Grünfelder | Die Wüstengängerin | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Grünfelder Die Wüstengängerin

Roman
erste Auflage 2018
ISBN: 978-3-85990-339-5
Verlag: Edition 8
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-85990-339-5
Verlag: Edition 8
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die Sinologiestudentin Roxana reist Anfang der 1990er Jahre die Seidenstrasse entlang, um noch unbekannte buddhistische Höhlenmalereien in der Provinz Xinjiang im Nordwesten Chinas zu erforschen. Sie will zeigen, dass die Region nicht immer islamisch war, sondern buddhistische Wurzeln hat. Roxanas jahrelange Recherchen führen nicht zum erhofften Erfolg, mit leeren Händen will sie jedoch nicht nach Europa zurück, zumal es nichts gibt, wofür es sich lohnen würde heimzukehren. Ihr Aufbruch in die Fremde verliert sich im Sand der Wüste Taklamakan, der ›Wüste ohne Rückkehr‹.
20 Jahre später reist die schwerkranke Linda für ihr letztes Entwicklungsprojekt nach Xinjiang. Doch die Behörden verweigern die zugesicherte Zusammenarbeit. Im Gästehaus zur Untätigkeit verdammt, stösst Linda auf die Aufzeichnungen, welche die verschollene Roxana zurückgelassen hat, und sie folgt deren Spuren.
Vor dem Hintergrund des Widerstands der UigurInnen gegen die chinesische Regierung in Xinjiang, der spätestens seit 2009 auch im deutschsprachigen Raum Schlagzeilen macht, verstrickt sich das Schicksal der zwei eigenwilligen Frauen. Erstmals wird aus europäischer Perspektive von der Geschichte und Gegenwart einer wenig beachteten Region erzählt. Feinfühlig und kenntnisreich zeichnet die Autorin ein Panorama der Schicksale von Menschen, die in China an den Rand gedrängt werden.

