Roman
E-Book, Deutsch, 239 Seiten
ISBN: 978-3-406-65716-0
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In ihrem neuen Roman erzählt Sabine Gruber die Geschichte zweier Frauen in zwei verschiedenen Städten, Mira in Rom und Irma in Wien. Beide Frauen leben mit einem beunruhigenden Verdacht: Mira ist Altenpflegerin und sorgt sich um ihre Ehe. Der eigene Mann wird ihr immer fremder, sie findet sich in der Rolle der Detektivin wieder, spioniert ihm hinterher. Warum schläft ihr Mann nicht mehr mit ihr? Irma zieht ihr Kind allein groß, sie ist Kulturjournalistin und interviewt Menschen mit aussterbenden Berufen, stellt sich aber vor allem selbst Fragen: Wer ist der Tote, der ihr mit seinem Spenderorgan ein neues Leben ermöglicht? Wie lebt es sich mit einem fremden Teil im eigenen Körper? Wie als Überlebende?
Zwei Frauen auf Spurensuche, zwei Frauen voller Liebes- und Lebenssehnsucht. Was verbindet die beiden?
'Über Nacht' ist auch ein Buch über das Alter als Realität und Utopie, über den Zufall als Lebens- und Todesmacht und über die Verquickung von Leben und Schreiben.
Locker anknüpfend an die Thematik ihres vielgelobten Romans 'Die Zumutung', erzählt Sabine Gruber in ihrer schönen, bilderreichen Sprache von den Überraschungen des Lebens und der Willkür des Gerettetwerdens, von der Zerbrechlichkeit der Liebe und dem Aufflammen einer neuen, von Freundschaft und Fürsorge und vom Tod, der erfinderisch macht.
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II
Nichts schob sich zwischen den Himmel und das abgeschabte Skelett, nur ein paar ausgetrocknete Büsche am Horizont. Der Wind wehte und trieb die feinen Staubpartikel über den Körper. Trockenheit modellierte Bruchlinien, Abschuppungen und Spalten in den Boden. Der aufgewirbelte Sand sammelte sich, ließ Dünen entstehen, wachsen und wandern, bis sich die Wellen und Flächen wieder im Sturm verloren. Die Sandkörner drangen wie Nadelstiche in die Haut. Irma kratzte sich, wälzte sich, rollte über Schotterfelder ohne Schattenschutz. Da waren nur welke Sträucher, einzelne Halme in Mulden, wie Kanülen in den Beugen stehengelassen. Die Luft vibrierte, keine Wolken. Irma tastete über die Kratzspuren, die Verkrustungen und Faltungen – ein Klingeln. Sie setzte sich auf, schüttelte sich, fiel zurück ins Bett und griff nach dem Schalter. Der Strahl der Lampe fuhr ihr in die Augen. Bevor sie noch «Hallo» sagen konnte, erinnerte sie sich an Mutters terrorisierten Blick; alle waren damals im Korridor zusammengelaufen: Vater in seinem gestreiften Pyjama, Mutter mit ihren von der Angst unkoordinierten Bewegungen, Richard, der ältere Bruder, der sich sogleich auf die Kommode gesetzt und die Arme vor der Brust verschränkt hatte. Wer in der Nacht anruft, kann nur der Tod persönlich oder dessen Botschafter sein, hatte Mutter gesagt. Diese körperlosen Stimmen aus dem Hörer waren ihr ohnehin unheimlich gewesen. Irma sah sich im Türrahmen zum Kinderzimmer stehen, sah Mutter als erste nach dem Hörer greifen. «Ja?» Sie hatte den Kindern eingeschärft, in der Nacht niemals den Namen zu nennen, als könnten sie sich dadurch dem Unglück entziehen. Späte Stimmen, die ins Haus drangen, bedeuteten nichts Gutes. Allein das Stocken zu Beginn des Anrufs, das bloße Atmen ließ die Welt aus den Fugen geraten. Mutters «Ja?» war damals ein lautes «Nein, das ist nicht wahr» gefolgt. Sie hatte sich an der Garderobe festgehalten. Wieder und wieder hatte Irma ihre Mutter