Gruber / Modes / Pauli | Großstadtklänge | E-Book | www2.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Gruber / Modes / Pauli Großstadtklänge

Von singenden Vögeln in dunklen Gassen
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7526-0327-9
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Von singenden Vögeln in dunklen Gassen

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-7526-0327-9
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Klänge, Geräusche, Rauschen - Stille. Berlin hat einen ganz eigenen Sound, der irgendwo zwischen Clubdröhnen, Presslufthämmern und Fassadenflüstern liegt. Einen Sound, der das Gefühl der Stadt in uns nachklingen lässt, wohin wir auch gehen. 31 Berliner Autor*innen schreiben darüber, wie sie ihre Großstadt hören, nicht nur mit den Ohren. Eine Stadt, die mit leisem Vogelzwitschern erwacht, die immerfort murmelt und flüstert, die rauscht und schreit und singt und streitet, die aber auch ganz plötzlich in Schweigen verfallen kann. Sie nehmen dich mit auf Tanzflächen, in Hinterhöfe, Beerdigungsinstitute, Seitengassen, Seziersäle, in die Vergangenheit und die neue Gegenwart.

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Aylin Ünal
Die Klippen der Stadt
Bea ignoriert den besorgten Blick ihres Lieblingsbarmanns, als er ihr den Drink über den Tresen reicht. Der rauchige Duft schottischen Whiskys steigt von dem Glas auf, das nun beruhigend zwischen ihren Fingern sitzt. Wenn sie ihre Hand dreht und die Lichter der Bar auf den Whisky treffen, verändert sich die Farbe von goldgelb bis dunkelrot. Je länger die Reifung, desto intensiver die Farbe, hat der Barmann ihr erklärt. Es sei denn, die Hersteller täuschen mit Zuckerkulör. Erst vor einer Stunde hat Bea vor dem Fernseher gesessen, nur ein Stockwerk über dem Barhocker, auf dem sie jetzt sitzt. Die Tagesschau zog an ihr vorüber wie ein Rausch; die Nachrichten blieben nicht hängen, sondern hinterließen nur das dumpfe Gefühl, dass die Welt nicht in Ordnung war. Dann erschien die Lottofee und verkündete die Zahlen der heutigen Ziehung. Mühsam war Bea aus ihrer Lethargie erwacht. Dass die ersten vier Zahlen dieselben waren wie auf ihrem Lottoschein, hatte sie reglos zur Kenntnis genommen. Bei der fünften richtigen Zahl hob sie die Augenbrauen und lehnte sich vor. Sie hatte schon seit zehn Jahren kein Lotto mehr gespielt, denn niemand, der glücklich ist, verschwendet einen Gedanken an Glücksspiele. Doch als sie vor ein paar Tagen an der Kirche vorbeigekommen war, wo vor zwei Monaten der Trauergottesdienst für Lilli stattgefunden hatte, waren die Gefühle wieder hochgekommen, als hätte sich ein Schuss aus einer Pistole gelöst. Heute vor dem Fernseher hatte Bea in sich hineingehorcht, doch sie spürte nichts. Seit zwei Monaten hatte sie – abgesehen von Trauer und Wut – nichts mehr gefühlt. Die Lottofee lächelte, als würde sie sich mit den unbekannten Gewinnern freuen, und verkündete die letzte Zahl. Der Gedanke wickelte sich nur langsam um ihren Geist. Das kleine Papier war nun vier Millionen Euro wert und fühlte sich leichter an als vorher, zerbrechlicher. Die Zahlen schienen darauf zu tanzen. Was hätte sich Lilli gewünscht, hätte sie sich ein Geschenk aussuchen können? Bea konnte den Zettel nicht schutzlos in der Wohnung liegen lassen und so ruht der Lottoschein jetzt in der Hosentasche ihrer Jeans, er streckt sich entlang ihres linken Oberschenkels aus, als müsste er sich von einer großen Anstrengung erholen. Der Barhocker neben Bea wird verschoben und sie wendet den Kopf. Der Barmann begrüßt den Neuankömmling mit einem herzlichen Handschlag. »Bernardo, was läuft? Das ist Beatrice.