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Kapitel 1 Westwärts Leises Rascheln. Hände an ihrem Schlafsack, die sich schnell wieder zurückzogen. Einen Schlitz breit öffnete sie die Augen. Lichtstaub flirrte im Abteil. Vor ihrem Gesicht eine Hand, die sich abstützte. Becher fielen klappernd zu Boden, rollten unter die Pritsche. Sie schloss die Augen wieder, hatte schlecht geschlafen. Im Lautsprecher knackte es: »In wenigen Minuten passieren wir die berühmte Jiayuguan-Festung, einst letzter Grenzposten des chinesischen Reiches unter den Ming-Kaisern …« Pferdehufe trappelten in den Lautsprechern an den beiden Enden des Abteils, zwei Reiterheere prallten genau über ihrem Kopf zusammen. Von der hölzernen Pritsche sah sie hinunter auf die Kinder und Erwachsenen, die sich vor dem Fenster drängten. Die ganz vorn drückten sich die Nase an der Scheibe platt, keiner wollte sich diesen Anblick entgehen lassen. Sie legte sich bäuchlings hin, damit sie zumindest einen Streifen der steinernen Wüstenlandschaft sehen konnte. Die Lautsprecher krachten, erzählten schrill von weltberühmten Reisenden und noch berühmteren Herrschern, spuckten schliesslich militärische Klänge aus und verstummten auf einen Schlag. Die Rufe aber wurden immer lauter, die Reisenden schubsten einander und zeigten auf das, was sich gleich ins Zugfenster schieben würde. Der Zug, so schien ihr, drosselte das Tempo, und plötzlich war sie zu sehen. An den Ecken und auf den Zinnen flatterten gezackte und bunte Wimpel, in der Mitte erhob sich die lehmfarbene Festung. Das mehrfach geschwungene Dach und die Kanonenrohre glänzten in der Morgensonne. Still schauten die Mitreisenden hinaus, die sich doch sonst so gern und laut wie Kinder freuten. Einigen war vielleicht mulmig zumute, weil sie nicht wussten, was sie jenseits der einstigen Mauer erwartete. Hier verliess der Reisende China, hier begann der Wilde Westen, das »neue Gebiet« – Xinjiang. Ihr war, als ob jemand sie beobachtete, und sie schaute sich um. »Godd moning! How ayou!«, grüsste ein schmächtiges, bebrilltes Jüngelchen, das nur auf eine passende Gelegenheit gewartet zu haben schien. Es hockte auf der Kante der unteren Pritsche, hatte die Beine übereinandergeschlagen und schaute sie hoffnungsvoll lächelnd an. Der wievielte English speaker auf der Suche nach practice war das nun in den zwei Tagen, die sie mit dem Zug westwärts rollte? Sie gab ihm mit einem Kopfschütteln zu verstehen, dass sie nichts verstand und auch keine Lust auf English conversation am frühen Morgen hatte – mochte er die Geste deuten, wie er wollte. Der Junge aber liess nicht locker: »Godd moning. Draussen war das ganz berühmte Jiayuguan. Gebaut von Ming-Kaisern. Gegen böse Barbaren im Westen. Schon Laotze war hier und hat berühmtes Buch geschrieben. Daodejing, kennst du? Und die grosse berühmte Mauer wird beschützt von diesem Tor. Kommst du aus Amerika? Kannst du mir Englisch beibringen?« Sie tat, als verstünde sie ihn nicht, und kramte in ihrem militärgrünen Rucksack nach der Dose mit den Teeblättern und etwas Essbarem. Kurz darauf sprang sie von der Pritsche herab, musste allerdings aufpassen, auf keinen der Füsse zu treten, die den vielen Erwachsenen und Kindern gehörten. Auf dem kleinen Tisch am Fenster suchte sie nach einem Platz für ein paar zerdrückte Hefesemmeln und eine Handvoll Erdnüsse. Für später, wenn sie es geschafft hätte, sich zum Wasserkessel am anderen Ende des Wagens durchzudrängeln. »Ah ja, endlich aufgestanden, die Ausländerin. Hast du Jiayuguan gesehen? Auf, auf, iss was!« Die Reisenden, mit denen sie die letzten 36 Stunden dieses Abteil geteilt hatte, wendeten sich ihr alle gleichzeitig zu. »Muss mir erst das Gesicht waschen, auf die Toilette gehen, vielen Dank. Wie weit ist es noch bis Daheyuan?« »Die übernächste Station. Jetzt komm, setz dich, hier, nimm von der Melone.« Eine junge Chinesin mit einem Kind auf dem Schoss hielt ihr lächelnd einen Melonenschnitz hin, den sie nicht ablehnen konnte und im Stehen ass. »Schmecken gut, unsere Melonen, nicht wahr? Kommen aus Hami, sind berühmt in ganz China«, kam es jetzt wieder auf Englisch. Offensichtlich wollte der Junge nicht einsehen, dass sie keine Lust auf ein Gespräch hatte und ohnehin die Landessprache beherrschte. Oder wollte er sich vor den anderen mit seinen Englischkenntnissen brüsten? Mit Zahnbürste und -pasta in der einen, dem Teebecher in der anderen Hand zwängte sie sich zwischen den Leuten auf dem Gang durch. Die mussten in der Nacht unterwegs zugestiegen sein und hatten sich ohne Platzkarte in den Schlafwagen geschlichen, während die Schaffner vorn im Kabuff schliefen. Geschlossene Abteile gab es nicht, vielmehr waren jeweils sechs Holzpritschen mit dünnen Wänden voneinander abgetrennt und zum Gang hin offen. Es kam oft vor, dass sich nachts übermüdete Körper auf die Fussenden der Pritschen schoben – in der Hoffnung, von