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E-Book, Deutsch, 168 Seiten

Grumbach Demo. Für. Alle.

Homophobie als Herausforderung

E-Book, Deutsch, 168 Seiten

ISBN: 978-3-86300-232-9
Verlag: Männerschwarm, Salzgeber Buchverlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ist die "Bewegung" in eine Falle gelaufen, als sie Toleranz für eine "Liebe wie jede andere auch" forderte? Werden nur solche Homosexuelle geduldet, die so leben
wie die Heteros, in festen Partnerschaften, nach deren Mustern? Und wie brüchig ist diese Duldung? "Demos für alle", "besorgte Eltern" und die beschämenden
Reaktionen auf den tödlichen Anschlag von Orlando/USA haben diese längst gärenden Fragen ins Bewusstsein gerückt. Auch die Frage nach den Perspektiven:
Was müssen wir tun, dass sexuelle Vielfalt endlich respektiert wird – egal ob in Partnerschaften oder promisk, lesbisch, schwul, bi oder trans*?
Darüber schreiben Birgit Bosold, Ansgar Drücker, Dirk Ludigs, Bodo Niendel und andere.
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ORLANDO – WAS GEHT MICH DAS AN?
Gabriel Wolkenfeld Menschen, heulend, kreischend, liegen sich in den Armen. Die Kamera hält drauf. Sie absorbiert den Schmerz, ohne ihn in etwas zu verwandeln, das ihm auch nur im Entferntesten gleich käme. Ich sehe Rauch, wo keiner ist. Ich höre Schüsse. Eine Häuserwand stürzt ein. Die Detonation erschüttert meinen Schreibtisch. Kaffee schwappt über. Ein vertrautes Setting, nur die Akteure wurden ausgetauscht. Ein Mann um die Zwanzig berichtet, dass einer seiner Freunde in diesem Club gestorben sei. Dass dieser Club ihnen eine Familie gewesen sei. Ich klicke auf das kleine X in der rechten, oberen Bildschirmecke. Nein, sage ich mir, das ist nicht passiert. Mal wieder ist nichts passiert, auch nicht in Orlando. Ich schalte alles aus. Laptop, Fernseher, Kopf. Ich vergesse Orlando erst einmal wieder, ignoriere, dass mich das, was woanders passiert, doch etwas angeht. Und schließe für mich aus, dass ich irgendetwas mit einer Welt zu tun haben könnte, deren Spielregeln mir missfallen. In der Mittagspause behauptet ein Kollege, er möchte am liebsten in ein tiefes Koma fallen. Angesichts allen Übels dort draußen. Alle nicken verständnisvoll. Auch ich stimme meinem Kollegen, obgleich wenig enthusiastisch, zu. Woran er genau denkt, traue ich mich nicht zu fragen. Der IS schlachtet in Ländern, die kaum mehr existieren, Menschen ab. Das Minsker Abkommen wurde so oft gebrochen, dass man behaupten möchte, es sei mit Geheimtinte geschrieben. Hierzulande nimmt man sich der Sorgen von Menschen an, die sich von der Politik alleingelassen fühlen und sich nicht anders zu helfen wissen, als Flüchtlingsheime in Brand zu stecken. Als sichere Herkunftsländer sollen nun Staaten in Frage kommen, in denen Menschen aufgrund ihrer Homosexualität regelmäßig zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt werden. Erst zu Hause, spät am Abend, verstehe ich, worauf seine Bemerkung abgezielt hat. Ich setze mich den Fakten aus, den Bildern und Geschichten. Ich lese Chroniken des Attentats. Ich schaue mir Fotos des Attentäters an, Omar Mateen mit geschürzten Lippen, in die Kamera seines Handys lächelnd, mal fesch im Anzug, mit lila Krawatte, mal mit kurzrasiertem Haar, auffälligen Augenringen, dumpf dreinblickend. Die Schnipsel seiner Biografie, in welcher Journalisten übereifrig die Motive für sein Handeln suchen, fügen sich zu dem Bild eines Mannes zusammen, der für die Rolle eines Attentäters sorgfältig gecastet scheint. Wieder klicke ich das kleine X in der rechten, oberen Bildschirmecke. Ich möchte meine Zeit nicht diesem Menschen widmen. Wer auch immer er war, solch ein Verbrechen verübt kein gesunder Geist. Mehr noch als die grausame Tat schockiert mich an diesem Abend, dass