E-Book, Deutsch, 140 Seiten
Grünfelder Wird unser Mut langen?
3. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7494-6394-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ziviler Ungehorsam für den Frieden
E-Book, Deutsch, 140 Seiten
ISBN: 978-3-7494-6394-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie konnte es einer Handvoll Friedensbewegten in Mutlangen über Jahre hinweg und gegen sämtliche Anfeindungen gelingen, den Abzug der Pershing-II-Raketen zu erzwingen? Warum engagieren sich die einen, warum schauen andere weg? In welchem Spannungsfeld entsteht Zivilcourage, und was kann Mutlangen noch heute bedeuten als Symbol des zivilen Ungehorsams? "Alice Grünfelder erzählt von einer Zeit im Umbruch, in der sich eine starke Gegenbewegung für den Frieden in Deutschland bildete. Mutlangen steht nicht nur im Zentrum ihres zwischen Reportage, essayistischer Betrachtung und persönlicher Erinnerung changierenden Textes. Es stand 1983 einen Sommer lang auch im Zentrum der europäischen Friedenspolitik, als dort von einer kleinen Gruppe gewaltfreie Protestmärsche und Sit-ins gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen organisiert wurden." Andrea Zederbauer, Wespennest
Alice Grünfelder, geb. 16.6.1964, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd und Mutlangen, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China, von 1997 bis 1999 war sie Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004 bis 2010 die Türkische Bibliothek betreute. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Herausgeberin mehrerer Publikationen, zuletzt "Vietnam fürs Handgepäck" (2012) und "Flügelschlag des Schmetterlings" (2009). Ihr Roman "Die Wüstengängerin" erschien 2018. Mehr Informationen unter www.literaturfelder.com
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Unfälle
Doch außer dem bisschen Sand im Getriebe, den die Friedensbewegung streute, ging in Gmünd alles seinen gewohnten Gang. Zwar war in der örtlichen Presse von Nachtruhestörungen wegen feiernder US-Soldaten die Rede und von Flurschäden durch übende Truppen, was die Kommunalpolitiker und die offizielle Presse mehr beschäftigte als die Stationierung der Raketen. Zwar war es rund um die Bismarck-Kaserne immer ein wenig laut und es würde noch lauter werden, wenn die US-Streitkräfte das Gebäude um eine Kfz-Werkstatt erweiterten. Da fürchteten die Nachbarn noch mehr Belastung, noch mehr Lärm. Würde eine Privatperson diese Baumaßnahme beantragen, würde der Gemeinderat sie ihm verweigern, aber »wo die Vereinigten Staaten von Amerika bauen, sind wir nicht zuständig, zumal man wegen der vielen Unfälle ihnen wohl kaum eine Reparaturwerkstätte verweigern könnte«.29 Über die Unfälle war auch der Oberbürgermeister Schoch sehr besorgt und reagierte mit Unverständnis auf die Beschwichtigungen des damaligen Verteidigungsministers Manfred Wörner. Der kam zwar auf den Flohmarkt nach Gmünd, stellte sich aber wegen seines vollen Terminplans nicht den unbequemen Fragen des Gmünder Gemeinderats. Sattelschlepper mit vierachsigen Anhängern, unter olivgrünen Planen lagen lange, mit Treibstoff gefüllte Röhren, davor und dahinter Armeejeeps, damit kein Unfall passierte. Ein seltsames Gefühl war das immer, wenn die schweren Lastwagen mit ihren Pershings durch die Straßen dröhnten. Eigentlich durfte man die Raketen nie an nur einem Ort lagern, denn sie gaben so ein festes Ziel für die sowjetrussische Armee ab, weshalb sie in der Gegend herumgefahren werden mussten. Und der Frieden konnte