« Der junge Mann dreht sich in ihre Richtung. Sein Dreitagebart bildet einen Rahmen um die ebenmäßigen Zähne. »Bernardo und Beatrice, klingt das nicht wie in einem Film?« Seine Stimme ist ein angenehmes Brummen. Bea schaut dem Whisky in ihrem Glas beim Schaukeln zu und sagt, sie verstehe nicht viel von Worten. Was sie denn beruflich mache, will er wissen. Was mit Zahlen, antwortet sie. Zahlen seien wie Sprache, sie seien lebendig, meint Bernardo und kreist sein Rotweinglas so heftig, dass ein Wirbel darin entsteht. »Wenn ich mit ihnen durch bin, sind sie tot«, sagt Bea. Bernardo lacht so laut, dass einige Gäste den Kopf zu ihnen wenden. Tot – das Wort ist ihr in diesem Zusammenhang so leicht über die Lippen gekommen. Der Whisky hat inzwischen ihre Blutbahnen abgetastet und das Gehirn erreicht, wo er eine warme Taubheit hinterlässt. Nach Lillis Tod hat sie diese Taubheit immer wieder gesucht, bis es Daniel schließlich zu viel wurde. Das macht unsere Tochter auch nicht wieder lebendig, hat er geschrien und ist gegangen. Bernardo spricht von seiner WG in Mitte, wo er mit zwei spanischen Freunden lebt; der eine studiert Medizin, der andere versucht, sich als Architekt zu etablieren. Sie hätten Paella gekocht und er werde sich jetzt auf den Weg machen, sagt er an Bea gewandt, das Lächeln vom Dreitagebart eingerahmt. Der Barmann zwinkert ihr zu und hält ein Bierglas unter die Zapfanlage. In Bernardos Wohnung ist der Tisch schon gedeckt. Die Fenster stehen offen und lassen die laue Nachtluft herein. Die Paella ist köstlich. Bald werden der Rotwein und die leeren Teller von Gin Tonic und Chips abgelöst. Bea lässt den lauten spanischen Redeschwall an sich abperlen wie Wasserstrahlen unter der Dusche. Die Sprache erinnert sie an La Gomera und an die Zeit, die sie dort mit Daniel und ihrer Tochter verbracht hat. Ihre Spanischkenntnisse waren brüchig wie die Felsküste, an deren Abhang sie wohnten. Doch auf dieser Insel bedurfte es keiner Worte, um die in Knoblauch gegarten Garnelen zu genießen oder um vom moosbehangenen Lorbeerwald im Nebel verzaubert zu werden. Der Duft nach Natur hing die ganze Nacht in Beas Haar und Daniel hatte sein Gesicht darin vergraben. Die anderen ignorieren das Klingeln an der Wohnungstür oder hören es nicht. Bea öffnet. Durch ihren Schleier aus Whisky und Gin sieht sie mehrere junge Männer im Flur, breit gebaut, kurze Haare, einer trägt ein Deutschlandtrikot. Die Männer sagen, sie könnten das spanische Geplapper nicht mehr hören, man sei hier in Berlin und nicht in Madrid, und drängen an ihr vorbei in die Wohnung. Der Hausflur riecht muffig und ist kahl. Vor der Wohnung gegenüber stehen mehrere Schuhpaare, eins davon ist klein mit rosa Vögelchen darauf. Auch Lilli hat ihre Gummistiefel immer ordentlich auf der Fußmatte abgestellt, nachdem sie auf dem Spielplatz waren. Die Paella und die Chips liegen Bea schwer im Magen und sie verspürt das Bedürfnis, sich zu bewegen. Sie lässt die Wohnungstür hinter sich zufallen, ihre Hand streicht über das hölzerne Treppengeländer und folgt ihm bis ins Erdgeschoss. Touristengruppen strömen an ihr vorbei die Oranienburger Straße