E-Book, Deutsch, 250 Seiten
Grüneberger Lisa, siebzehn, alleinerzogen
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8392-7128-5
Verlag: Gmeiner-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Leipzig 1991
E-Book, Deutsch, 250 Seiten
ISBN: 978-3-8392-7128-5
Verlag: Gmeiner-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Die DDR geht zu Ende wie die Sommerzeit. Die Auslagen werden nun bunter, auch die Lackfarben der Autos. Die Öffnung von Handelsketten erfolgt im gleichen Takt, wie die Schließung von Betrieben. Die neue Freiheit geht einher mit der Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und bezahlbaren Wohnraums. Das gilt auch für Lisas Familie. In dieser Zeit nimmt das Mädchen Kontakt zu ihrem, im Westen lebenden, Vater auf und besucht ihn. Die Entfremdung ist spürbar. Gelingt es ihnen, sie zu überwinden?
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1
Es war der Montag nach dem zweiten Advent, da kursierte in der großen Hofpause unter den Jungs der Sekundarstufe II eine Liste, die angeblich auch auf deren Klo ausgehangen hatte. Die Liste, die mir zugesteckt wurde, enthielt verschiedene Spalten. Darunter eine mit allen Mädchennamen ab Klasse 10 und daneben weitere Spalten, in denen Bewertungen in Form von Zahlen standen. »Brüste, Arsch, Beine, Gesicht, Haare, Haut« stand in der Kopfzeile – und alles wurde benotet. In der drittletzten Spalte dann ein J oder N für »offen«, daneben die Spalte »zickig«, und am Schluss markierten Kreuze die Kategorien »fickbar«, »nicht fickbar« oder »Schlampe«. Meine Freundin Marlene und ich gehörten zum Durchschnitt, galten als »zickig« und »nicht fickbar«. Bei »Brüste« kam Marlene, die etwas runder ist als ich, sogar auf eine drei, ich auf vier. Auch bei »Haar« schnitt sie besser ab. Hat sie doch nicht solche »Schnittlauchlocken« (O-Ton meine Mam) wie ich, sondern volles Haar, das nach dem Waschen noch voller ist. Als Macherinnen unserer Schülerzeitung Schulze hatten wir an dem Tag die Mädchen unserer Klasse nach dem Unterricht zusammengetrommelt und sie mit der Liste konfrontiert. Einige liefen rot an, andere kicherten. Wieder andere begannen damit, sich gegenseitig zu mustern. Bei einigen Mädchen hielt sich die Empörung in Grenzen. Sie machten, als wir sie um ihre Meinung baten, Marlene und mir gegenüber gar keinen Hehl daraus, dass sie stolz darauf waren, mit ihrem Teint, ihrer Frisur, ihrem Po oder ihrer BH-Größe zu punkten. Allerdings war es auch nur eine relativ kleine Gruppe von Jungs, die sich in der Ecke an der Turnhalle zusammengefunden hatte und sich umschaute, auf die Liste zeigte und fast immer losprustete. Im Nachhinein war ich froh, dass Ben, mit dem ich bis zum Ende der Sommerferien gegangen war, nicht unter ihnen war. Noch hatten wir ja keine Ahnung, dass sich die Jungs auf Kosten von uns Mädchen amüsierten. Ein Exemplar der Liste landete dann auch beim alten Direktor, den wir jetzt Schulleiter nennen sollten, bis er im Sommer darauf abgelöst wurde. Der runde Herr Rockstroh trat vor alle oberen Klassen und fragte nach den Verfassern. Es war nicht überraschend, dass sich unter den Jungs aus unserer Klasse niemand als einer dieser selbsternannten Statistiker ermitteln ließ. Da gab es nur zwei, die wussten, dass sie von Mädchen bewundert werden. Doch denen war eine solche Sauerei nicht zuzutrauen. Weder Det, der sehr darunter litt, wenn er bei seinem kompletten Vornamen aufgerufen wurde, noch Steve, der natürlich in unseren Breiten Schtief