eben nur durch Raketen gesichert werden. (Doch spätestens nach dem Unfall bei Heilbronn, bei dem Menschen umgekommen waren, blieben die Raketen in ihren Schuppen.) Wenn die Laster mit ihren schweren Raketen kaum um die Straßenecken kamen, an den engen Kreuzungen vor- und zurückfahren mussten mit ihren schweren Geschützen, schon auch mal ein Haus dabei seine Ecke verlor und sich deswegen im Morgengrauen der Verkehr staute bis hinauf zu den Dörfern, dann war das allemal ärgerlicher als die eigentliche Bedrohung. Diese Raketenausfahrten bargen viele Gefahren. Zahlreiche Unfälle wurden registriert, deren Ursprung nicht nur technischer Natur war, sich nicht immer auf Bremsversagen zurückführen ließ, wie es später die amerikanischen Generäle behaupteten. Und ausgerechnet vor der Stationierung der Pershing II häuften sich die Unfälle. »Bremsversagen wurde zu einer geflügelten Ursachenbeschreibung, wenn es in den 70ern und 80ern unter Beteiligung von Militärfahrzeugen krachte.«30 Der einheimischen Feuerwehr wurde erklärte, dass es sich bei einer Pershing-Rakete um einen riesigen Molotow- Cocktail auf Rädern handelte. Zwar führten die Pershings auf ihren Fahrten durch Dörfer und Wälder keine atomaren Sprengköpfe mit, versicherte jedenfalls die amerikanische Seite. Doch auch ohne Sprengköpfe waren die Raketen gefährlich: Einmal in Brand geraten, würde kein Löschmittel helfen können, erklärte man den Feuerwehrleuten. Innerhalb von drei Minuten wäre der Raketentreibstoff explosionsartig verbrannt und hätte eine Wärmeenergie von etwa 3000 Grad freigesetzt. Dass dieses Szenario nicht unwahrscheinlich war, zeigte eine Reihe von Pannen. Schwäbisch Gmünd liegt unten im Tal, auf der einen Anhöhe liegt die Hardt-Kaserne, auf der anderen die Mutlanger Heide. Immer wieder versagten die Bremsen der Laster auf diesen Straßen. 1978 rammte ein US-Truck auf der Glocke-Kreuzung in Schwäbisch Gmünd einen Pkw, der junge Mann am Steuer war sofort tot. Später raste ein Pershing-Transporter zwischen zwei Wohnhäusern hindurch den Hang hinunter. 1981 ging im Welzheimer Wald eine Pershing auf einer Lafette in Flammen auf, der Sprit entzündete sich, vom Transportfahrzeug blieb nur noch ein metallener Klumpen zurück. Im Sommer 1982 konnten die örtlichen Feuerwehreinheiten Brände verhindern, nachdem die hinteren Reifen von Raketentransportern in Brand geraten waren. Im November 1982 raste ein US-Raketentransporter in ein Gartengrundstück direkt gegenüber der Eisenfabrik Gatter & Schüle. Was, wenn der Transporter direkt in die Fabrik gerast wäre? Ja wäre, wäre, ist aber nicht, wurde beschwichtigt. Am selben Tag mussten bei Karlsruhe wegen eines Unfalls 1200 Menschen evakuiert werden, denn bei einem Raketentransporter versagten die Bremsen, weil ein Konvoi eine falsche, kurvenreiche Strecke genommen hatte. Das Fahrzeug rammte eine Mauer, ein anderes walzte zwei Autos platt und überrollte ein entgegenkommendes Auto, dessen Fahrer getötet wurde. Begleitfahrzeuge des Konvois vergrößerten den Schaden noch, zertrümmerten weitere Autos. Der amerikanische Befehlshaber verweigerte die Auskunft darüber, was genau der Konvoi transportierte, ordnete aber die sofortige Evakuierung des Dorfes an. Eine Überreaktion, schimpfte das deutsche Verteidigungsministerium. Das erste Ersatzfahrzeug, das den Raketentransporter abschleppen sollte, wurde von der deutschen Polizei wegen abgefahrener Reifen gleich wieder zurückgeschickt. Das zweite blieb unterwegs wegen einer Panne liegen. Erst das dritte Fahrzeug