entlang. Dazwischen stehen die Prostituierten wie Leuchttürme, von den Menschenscharen umbraust und doch einsam. Ein Mann mit Basecap und kariertem Hemd spricht gerade mit einer der Frauen. Grazil hält sie ihn mit ihrer Zigarette auf Abstand, bestimmt genug, damit er sie nicht berührt, doch mit einem aufmunternden Lächeln, um ihn nicht zu vertreiben. Die Prostituierte klackert mit den Absätzen ihrer glänzenden weißen Stiefel, während sie gestikuliert. Zwei weitere Männer um die 50 umkreisen sie wie Wespen rohes Fleisch, zielsicher und wild vom Geruch der Beute, aber noch nicht bereit zu landen. Als Bea an ihnen vorbeigeht, erhebt der Mann mit dem Basecap die Stimme und richtet sich vor den Konkurrenten auf. Bea biegt in eine Seitenstraße ab. Der Geräuschpegel sinkt schlagartig, als hätte jemand den Stöpsel gezogen und alle Schallwellen würden davongerissen. Der Anblick der Frauen hängt in ihrem Gedächtnis. Sie wirken wie Kriegerinnen in einer Schlacht, die sie nicht gewinnen können, die sogar darauf warten, von Schwertern durchbohrt zu werden. Schwere Schritte hallen hinter ihr, dann ist ein Mann an ihrer Seite. Seine Figur wirkt zu klein für die dicke Lederjacke, die er trägt, und eine knollige Nase beherrscht sein Gesicht. Sein Atem riecht nach Bier und Zwiebeln, sein Bart kratzt über ihr Gesicht, als er sich an sie drängt. Bea stößt ihn von sich, doch seine Hände finden wieder ihr Ziel und erkunden ihren Körper wie ein ungebetener Gast eine fremde Wohnung, in der er Schränke öffnet und in Schubladen wühlt. Sie will ihn anschreien, aber die Angst hält die Luft in ihren Lungen und die Kraft in ihren Muskeln gefangen. Im Rücken fühlt Bea eine Haustür und sieht Klingelschilder neben sich. Die Namen verschwimmen. Sie denkt an ihren Mädchennamen, den sie mit der Hochzeit abgegeben hat. Daniels Nachname, der wie ein Fremdkörper in ihr Leben getreten ist. Die Haustür wird mit einem Ruck nach innen geöffnet und Bea stürzt nach hinten, die Hände des Mannes an ihren Schultern festgekrallt. Sie fängt sich, drückt sein Gesicht zur Seite und tritt nach ihm. Aus dem Hausflur treten fünf Frauen hervor, in glitzernden Oberteilen und seidigen Strumpfhosen. Die beiden vorderen ziehen den Mann sofort aus Beas Reichweite. Eine Welle aus Beschimpfungen braust auf. Der Mann windet sich und brüllt ebenfalls, doch inzwischen haben ihn auch die anderen drei Frauen umringt. Bea schiebt sich zwischen sie, sieht in ihre entschlossenen Gesichter und spürt, wie sich eine unbekannte Wärme entfaltet. Die Frauen halten den Mann fest und warten auf Beas Urteil. Bea schlägt dem Mann ins Gesicht, erst zögerlich, dann fester, überrascht von dem Brennen auf ihrer Hand und der schnaufenden Reaktion des Bärtigen. Die Frauen johlen, doch Bea fühlt die Leere wieder in sich hochsteigen. Sie schüttelt den Kopf und die Frauen lassen den Mann widerwillig los. Eine von ihnen, eine junge Frau mit kurzen blonden Haaren, tritt ihm noch gegen das Schienbein, bevor er sich aufrappelt und die Straße entlangrennt. Bea tastet nach dem Lottoschein, er knistert noch immer in ihrer Hosentasche. Die Ältere mit dem roten Lockenkopf hakt sich bei Bea unter, drückt ihr eine offene Sektflasche in die Hand und zieht sie mit sich, als wären sie schon seit Wochen verabredet. Der Sekt vertreibt den Spuk und Bea lässt die Flasche auf...



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