut, dass sie uns an einem Wochenende mit ihrem Auto auf den höchsten Berg des Landes chauffierte. An den Nachmittagen saßen wir oft am wild bewachsenen Ufer des Jilong-Flusses, wo jemand ein paar Plastikmöbel hingestellt hatte und kannenweise grünen Tee verkaufte. Um uns herum saßen alte Männer, die Karten spielten, während wir den Unterrichtsstoff vom Vormittag wiederholten. Zum Beispiel viermal die Silbe ma in vier verschiedenen Tonlagen: monoton gleichbleibend, ansteigend, abfallend-ansteigend, abfallend. Unsere Lehrerin Frau Shi war ein harter Knochen, der kein Wort Englisch sprach und uns alles abverlangte, wenn wir die ansteigende Betonung des zweiten Tons nicht deutlich vom erst abfallenden und dann wieder ansteigenden dritten Ton unterschieden. Zur Auflockerung befahl sie mir mit erhobenem Zeigefinger, Pia vor dem Schlafengehen ausgiebige Schultermassagen zu gewähren. Abends liefen wir gerne stundenlang durch die Metropole und suchten eines der vielen lieblichen Restaurants auf. Damals schlossen wir Taipeh tief ins Herz. Intensiv hatten wir die wohligen Temperaturen während des Spätherbstes, die Sauberkeit der Innenstadt und die Höflichkeit der Menschen dort genossen, ehe wir zu unserem zweiwöchigen Kennenlerntrip in die Volksrepublik China aufbrachen. In Peking pfeift uns jetzt der eisige Wind um die Ohren, die Luft stinkt und alle naselang rotzt jemand neben uns auf den Boden. Gleich am ersten Abend will man uns im Restaurant um ein paar Euro prellen. Das wäre alles halb so schlimm, wenn wir uns hier nur als Touristen aufhielten: kennenlernen, verabschieden, auf Wiedersehen. Tatsächlich aber besuchen wir zum ersten Mal diese Stadt, die wir schon sehr bald zu unserem Lebensmittelpunkt machen wollen. Auf der Brücke über der Chaoyangmenwai dämmert uns, was das bedeutet. »Ich kann nicht fassen, dass wir hier wirklich hinziehen wollen«, meint Pia und schaut mich an. Eine dicke Träne läuft ihr über die Wange. »Scheiße«, denke ich. Was soll das werden, wenn wir jetzt schon weinend auf dieser Brücke stehen und unserem alten Leben nachtrauern, vier Monate bevor es überhaupt richtig losgeht. Pia hat nur den Mut, es auszusprechen. Es ist nicht leicht, alles infrage zu stellen, wenn man sich jahrelang auf etwas vorbereitet, das man so unbedingt will. Denn mit den Zweifeln kommt auch die Angst, dass man seinen Traum begraben muss. Und wir träumten nun schon einige Jahre davon, als Korrespondenten im Ausland zu arbeiten. Die Idee geisterte bereits seit meinen Anfängen im Journalismus zu Beginn der 1990er Jahre durch meinen Kopf. 2003 wurde es konkret. Ich saß vor dem Nachrichtenticker, als aus der damals kommenden Olympiastadt Athen eine Meldung über den öffentlichen Nahverkehr eintrudelte. In diesem Augenblick dämmerte mir, dass es eine gute Idee sein könnte, dort hinzugehen, wo bald die Olympischen Sommerspiele stattfänden. Damit wäre ein grundsätzliches Interesse einer breiten Medienlandschaft an unserer Arbeit für einen gewissen Zeitraum garantiert. Und damit wäre auch die wirtschaftliche Grundlage für einen Umzug ins Ausland geschaffen. Ich war wegen meiner begrenzten Fremdsprachenkenntnisse zuvor nie auf die Idee gekommen, in ein Land zu ziehen, in dem nicht Englisch oder Deutsch die Landessprachen waren. Jetzt begriff ich: Auch andere Sprachen ließen sich in wenigen Monaten lernen, wenn auch nicht fließend. Aber Mittel und Wege, mit den Einheimischen zu kommunizieren, würden sich überall finden. China stand zufällig als Nächstes in der olympischen Reihe. Das International Olympic Committee (IOC) hatte Peking die Sommerspiele 2008 zugesprochen, und wir erkannten schließlich das berufliche Potenzial. Hätten die Spiele in diesem Jahr anderswo stattgefunden, wären wir wohl niemals nach China gegangen. Es fühlte sich fast an wie ein Wink des Schicksals, als wir eines Abends in einer Berliner Kneipe am Tresen standen und den Tischglobus kreisen ließen. Wir spielten dieses Spiel von Zukunft und Sehnsucht. Pia schloss ihre Augen, und ich drehte die Achse. Dann brachte sie die Kugel mit dem Zeigefinger blind zum Stehen. Wir trauten unseren Augen kaum. Nicht nur, dass Pia auf China zeigte. Der Nagel ihres Zeigefingers landete bündig unter dem Namen Peking. Als würde sie einem Kind erklären, wo diese Stadt in der Welt zu finden sei. Wir lachten. Natürlich hätten wir unsere China-Pläne zwar auch dann weiterverfolgt, wenn ihr Finger auf Oslo oder Neufundland gezeigt hätte. Aber diesen Zufall nahmen wir gerne als eine Bestätigung für die Tauglichkeit unserer Idee zur Kenntnis: »Wenn das nicht mal ein Zeichen ist.