konnte endlich den Raketentransporter von der Unfallstelle abtransportieren.31 »Der Weg dieser Konvois ist von nicht gerade geringer Anzahl liegengebliebener Militärfahrzeuge gekennzeichnet«,32 spöttelt der Gegendruck. Es war sonnenklar, dass durch die Stationierung einer noch gefährlicheren Atomrakete, der Pershing II, die Gegend mehr bedroht als gesichert war, zumal die Kommandozentrale in der Bismarck-Kaserne im sowjetischen Visier war. Die amerikanische Seite versprach daraufhin zwar, die Fahrzeuge besser zu warten, doch menschliches Versagen aufgrund der bereits erwähnten ungenügenden Kompetenzen der Soldaten wurde an keiner Stelle erwähnt. Nur eben im Gegendruck, der forderte: Nicht die Fahrzeuge müssen zum TÜV, da bereits die Präsenz von Kriegsgerät eine Bedrohung sei, sondern der NATO-Doppel beschluss müsse aufgekündigt werden. Die BRD werde von den USA zunehmend als amerikanische Kolonie betrachtet, als europäischer Vorposten einer Atomstrategie, was zudem von der Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr länger unterstützt werde, wie Umfragen bestätigten. Verlangt wurde »die sofortige Einstellung des verantwortungslosen Durch-die-Gegend-Fahrens hochbrisanter Atomraketen in unserer dichtbesiedelten Heimat.«33 Doch nicht nur Autounfälle irritieren die Bevölkerung. Das Freiburger Öko-Institut sammelte im Herbst 1982 drei Monate lang Meldungen aus Zeitungen, aus den seitenlangen Aufzählungen seien nur ein paar ausgewählt: Bei Wertheim fuhr ein US-Armeefahrzeug in ein Wohnhaus. Durch Hubschraubertiefflüge wurden 3000 Rebstöcke zerstört. In Marbach beschädigte ein Panzer ein Wohnhaus. Apfelbäume wurden durch Helikoptertiefflug »geköpft«. Ein Acker mit frisch gesätem Saatgut wurde umgepflügt. Panzer in Marbach rissen 1000 Rebstöcke um, walzten Bordsteinkanten und Gehwege zusammen. In Kirchheim wurden Gerstenfelder zerstört, anderswo fiel ein Laster auf einen Spielplatz. Der Hornberg bei Schwäbisch Gmünd war ein riesiges Manövrier- und Übungsgelände, das oft auch die Wacholderheide auf dem Kalten Feld mit einschloss. Ich erinnere mich, dass ausrangierte Tonnen links und rechts als Wegbegrenzung herumlagen und breite Fahrspuren auch außerhalb zu sehen waren. Das ganze Areal wurde schon mal bis zur Unkenntlichkeit in eine Schlammwüste verwandelt.34 Bergwacht und Albverein versuchten immer wieder, die amerikanischen Soldaten auf die Bedeutung der Naturschutzschilder aufmerksam zu machen, aber die Übungen wegen eines imaginären Feindes waren wichtiger als der Schutz von Silberdistel und Wacholderbüschen. Aus Mutlangen berichtet Gegendruck, dass bei einem Generatorausfall 20 Liter Dieselöl ausgelaufen seien. Nachdem der Boden im Februar aufgetaut war, sickerte das Öl ins Grundwasser. Das Forstamt wurde informiert, dass der Bach stinke. Nichts passierte. Eine Schulklasse meldete Ende März erneut den stinkenden Bach. Nichts passierte. Erst als Anzeige erstattet wurde, wachten die deutschen Behörden auf, schoben sich aber gegenseitig die Verantwortung zu. Der Bach stank weiter. Die Untätigkeit der Behörden passe zur gängigen Informationspolitik, moniert Gegendruck-Redakteur Werner Jany. Die Polizei sei zwar ständig vor Ort, agiere aber nur gegen die Demonstranten, nicht jedoch gegen Umweltverschmutzung im großen Stil. Gleichzeitig würde jeder Schrebergärtner unnachsichtig bestraft, wenn er unkorrekt Gartenabfälle verbrenne, so Jany.35 Weil man im Zusammenhang mit der amerikanischen Besatzungsmacht nur Totalschäden im Auge hatte, gewöhnte...