E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Gruber Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-99027-199-5
Verlag: Jung u. Jung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-99027-199-5
Verlag: Jung u. Jung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
1984 in Wien geboren, in Salzburg aufgewachsen, wo er heute mit seiner Familie lebt. Er hat Theaterwissenschaften studiert und als Rezeptionist, im Onlinemarketing und in einer Notschlafstelle gearbeitet. Er ist Mitgründer der Salzburger Stadt-Magazine fraeuleinflora.at und QWANT. Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art ist sein erster Roman
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02
EXPLOSIONS OF ART
Als ich am nächsten Morgen erwachte, gab es sie noch immer. Ungeträumt lag Paulines Telefon eingeklemmt zwischen Matratze und Bettgestell, genau dort, wo ich es vor dem Einschlafen versteckt hatte. Mit verschwollenen Augen griff ich danach, löste die Tastensperre und dachte an einen Fehler: Das Bild im Swimmingpool hatte über Nacht mehr als einhundert Herzen bekommen. Ein User namens lottikarotti wollte wissen, wo Pauline den silbernen Bikini gekauft hatte. Ein anderer hatte anstelle eines Kommentars eine ganze Reihe kleiner Flammen unter dem Bild hinterlassen, und ein Dritter lud sie ein, sich auf seiner Seite über das Thema Microtrading zu informieren. Ich antwortete allen dreien mit einem Kussmund, dann wählte ich ein weiteres Foto aus dem Bilderordner des Telefons und lud es in die App. Die Aufnahme zeigte Pauline an einem reich gedeckten Frühstückstisch. Alles passte zusammen, das Tischtuch, die Teller und Tassen, Paulines Strahlen für die Kamera, während sie vor dem Mund eine Gabel balancierte. Ich tippte Breakfast like a boss in das Feld für die Bildunterschrift, drückte auf den Veröffentlichen-Button und ließ das Telefon dann auf meine Brust sinken.
In der Küche machte der Wasserkocher ein fauchendes Geräusch. Vaters Löffel stieß klirrend gegen den Rand der Tasse, als er die Cappuccino-Fertigmischung aus der Packung schaufelte.
»Kommst du, Arielle?«, sagte Mutter im Flur.
»Gleich«, rief ich und warf die Decke über das Telefon in meiner Hand.
Mutter steckte den Kopf ins Zimmer, ihr Blick wanderte durch den Raum. »Ist etwas?«
»Nein«, sagte ich und spürte das Gewicht auf meiner Brust.
»Na, dann komm«, sagte Mutter.
Als sie im Flur verschwunden war, sprang ich aus dem Bett, lief zum Schreibtisch und ließ das Telefon in meinen Rucksack gleiten. Erst dann ging ich ans Fenster, um die Vorhänge zu öffnen. Obwohl es noch früh am Morgen war, drückte die Hitze schwer gegen die Scheiben. Von jetzt an würde es den ganzen Sommer lang kein Entkommen geben. Aber heute war das egal.
*
Im Informatikunterricht erklärte der Lehrer die Funktionsweise eines Programms, das schon lange niemand mehr benutzte. Yasmin und ich saßen in der letzten Reihe des abgedunkelten Computerraums, beugten uns über ihr Telefon und verspotteten Frauen auf FireFly. Erst likten wir ihre Bilder, dann machten wir uns über sie lustig.
Yasmin likte das Foto einer sehr, sehr dünnen Frau, die Strandoutfits präsentierte und in der Bildbeschreibung darauf bestand, dass alle Körper schön waren. Dann likte sie das Bild einer Frau, die ihr Gesicht beim Weinen fotografiert hatte. Alles war ganz zerlaufen. In der Bildbeschreibung berichtete die Frau von ihrer Trennung und bedankte sich bei jenen, die ihr zum Trost kleine Summen Geld geschickt hatten. »Heul leise«, flüsterte Yasmin und wischte das Bild fort. Es folgte das Foto eines blonden Mädchens mit Sommersprossen, das mit vollem Mund in die Kamera grinste, die Backen aufgeblasen wie kleine Luftballons. An den Rändern ihrer Nase grub die Heiterkeit kleine Fältchen in ihre Haut.
»Was ist?«, sagte Yasmin und wandte sich mir zu. »Was grinst du so?«
»Warum hast du das gelikt?«, sagte ich.
»Welches meinst du?« Sie wischte nach unten, doch das Foto war bereits vom Strom der Bilder fortgerissen worden.
Ich nahm Yasmin das Telefon aus der Hand und tippte Paulines Name in die Suchleiste. »Dieses hier meine ich, das mit dem Mozzarella. Warum hast du das gelikt?«
»Keine Ahnung«, sagte Yasmin und betrachtete das Bild eine Weile. »Ist irgendwie süß.«
Wieder musste ich lächeln. Ich spürte die Aufregung in meinem Rücken, aber diesmal waren da keine Quallen. Diesmal war da nichts, das wehtat.
»Was ist los mit dir?«, sagte Yasmin genervt, griff nach dem Telefon und wischte Paulines Foto weg.
»Nichts«, sagte ich und verkeilte meine Beine unter dem Stuhl. Am anderen Ende des Saals blickte der Informatiklehrer von seinem Bildschirm auf und klickte weiter zur nächsten Folie.
Als die Schulglocke läutete, forderte er uns auf, noch sitzen zu bleiben. Kurz darauf kam die Direktorin ins Klassenzimmer, hinter ihr mit gesenktem Blick Frau Liebke. Jemand kicherte. Die Direktorin trug blauen Lippenstift und zu viel Parfum, Frau Liebke sah aus wie immer. Nur weniger fröhlich.