« Und jetzt stehen wir ein paar Jahre danach auf dieser Brücke, und Pia kullern die Tränen übers Gesicht. »Wollt ihr wirklich in diesen Moloch ziehen«, hatte Peter Kloeppel sie gefragt, der damals neben seiner Aufgabe als RTL-Chefredakteur auch Direktor der RTL-Journalistenschule war. Pia hatte sich rund zwei Jahre zuvor in Köln für ein Volontariat beworben und das große Glück gehabt, eine von nur 30 Auserwählten zu sein, die alle zwei Jahre unter damals Tausend Bewerbern ermittelt wurden. Peter Kloeppel mochte die Peking-Idee, aber er wusste um die Herausforderung. Er kannte die Stadt und hatte Freunde dort. Seine bekümmerte Frage liegt uns jetzt auf der Brücke über der Chaoyangmenwai wieder in den Ohren, als der Horizont hinter einem faden Schleier verschwindet. Die Gegensätze zu Taiwan drücken auf die Seele. China ist für uns Neuland. Wir waren zwar Ende 2004 für ein paar Tage in Hongkong, aber das war eine andere Welt. Wir begreifen, dass es eine Sache ist, ein paar Wochen Urlaub in Asien zu machen. Aber seine Zelte in Deutschland abzubrechen, um sie in China wieder aufzustellen, ist eine ganz andere. Auch wenn uns immer bewusst war, dass es ein Risiko birgt, sich auf etwas einzulassen, von dem man keine Ahnung hat. Zumal weitreichende Konsequenzen für uns damit verbunden waren. Pia hatte ein gutes Jobangebot für die Zeit nach der Journalistenschule abgelehnt und ich meinen Posten als Leiter des Berliner Büros einer Sportnachrichtenagentur zur Disposition gestellt. Wir waren natürlich nicht die ersten Ausländer, die sich diesem Abenteuer stellen und in China arbeiten wollten. Doch die meisten ausländischen Mitarbeiter großer Firmen machen einen Erlebnistrip in die Stadt, look and feel, ehe sie endgültig Ja oder Nein zu einem neuen Leben in der aufsteigenden Wirtschaftsmacht sagen. Ein bisschen so wie wir in diesen Dezembertagen. Aber diese Entsandten in spe werden vom Flughafen abgeholt und in ein schönes Hotel gebracht, das ihre Firma zahlt. Vor allem die begleitenden Ehe- oder Lebenspartner müssen schließlich überzeugt werden, weil sie es in der Regel sind, die ohne Aufgabe jahrelang gezwungen sind, sich in wildfremder Umgebung sinnvoll zu beschäftigen. Auf diesen Kennenlerntrips treffen sie schon einmal künftige Arbeitskollegen und andere Landsleute, die ihnen sagen, wo man am besten essen geht und wann sich der Buchclub in der deutschen Schule trifft. Vielleicht schauen sie sich auch schon einmal eine der Villen in den Vorstädten an, die der Arbeitgeber gegen horrendes Geld anzumieten bereit ist, damit die Mitarbeiter und deren Familien sich wohl fühlen, 9000 Kilometer von zu Hause entfernt. Dann fliegen sie nach ein paar Tagen mit dem Gefühl zurück, dass bestens für sie gesorgt sein wird und mit der Gewissheit, dass die Brötchen vom deutschen Bäcker auch in China frisch auf dem Frühstückstisch stehen werden. Uns holt niemand am Flughafen ab. Wir gehen als Freiberufler auf eigenes Risiko ins...


Grzanna, Marcel
Marcel Grzanna wurde 1973 im Ruhrgebiet geboren. Er arbeitet seit vielen Jahren als freier Journalist und Autor. Sein Spektrum umfasst Politik, Wirtschaft, Sport und gesellschaftliche Strömungen in Ostasien, aber auch in anderen Teilen der Welt. Als Auslandskorrespondent lebte er mit seiner Frau neun Jahre in China und schrieb unter anderem für die »Süddeutsche Zeitung« und den »Schweizer Tages-Anzeiger«. Online findet man ihn unter: marcelgrzanna.com


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