ich ihr allein rational begegne. Dass das Leben unschuldiger Menschen auf brutalste Weise ausgelöscht wurde, macht mich betroffen, ich finde es schlimm, aber es stürzt mich in keine tiefe Trauer, wirklich ins Koma fallen möchte ich nicht. Was geht es mich an? Warum sollte dieses Attentat mich mehr berühren als andere Verbrechen, die tagtäglich an den unterschiedlichsten Orten der Welt begangen werden? Eine Freundin schlägt vor: Weil seine Opfer Angehörige der Community sind. Das ist der kleinste gemeinsame Nenner, denke ich, ein Nenner, der größer wird, bedenkt man, wie sich die Minuten addieren, die man als schwuler Mann damit verbringt, sich im Schwimmbad oder der Diskothek, im Stadtpark oder in der U- Bahn den Hals nach einem attraktiven Typen zu verrenken; bedenkt man den Schmerz, den man erfahren hat, als man auf dem Schulhof als Schwuchtel bezeichnet wurde oder als Arschficker. Dennoch: Es gelingt mir nicht, das Attentat als Angriff auf meine Person zu verstehen. Ich bin schwul, gut, aber nicht zuvörderst oder ausschließlich. Ich fühle mich nicht angegriffen. Ich bin kein Amerikaner, bin nie dort gewesen. Ich bin nicht schwarz, kein Latino, mein Name lässt sich nur zur Hälfte spanisch aussprechen. Ich habe keine Freunde verloren durch dieses Attentat. Ich werde, wie gehabt, zur Arbeit gehen und meine unversehrten Kollegen sehen. Nicht um Trost zu finden, sondern aus Solidarität mit den Opfern nehme ich am Samstag nach dem Anschlag an der Mahnwache vor dem Brandenburger Tor teil. Umso mehr Menschen kommen, desto besser, denke ich. Denn: Erzähle ich, ich sei neulich mal wieder beleidigt worden, bekomme ich häufig als Reaktion: «In Berlin? Kann nicht sein!» Menschen, die von Homophobie nicht betroffen sind, halten Homophobie hierzulande gern für überwunden. Und tun meine Einwände mit dem Verweis auf schlimmere Probleme ab. Auf den CSD gehen oder eine Mahnmache besuchen verstehe ich als Minimalaktivismus, den es sich abzuringen gilt, auch wenn das Wetter gerade schlecht ist. Man ist sich selbst etwas wert. Oder die Mitmenschen, jene, die auch betroffenen sind oder jene, die verstehen könnten, wären sie bereit, sich für die Probleme ihrer Nachbarn zu öffnen. Vor der Bühne werden Plakate verteilt. Die Gesichter der Opfer sollen hochgehalten werden, während eine der Initiator_innen Namen und Biografien vorträgt. Ob ich auch eins hochhalten würde? Lieber nicht. Ich kann es nachvollziehen, dass man nicht zulassen will, dass diese Menschen getötet und nun nichts mehr als Opfer sind. Dennoch: Weil ich keinen dieser Menschen persönlich kannte, kann ich nicht wissen, ob es ihnen recht gewesen wäre, dass ihr Porträt hier, in einem fremden Land, zu gegebenem Anlass in die Luft gehalten wird. Diese Entscheidung hätten sie selbst treffen müssen. Vielleicht hätten sie nicht gewollt, dass man sich ihrer als Opfer eines Attentats erinnert. Denn berühmt wurden sie nun einmal als das, nicht als Sohn oder Tochter, nicht als Vater, Bruder, als Liebender, als bester heterosexueller Freund, nicht als jemand, der zielstrebig ein Lebensziel verfolgt, sein Studium abbricht oder sich sozial engagiert, als Tänzer, Techniker, Animateur. Jedes einzelne dieser Leben war es wert, gelebt zu werden. Jedes einzelne Opfer hatte noch Jahre vor sich. Das kann sich jeder denken, der sich die in Klammern gesetzten Jahreszahlen anschaut. Indem jedes Opfer nun anhand einiger Fakten vorgestellt wird, erhebt sich der Einzelne aus der Masse der Ermordeten. Die Opfer, eben noch Zahlen, erhalten ein Gesicht, und zwar das eigne, vergrößert und auf bestem Papier gedruckt. Um eine Zahl lässt es sich schwer trauern, ein schönes Gesicht, ein attraktiver Mann, mit dem man in jener Nacht und gern immer wieder getanzt hätte, das tut weh. Die Stimmung ist