den Schlafenden nicht mit einem Fusstritt hinabbefördert zu werden. Auf dem Weg vom Zugabort zum Wasserkessel erblickte sie aus den Augenwinkeln ein weisses Gesicht, das ihr zuvor noch nicht aufgefallen war. Offenbar einer dieser Rucksackreisenden, die mal schnell die Seidenstrasse »machen« und dann runter nach Pakistan wollen. In Gedanken versunken, stolperte sie über ein Paar ausgestreckte Beine. Ihr Straucheln liess den Westler aufmerken, er nickte ihr zu, und seine Augen begannen zu strahlen. Sie erwiderte seinen Blick mit einem Lächeln, das knapper und schmaler nicht hätte sein können, und drängelte sich weiter durch die Menge. Vor dem Kessel stand bereits eine Schlange. Hoffentlich gab es noch Wasser, wenn die Reihe an ihr war, sonst müsste sie eine Stunde warten und ihr Glück erneut versuchen. Hinter ihr murmelten die Leute leise »Ausländer«, sie reagierte nicht, bis plötzlich ein »Hi« an ihr Ohr drang. Langsam drehte sie sich um. Alles gaffte, begierig zuzusehen, wie sich zwei Ausländer begrüssen. Ihre Zunge fühlte sich pelzig an, und auf einmal roch sie ihren Körper. Sie wartete ab, ob noch etwas folgen würde. Ja, tat es. Die Fragen nach dem Woher und Wohin beantwortete sie einsilbig, hörte seinen Ausführungen nur halb zu und schaute wieder nach vorn auf die Wartenden. Nicht aus dem Sinn aber gingen ihr seine Augen: das helle Blau, das sich in Ringen um die Pupillen legte, die einen aufsogen, tief fallen liessen. Sie hatte nur kurz hinein und schnell wieder auf die Menschen vor ihr gesehen. Langsam nur ging es in dem Gedränge weiter. Er hatte inzwischen gemerkt, dass aus ihr an diesem Morgen nicht viel herauszubekommen war, und schwieg endlich. Als sie jedoch mit dem Mann am Kessel ein paar Worte wechselte, horchte der Westler auf. »Du sprichst ja Chinesisch«, sagte er und zog die Bögen über seinen Augen noch ein wenig höher. Sie nickte stumm und machte kehrt, ohne ihn noch einmal anzusehen. Dieses Mal waren keine Beine, keine Schuhe im Weg, sie hastete vorwärts, verschüttete beinahe das Wasser, das sich von den Teeblättern langsam braun verfärbte. Das englischwütige Jüngelchen hatte sich glücklicherweise verzogen, stattdessen lag auf ihrer Pritsche ein schmächtiger Mann. Er hoffte wohl, dass sie ihn von unten nicht sehen würde, doch seine Füsse in durchlöcherten Socken hingen über die Kante, ein abgewetzter Ellbogen schaute unter dem hochgerutschten Ärmel seines Jackets hervor. Vermutlich einer der erschöpften Wanderarbeiter, die auf der Suche nach Arbeit in die entlegensten Winkel Chinas zogen, weil es überall besser war als dort, wo sie herkamen. Sollte er doch liegen bleiben. Sie setzte sich auf das untere Holzbett, pustete die Teeblätter in ihrem Becher vorsichtig vom Rand weg und trank einen Schluck. Xu, der Ingenieur, sass ihr gegenüber. Ohne zu zögern nahm er den Faden des Gesprächs wieder auf, das sie irgendwann in den letzten eineinhalb Tagen begonnen hatten. »Nächster Halt ist Hami, dann kommt Daheyuan, dort nimmst du den Bus nach Turfan. Steig bloss nicht auf einen dieser Lastwagen, die Fahrer sind berüchtigt für ihre verrückte Fahrweise«, riet er ihr. Der Ingenieur hatte ihr seine Geschichte bereits in aller Ausführlichkeit erzählt. Er war in Shanghai gewesen und hatte über Beziehungen versucht, Arbeit zu bekommen. Unverrichteter Dinge fuhr er jetzt zurück nach Ürümqi. Seine Eltern stammten aus Shanghai, hatten in den Fünfzigerjahren aber in Turfan auf einem Baumwollfeld arbeiten müssen. Damals hatte Mao alle jungen und tatkräftigen Shanghaier nach Xinjiang geschickt, damit sie den Nordwesten des Landes aufbauten. Zuvor mussten sie allerdings in der mörderischen Hitze dieser Provinz Bewässerungskanäle graben. Menschen, die noch nie zuvor eine Schaufel in der Hand gehalten hatten. Xus Eltern waren Russischlehrer und stammten beide aus gebildeten Familien. Sengende Sonne, fremde Sitten, um sie herum Leute, die in einer...


Grünfelder, Alice
Alice Grünfelder, geboren 1964, studierte nach einer Lehre als Buchhändlerin und einem längeren Asienaufenthalt Sinologie und Germanistik in Berlin und China. Sie arbeitete jahrelang als Lektorin, betreute unter anderem die Türkische Bibliothek des Unionsverlags und betrieb eine Agentur für Literatur aus Asien. Sie ist als freie Lektorin tätig und hat mehrere Erzählbände aus Asien herausgegeben. Die Wüstengängerin ist ihr erster Roman.

Alice Grünfelder, geboren 1964, studierte nach einer Lehre als Buchhändlerin und einem längeren Asienaufenthalt Sinologie und Germanistik in Berlin und China. Sie arbeitete jahrelang als Lektorin, betreute unter anderem die Türkische Bibliothek des Unionsverlags und betrieb eine Agentur für Literatur aus Asien. Sie ist als freie Lektorin tätig und hat mehrere Erzählbände aus Asien herausgegeben. Die Wüstengängerin ist ihr erster Roman.



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