sagen hören: «Nein, das ist nicht wahr. Nein. Nein.» Dann war sie in die Schuhe geschlüpft. «Ich komme sofort.» «Hallo», sagte Irma mit brüchiger Stimme, und noch einmal: «Hallo.» Sie bekam das Gesicht der Mutter nicht aus dem Kopf. Kein Klingeln ohne Erschrecken. Jedesmal sah sie vor sich, wie alle im Korridor zusammenliefen, obwohl Irma schon lange allein lebte, allein mit ihrem Sohn. «Frau Irma Svetly? Allgemeines Krankenhaus. Wir haben eine Niere für Sie.» Irma stand neben dem Telephon, die Hand lag auf dem Hörer. Im Halbdunkel des Vorzimmers fand sie ihr Gesicht im Spiegel. Kopf, Arme, die zittrigen Beine, das weite T-Shirt – da waren nur noch Bruchstücke. Wohin mit Florian jetzt in der Nacht? Sie begann durch die Wohnung zu laufen, machte alles gleichzeitig, zog sich aus, griff nach dem Kulturbeutel, nach einem frischen Handtuch, streifte sich das alte Kleid über, suchte das Adreßbuch, um es wieder zurück auf den Schreibtisch zu legen, packte das Diktaphon in die Tasche und mußte an Marianne denken, die seit vier Jahren an der Maschine war. Marianne wartete auf einen Anruf wie diesen, wartete, daß die Abhängigkeit ein Ende haben würde, sich die porösen Knochen erholten. Sie wartete mit geborgter Geduld. Und wieder hatte es nicht Marianne getroffen. Ich muß Richard anrufen, dachte Irma. Aber Richards Handy war ausgeschaltet. Sie versuchte es unter der Festnetznummer – endlich ein verschlafenes «Wer spricht?» «Ist Richard bei dir?» «Nein. Vielleicht in seinem Zimmer. Ist etwas passiert?» fragte Davide. «Das Krankenhaus hat angerufen. Ich krieg’ eine Niere.» Irma hörte, wie Davide aufstand, das Sternparkett knarrte unter seinen Füßen. «Das ist – das ist großartig», sagte Davide. «Hast du es auf seinem Handy probiert?» «Es ist ausgeschaltet.» «Schon wieder.» Davides Stimme war leise. Irma hörte, wie er seufzte. «In seinem Zimmer ist er nicht.» «Kannst du Florian übernehmen?» «Ich komme gleich», sagte Davide. Gleich, dachte Irma noch, ist der Weg durch zwei Bezirke. Sie zog sich wieder aus, stellte sich unter die Dusche. Vor ein paar Jahren war jeder Klingelton noch ein anderes Stück Hoffnung gewesen. Aber von Florians Vater hatte Irma nichts mehr gehört. Sie hatte ihn angerufen, gewartet, ausgeharrt, hatte es klingeln lassen, bis aus dem Freizeichen ein Besetztzeichen geworden war. Wochen, Monate hatte Irma Rino hinterhertelephoniert – am anderen Ende der Leitung war es still geblieben. Je länger sie in den Hörer hineingehorcht hatte, desto schneller waren die Erinnerungen an seine Wohnung in Rom verblaßt; all die kleinen Details wie der Globe-Sessel am Fenster oder die Hängelampe aus Milchglas, die sie sich ins Gedächtnis gerufen hatte, um sich die Zeit des Wartens zu vertreiben, waren irgendwann nicht mehr abrufbar gewesen. Formen und Farben hatten nicht mehr gestimmt. Von seinem Sohn hatte Rino nie erfahren. Er würde auch nicht von Irmas Glück erfahren und schon gar nicht vom Unglück eines Fremden, dessen Niere in einem Styroporkasten, verpackt in Plastik und Eis, auf sie wartete. Irma drehte das Wasser ab, der Duschkopf entglitt ihrer Hand, schlug gegen das Knie. Sie konnte kaum noch stehen, hatte Mühe, sich abzutrocknen, ins Kleid zu steigen. Die Kusine fiel ihr ein; sie hatten sich mehrmals gestritten. Obwohl Greta Krankenschwester war, schienen ihr die Argumente der Transplantationsgegner vertrauter als jene Irmas. Was den Tod ausmache, das könnten eben nicht die Ärzte