gedrückt. Ein Mann, der im Pulse regelmäßig als Dragqueen auftritt, steht auf der Bühne. Er spricht zu uns, quasi als Überlebender. Trauernde Menschen umgeben mich. Ich bin angekommen. Mittendrin. Auf einmal ist Orlando nicht mehr ganz so weit weg. Beweint wird der Verlust von Menschenleben, aber auch der Verlust einer Unbeschwertheit, die zu keiner Zeit gerechtfertigt war, aber bequem ist und im Alltag notwendig, um fortzufahren. Man sieht es ihnen an, die Besucher der Mahnwache sind schockiert, eine Generation, jungfräulich, die in gewisse Privilegien hineingeboren ist und die für ihre Rechte nicht hat kämpfen müssen und sich mit einem Zustand arrangiert hat, der bei Weitem nicht optimal ist, aber genügend Freiheiten garantiert, die für die paar Rechte, die noch abzuringen sind, ganz gut entschädigt. Jetzt aber wurde die Community in ihr lamettablinkendes Herz getroffen. Anders als nach den Anschlägen in Paris und Brüssel – und etwas später in Istanbul – erstrahlt das Brandenburger Tor in Gedenken an die Opfer des Attentats vom 12. Juni nicht in den Farben der nationalen Flagge, sondern in Regenbogenfarben. Dies geschieht erst nach heftiger Kritik seitens der Community und insbesondere auf Initiative der Aktivist_innen Margot Schlönzke und Ryan Stecken. Offiziell wird das Zögern der Staatskanzlei mit dem Verweis darauf begründet, dass es sich bei Orlando, anders als bei Paris und Brüssel, um keine Partnerstadt Berlins handele. Während Obama die Opfergruppen ausdrücklich nennt und das Attentat als terroristischen Akt versteht, welcher der gesamten Nation – ‹uns allen› – samt seinen Minderheiten gilt (Obama 2016), verzichtet unsere Regierung in verschiedenen Pressemitteilungen zunächst auf eine Charakterisierung der Opfergruppe. Der Regenbogen macht deutlich, wem der Anschlag gegolten hat. Es verwundert nicht, dass unter den Gästen der Mahnwache sehr viele Menschen sind, die der LGBTI-Community zuzurechnen sind. Wie auch in Orlando, wird in Berlin enge Verbundenheit beschworen. Kampfgeist lodert auf. Das gibt Kraft und spendet jenen, die seiner bedürfen, Trost. Dennoch bedrückt mich, wie homogen die Gruppe ist, die sich an diesem Abend vor dem Brandenburger Tor zusammengefunden hat. Wieder stellt sich die Frage: Wen geht das etwas an? Etwa nur die Schwulen und Lesben, die es im Schwuz, im Südblock oder sonstwo genauso hätte treffen können wie im Pulse? Zwei Monate nach dem Attentat – im Schwulen Sommercamp in Markelfingen am Bodensee: Ich stelle mein Buch über meine Zeit in Jekaterinburg, die Situation in Russland vor: «Wir Propagandisten» (2015). Fast neunzig junge Männer aus verschiedenen Teilen der Republik diskutieren über Politik, lernen Feuer spucken oder erholen sich von Arbeit oder Schule. Die Jugendlichen, meist zwischen 16 und 22 Jahren, lernen sich kennen, finden zueinander und bestenfalls zu sich selbst. Eine queere Community, wo Themen zur Sprache kommen, denen in heterogeneren Gruppen meist wenig Platz eingeräumt wird. Den jungen Männern dient das Camp als ein geschützter Ort, der die Möglichkeit zu Austausch und Vernetzung bietet. Hier können sie sich ausprobieren, ohne befürchten zu müssen, allzu sehr anzuecken. Verkehrte Welt, witzelt ein Teilnehmer. Eine Gesellschaft, die komplett aus Schwulen besteht...


Detlef Grumbach wurde 1955 geboren, studierte Germanistik an der Universität Bielefeld und arbeitete seit 1982 bis 1990 als Buchhändler. Nach der Gründung des Männerschwarm Verlags im Jahr 1992 ist er dort für das Sachbuch-Programm, die Pressearbeit und den Webauftritt zuständig. Er hat zahlreiche Bücher herausgegeben und Beiträge verfasst.
Außerdem arbeitet er als freier Journalist und Literaturkritiker überwiegend für den Deutschlandfunk.


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