hieß. Beide spielten sie Gitarre und standen manchmal nachmittags in der Petersstraße vor dem HO-Kaufhaus, das jetzt zu Karstadt gehörte, und vergrößerten mit ihren gecoverten Sting- und Bob-Dylan-Songs ihr Taschengeld. Sie hatten uns erzählt, dass die Hütchenspieler dort ihr Metier absolut beherrschten und die Leute scharenweise darauf reinfielen. Die Hütchenspieler warfen den beiden gern mal ein paar Mark in den offenen Gitarrenkoffer. Denn die Musik brachte ihnen Kundschaft, die immer wieder aufs Neue versuchte, den Becher mit der Silberpapierkugel zu finden. Finger weg!, warnten uns die Jungs: »Wenn mal einer gewinnt, dann einer von denen, der so tut, als sei er ein Passant, und dann sofort wieder in der Menge untertaucht.« Wie wir hörten, hielten die Jungs der anderen Klassen dicht, und es war zu befürchten, dass die Herabwürdigung von uns Mädchen für die Schreiber dieser Listen folgenlos bleiben würde. Unser Rockstroh meinte, das sei zu uns rüber geschwappt. Er hätte schon von Gymnasien im Westen gehört, gerade von Eliteschulen, wo dergleichen Bewertungen gang und gäbe wären. Das Beste sei, nach seiner Meinung, den ganzen Vorgang einfach zu ignorieren. Auf jeden Fall sollten wir als Redaktion der Schülerzeitung dem weiter keine Beachtung schenken, dann würde das die Urheber dieser Zusammenstellung am meisten ärgern. Nein, so rational eingestellt waren weder Marlene noch ich. Als ich Mam bat, die Liste, bei der wir vorher die Vornamen geschwärzt hatten, auf Arbeit als Faksimile zu bearbeiten und für unsere Zeitung zu verkleinern, war sie völlig geschockt. Natürlich suchte sie sofort nach meinem Namen auf der Liste und fand ihn auch, weil er so kurz ist. »Zickig bist du nicht, auch wenn es hier steht«, meinte sie, »na, und das andere, das hat ja noch Zeit. Und ärgere dich nicht. Bevor du unterwegs warst, ging das bei mir auch eher in Richtung Waschbrett. Mach dir keine Sorgen, das mit dem Busen wird schon noch.« Marlene und ich wollten die sexuelle Stigmatisierung unbedingt thematisieren und ließen uns von den Vorbehalten des Schulleiter-Direktors nicht beirren. Wir setzten der »Busen-Beine-Po«-Liste Äußerungen von Mädchen zu den Jungs ihrer Klasse entgegen, die wir in den Pausen anonym einsammelten. Keine Frage, dass unser Niveau ein anderes war und wir die Namen natürlich anonym hielten: A für André, B für Bertram, C für Christian und Conrad, E für Edgar und Erik, F für Felix, H für Hagen, P für Philipp und Philip, R für Ralph und Ralf, S für Stephan und Stefan, T für Tilmann und Tom. M stand gleich für mehrere Mikes und Maiks, einen Marcel und einen Michael. Human, wie wir waren, haben wir Kai-Uwe nur mit K abgekürzt und nahmen ebenso J für Jens-Oliver. All jene, die uns Mädchen auf ihre Weise klassifiziert hatten, sollten es zurückbekommen. Uns motivierte die Vorstellung, so würden wir auch den oder die Anstifter treffen. Die Mädchen, die sich an unserer Umfrage beteiligten, hatten sich bei ihrer Bewertung strikt an die Vorgabe gehalten. Wir fragten ganz direkt: »Was haben die Jungs in deiner Klasse oberhalb der Gürtellinie?