entscheiden, hatte Greta gesagt und Irma vorgeworfen, sie würde den Tod immer nur vom eigenen Leben aus betrachten, immer nur als ihr eigenes Ende, nie als Übergang. Es gäbe keine Gewißheit, keine klare Trennungslinie zwischen Noch-Leben und Schon-gestorben-Sein. Die einzige Gewißheit sei Gott. Greta hatte gut reden. Sie war nie krank gewesen, klagte über gelegentliches Zahnfleischbluten. Die beiden waren sich seither nicht mehr begegnet. Florian schlief ruhig. Als Irma ihn zudeckte und seine Wange küßte, drehte er sich auf den Bauch. «Nächsten Sommer werden wir zwei wieder ans Meer fahren», sagte Irma leise. Sie setzte die Stofftiere ans untere Bettende und eilte zum Fenster, damit sie Davide rechtzeitig abfangen konnte und er nicht klingeln mußte. Irma drückte die Stirn gegen die Scheibe. Das Glas war angenehm kühl. Ihre Hände lagen auf dem Bauch, der sich immer wieder zusammenzog. «Nein, das ist nicht wahr. Onkel Alfred lebt nicht mehr», hörte Irma die Mutter sagen. Alfred war ihr einziger Bruder gewesen, eine Art Familienersatz, nachdem der Vater im Juli 1941 an der Murmanskfront gefallen war. Irma sah ihre Mutter vor sich, mit hängenden Schultern; sie hatte den Hörer noch in der Hand gehabt, als das Gespräch längst zu Ende gewesen war, hatte an ihrem Nachthemd genestelt, Richard war von der Kommode gerutscht. Da draußen, dachte Irma, ist jetzt auch wer tot. Sie fuhr am Hochhaus der UNIQA vorbei, an der Urania, dem Regierungsgebäude mit dem bombastischen Doppeladler. Irma betrachtete alles wie zum letzten Mal: die Reiterstatue des Feldmarschalls Radetzky vor dem Haupteingang des ehemaligen Kriegsministeriums, die Postsparkasse, deren Fassade mit ihren Nieten an den Granit- und Marmorplatten an eine überdimensionale Geldkiste erinnerte. Irma faßte nach der Tasche, nach den Schlaufen, hielt weiter Ausschau nach Gewohntem, Heimischem, aber die vom Ring abgehenden, im Halbdunkel liegenden Straßen und Gassen sahen aus wie überall um diese Zeit, blaß und leer. «Bleiben Sie bei den Fakten; hier bei uns werden Sie nichts anderes erfahren», hatte Irmas Ärztin einmal gesagt. Als Richard zurückrief, bog das Taxi bereits in die Alserstraße ein, nahm Kurs auf den Gürtel. Richard sagte, er könne nicht verstehen, warum Irma die Eltern nicht benachrichtigt habe. «Soll ich sie etwa beunruhigen und dann wird nichts draus?» sagte Irma. «Du bist sauer, weil Davide es zuerst erfahren hat. Ein Glück, daß er dich doch noch erreicht hat. Sag mal, wo bist du eigentlich?» Richard schwieg. «Reißt euch vor Florian zusammen.» «Hast du jetzt keine anderen Sorgen», sagte Richard. Irma dachte an den Toten, an den irreversiblen Ausfall der Hirnfunktionen. War er auch wirklich tot? Oder lag er nur unumkehrbar im Sterben, hatte gar noch elementare Empfindungen? «Das ist ausgeschlossen», hatte Irmas Ärztin gesagt, «die Lebensmerkmale eines Lebewesens entstehen alle durch die Tätigkeit des Gehirns. Fällt das Gehirn aus, ist da nichts mehr.» Nur ein warmer Körper mit schlagendem Herzen, war Irma damals eingefallen, aber sie hatte geschwiegen, denn ihr war klar gewesen, was die Ärztin sagen würde: Der spontane Atemimpuls wird apparativ ersetzt; auf diese Weise gelangt Sauerstoff in die Lunge, und die Stoffwechselprozesse können weitergehen. Blutdruck und Herzfrequenz werden medikamentös beeinflußt, damit die Blutversorgung des gesamten Körpers gewährleistet wird. Und die Bewegungen? Hatte Greta nicht erzählt,...