»Siehst du«, flüsterte ich, als die beiden an uns vorbei Richtung Tafel gingen. »Keine Tätowierungen.« Yasmin nickte.
Die Direktorin wechselte ein paar Worte mit dem Informatiklehrer, der seine Tasche packte und kurz darauf den Raum verließ. Dann baute sie sich vor der Klasse auf und wollte wissen, ob jemand etwas zu beichten habe. Im Saal wurde es still, niemand meldete sich. Sie sagte, dass es ein Video gebe. Wie wir vielleicht wüssten. Und dass in diesem Video Dinge zu sehen seien, die so nicht stattgefunden hätten. Weil es hypermoderne Möglichkeiten gab, diese hypermodernen Videos zu fälschen. Sie benutzte das Wort zweimal.
»Jedenfalls ist das so nicht passiert«, sagte sie und drehte sich zu Frau Liebke. Frau Liebke blickte zu Boden und schüttelte den Kopf.
Die Direktorin nickte und wollte noch einmal wissen, ob jemand etwas zu sagen habe. Dann begann sie damit, zu notieren, wer von uns an welchem Computerarbeitsplatz saß. Da sie keinen von uns mit Namen kannte, erkundigte sie sich bei Frau Liebke, die ihr mit flüsternder Stimme einsagte und dabei jeden Augenkontakt mit uns vermied. Offenbar, sagte die Direktorin schreibend, sei das Video auf einem der Computer gefunden worden, und dass man deshalb schon bald wissen werde, wer sich diesen besonders geschmacklosen Scherz erlaubt hatte.
Ich sah mich nach Erich um, aber er war nirgendwo zu sehen.
»Wenn sie rausfinden, wer das war, kriegen die richtig Ärger«, sagte Yasmin leise und griff nach ihrem Rucksack.
Am Eingang zur Schulbibliothek sah der Lehrer von seinem Bildschirm auf und senkte gleich darauf wieder den Blick. Ich schloss die schwere Glastür hinter mir, durchquerte den Leseraum mit der hölzernen Schmökertreppe und setzte mich an einen der Schreibtische, die den Regalen gegenüber an der Fensterfront standen. Nicht jausnen! hatte jemand in Schreibschrift auf den Zettel an der Wand geschrieben, obwohl das nicht nötig war, weil ohnehin nie jemand hierher kam. Nicht um zu jausnen und schon gar nicht, um in den Büchern zu lesen, die in den langen Regalreihen unter sich blieben. Neu und ungelesen. An der Wand gegenüber informierte ein Poster über Akne bei Jugendlichen.
Ich zog das Telefon aus meiner Schultasche, verband es mit dem Ladegerät und startete FireFly. Paulines Frühstücksfoto hatte in den wenigen Stunden, seit ich es hochgeladen hatte, mehrere hundert Herzen bekommen. Das Foto vom Vorabend hatte inzwischen die Tausendergrenze durchbrochen, und viele neue Kommentare waren dazugekommen. bambina07 beschrieb in einem ausführlichen Text ihre eigene Frühstücksroutine, vom Aufstehen bis zum Verlassen des Hauses. hellopuppi kommentierte im Telegrammstil: »Liebs so sehr, Süße.« Ich antwortete auf jeden neuen Kommentar mit einem Kussmund und bedankte mich für die Komplimente, dann rief ich Yasmins Profil auf und verglich unsere Reichweite.
Für jedes ihrer beiden Fotos hatte Pauline mehr Herzen erhalten, als Yasmin jemals für ein Bild bekommen hatte. Dabei gab es Paulines Kanal noch nicht einmal einen ganzen Tag. Eins nach dem anderen betrachtete ich Yasmins Bilder und fragte mich, worin der Unterschied lag. Ich sah Yasmin, von schräg oben fotografiert, damit ihre dunklen Augen runder wirkten und ihr Kinn schlanker. Yasmin, die sich bei Aufnahmen aus der Distanz stets eindrehte und ein Bein leicht abwinkelte, damit ihr Bauch schlanker und ihr Hintern runder erschien. Yasmin, deren Gesicht hinter all den Filtern und Weichzeichnern so blass und konturlos aussah wie das einer Porzellanpuppe. Yasmin, die für FireFly die hässlichen Stellen aus ihrem Leben schnitt wie matschiges Fruchtfleisch aus einem zu Boden gefallenen Apfel. Und doch gelang es nicht, weil immer ein Rest von ihr in den Bildern zurückblieb, der verriet, dass da auch ein Leben war. Mit Fehlern und Unzulänglichkeiten, und mit Dingen, für die sie sich schämte. Pauline dagegen behielt ihr Geheimnis. Und weil nichts an ihr echt war, blieb alles vollkommen.
Die Finger des Lehrers am Eingang hackten auf die immer selben Knöpfe auf der Tastatur. Draußen vor dem Fenster schrie jemand, und ich blickte auf. Im Hof deutete ein Junge einen Schlag an, ein anderer duckte sich weg und lachte. Noch einmal kehrte ich zu Yasmins Kanal zurück, um in der Liste ihrer Follower nach Leuten zu suchen, die ich aus der echten Welt kannte. Ich fand Yasmins Brüder, einige Mädchen aus unserer Schule und den Rollschuhfahrer aus der Siedlung. Und dann fand ich Erich. Auf seinem Profilbild saß er in einem...