« Nur wenige erreichten eine Eins. In der Rubrik »bringe es auf einen Begriff«, erhielten wir Antworten wie »Dünnbrettbohrer«, »Charmebolzen«, »geistiger Tiefflieger«, »Vollpfosten« oder »guter Typ«. Immerhin kam sogar »Gentleman (hält auch mal die Tür auf)« vor. Leider erschien die Schülerzeitung mit erheblicher Verzögerung drei Tage vor den Weihnachtsferien. Vonseiten der Schulsekretärin gab es über eine Woche lang für das Aufschieben des Kopierens nur fadenscheinige Begründungen. Einmal lag es am Toner, der leer war, das andere Mal war gerade das Papier ausgegangen, das dritte Mal der Kopierer kaputt und der Monteur noch nicht eingetroffen. Eigentlich hatte die Schulsekretärin die Aufgabe, uns bei der Vervielfältigung der von uns zusammengestellten Vorlage zu unterstützen. Das hatte zu Beginn des Schuljahres der neue Schülerrat beschlossen, der einmal pro Woche im Zimmer der ehemaligen FDJ-Vorsitzenden zusammenkam und zu dem auch Marlene und ich als Redakteure gehörten. Und bei all den vorangegangenen Ausgaben hatte das bisher stets gut funktioniert. Unsere Schulze erschien nur einmal alle vier Wochen und bestand lediglich aus vier doppelseitig beschriebenen DIN-A4-Blättern, die allein schon durch Fotos und Berichte von Schulausflügen, Comics und gelegentlichen Tipps zu Büchern, CDs und Filmen gut gefüllt waren. Nach dem Kopieren wurden die Blätter an einer Ecke geklammert. Wir veröffentlichten auch eine »Meckerecke«, die allen Schülerinnen und Schülern der Oberstufe offen stand. Es gab an der Tür vom Schülerrat einen Briefkasten. Dort konnte jede und jeder ihren oder seinen Kommentar hinterlassen, und wir siebten dann aus. Beschimpfungen wanderten gleich in den Papierkorb, egal, wem sie galten. Meist war natürlich eine Lehrerin oder ein Lehrer Mode. Als dann die Dezember-Ausgabe endlich hergestellt war, sah sie aus wie der Schnee in der Stadt, wenn er lange lag und ihm kein neuer gefolgt war. Das schöne bunte Weihnachtslayout, als Aufmacher, und unsere »Überraschung« auf Seite zwei und drei »Heute, Leute, wird’s was geben«, bewusst mit einem Knüppel und einem Sack dekoriert, erschien nicht in Farbe, sondern schwarz-weiß. Die meisten Fotos auf den folgenden Seiten sahen grau aus. Die Stimmung war im Keller, als wir in der Redaktion die Kopien sortierten und zusammenklammerten. Mam hatte die Kopien nach Dienstschluss auf ihrer Arbeit gemacht und, wie sie mir sagte, das Papier dafür aus eigener Tasche bezahlt. Ein Packen von 500 Blatt. »Steck’ was in die Kaffeekasse«, hätte ihr Chef gesagt, »der Kopierer ist geleast, da wird jeder ›Blitz‹ gezählt. Aber im Dezember sind die meisten im Urlaub, da fallen nicht so viele Kopien an, und wir bleiben im Limit.« Man könnte sagen, die Weihnachts-Schulze war noch warm, als Marlene und ich zu unserem Schulleiter-Direktor mussten. In der großen Pause zuvor hatten alle Helfer die Zeitung in ihren Klassenstufen verteilt. Da wir sie bisher im Sekretariat kostenlos herstellen konnten, verlangten wir auch für diese Ausgabe kein Geld. Gemäß dem Modus, was nichts kostet, ist meist auch nichts wert, hatten wir von Anfang an eine Form gefunden, dem zu entgehen. All unsere Schülerzeitungsverteiler baten jeweils um eine Spende von 50 Pfennig. Wir sammelten jeden Monat Geld für ein Projekt der evangelischen Kirche. Es war für Kinder aus der Ukraine und aus Weißrussland gedacht, die infolge der Tschernobyl-Katastrophe an der Schilddrüse erkrankt waren. Durch Spenden und staatliche Hilfe war es den Kindern möglich, Ferien in der Sächsischen Schweiz zu machen. Höhenluft gegen Verstrahlung. Beliebt war es unter den Schülern, uns eine Ostmark zu spenden, die aus ihren Sparbüchsen stammte. Was wir uns dabei gedacht hätten, fragte Herr Rockstroh, der bei uns weiter kurz Direx hieß. Er wirkte gar nicht so gemütlich wie sonst. Da wir mutig eine Schweigesekunde verstreichen ließen, sah er uns...