Roman
E-Book, Deutsch, 315 Seiten
ISBN: 978-3-406-69741-8
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In diesem kühnen Roman erzählt Sabine Gruber dicht, genau, schön und spannend von journalistischer Wahrheitsfindung, Krieg, Krisen und von einer großen Liebe.
Autoren/Hrsg.
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I
Die Vögel hatten wegen des Gefechtslärms die Bäume verlassen und waren davongeflogen. Bruno Daldossi saß auf der Rückbank eines Kleinbusses, schaute aus dem Fenster. Sie fuhren auf das Dorf zu. Er versuchte zu verstehen, was in diesem Augenblick geschah oder was passieren könnte, war aber gleichzeitig abgelenkt. In zwei Tagen würde er wieder bei Marlis sein; er konnte selbst hier, auf dem Land, ihre Haut riechen, zerwühlte in Gedanken ihr Haar, küßte sie zwischen die Beine. Am linken Straßenrand steckten rotbemalte Holzpfosten in der Erde. Danger hatte jemand auf ein Schild geschrieben. Einmal hatte Daldossi in Bosnien die Straße verlassen müssen, um zu pinkeln. Während er den Schwanz zurück in die Hose gesteckt und den Reißverschluß zugezogen hatte, waren zwei Männer ein Stück weit auf ihn zugelaufen und hatten geschrien. Daldossi war so in Gedanken versunken gewesen, daß er nicht gleich verstanden hatte, was sie von ihm wollten, warum sie nicht näher kamen. Zwei Stunden hatte er dann bewegungslos im Feld ausgeharrt, bis der Minensuchtrupp gekommen war, um ihn aus dem gefährlichen Gelände zu befreien. Wieder war das Knattern eines Maschinengewehrs zu hören. Er wandte den Kopf, konnte aber nichts erkennen. Der Widerhall kam von weit her. Scharfe Munition erzeugt nach dem Abfeuern einen zweiten Knall, manchmal einen dritten beim Einschlag. Daldossi vermutete die Scharfschützen hinter dem bewaldeten Hügel. Dort war vor wenigen Minuten die Sonne untergegangen. Herbstkälte breitete sich aus. Was wird das jetzt, fragte Henrik Schultheiß neben ihm. Daldossi schaute schweigend in die Landschaft, sah einen Ausschnitt aus Himmel, Bäumen und Wiese in diffusem Licht. Er hatte immer schon photographiert. Auch damals, als er noch gar keine Kamera besessen hatte. Von klein auf hatte Daldossi mit den Daumen und Zeigefingern die Form eines Vierecks nachgebildet und durch den Fingerrahmen Gegenstände, Autos, Wälder und Gesichter betrachtet. Und wenn er lange genug stillgehalten hatte, war es ihm sogar gelungen, das fertige Photo vor sich zu sehen. Mit zehn hatte er von seiner Mutter zu Weihnachten einen Photoapparat geschenkt bekommen. Ständig hatte ihm sein Vater Vorhaltungen gemacht, er verprasse zuviel Geld, verschieße zu viele Filme. Schultheiß klopfte mit dem Zeigefinger auf Daldossis Oberarm. Dieses Mal mußte Daldossi reagieren. Sag schon, was wird das. Ich weiß es nicht. Das Auto fuhr die Straße hinunter. Rechter Hand auf der Wiese wuchs noch immer fettes Gras. Schultheiß redete gerne, und er redete viel. Es war nicht das erste Mal, daß sie beide gemeinsam unterwegs waren. Aber jetzt war es besser, die Augen offenzuhalten. Es steckten noch immer Warnschilder im Boden, und es waren keine Menschen zu sehen. Kein gutes Zeichen, dachte Daldossi. Die Leute kriegen in der Regel mit, wenn irgendwo eine Bombe in die Erde gelegt wird, sie verschwinden, bevor sie gezündet wird. Ich weiß nicht, warum ich diesen Quatsch hier mitmache, sagte Schultheiß. Eigentlich will ich sowieso nicht mehr. Es zwingt dich keiner. Steig einfach aus. Jetzt? Schultheiß schüttelte den Kopf. Ich bin kein Selbstmörder. Hast du den starren Grashalm vorhin bemerkt? Der Oberfeldwebel meinte, es sei ein Minenzünder. Und das gelbe Spielzeugauto vor dem großen Stein? Hab ich. Und du – hast du den dünnen grünen Faden gesehen? Wo? Er verlief entlang der Straße, man konnte ihn zwischen den Grasbüscheln nicht erkennen. Ich hatte zufällig die Brille auf, weil Marlis kurz vorher eine SMS geschickt hat. Sie ist sehr aufgeregt, sagte Daldossi, sie bekommt demnächst einen neuen Bären für ihr Gehege in Zwettlburg. Ein Jungtier, das von den Behörden beschlagnahmt worden ist. Warum das denn? Schultheiß wippte mit den Beinen. Man hatte es in einer winzigen Betongrube gehalten. Jetzt wird der Bär in den niederösterreichischen Wald übersiedelt. Marlis wird für seine Erholung sorgen. Ein vernünftiger Beruf, sagte Schultheiß. – Der Typ fährt ein bißchen schnell, findest du nicht? Schultheiß beugte sich vor, um einen Blick auf den Tacho zu werfen oder um den Fahrer zu ermahnen. Der drehte sich in diesem Moment zu ihm nach hinten und verriß das Lenkrad. Er steuerte den Kleinbus in die Wiese. Shit. Haben Sie keine Augen im Kopf? Der Wagen kam drei Meter von der Straße entfernt zum Stehen. Schultheiß griff nach dem Oberarm des Fahrers und schüttelte ihn. Sie haben mich abgelenkt, sagte der Mann. Ich hab gar nichts! Sie waren zu schnell unterwegs. Das hab ich kommen sehen. Jetzt stecken wir in der Scheiße. Daldossi öffnete die Tür. Schultheiß riß ihn zurück. Hast du die roten Pfosten nicht gesehen? Doch. Ja dann? Ich suche nach der Reifenspur. Warum das? Ist vermutlich die einzige Möglichkeit, um heil auf die minenfreie Straße zu gelangen. Und wenn du daneben trittst? Das sind die wirklich gefährlichen Seitensprünge, sagte Schultheiß und fing an zu lachen. Werd jetzt nicht albern. Daldossi zog die Autotür wieder zu und kletterte nach hinten. Wir haben Glück. Glück nennst du das? Schultheiß fuhr sich durchs Haar und zog den Reißverschluß seiner wattierten Jacke nach oben. Wir könnten jetzt auch in einem kleineren Auto ohne Hintertür sitzen, sagte Daldossi. Dann wäre ich aber selber gefahren, und wir wären nicht in dieser verseuchten Wiese gelandet. Noch ist nichts passiert. Es gibt auch Minen, die erst bei der zweiten Berührung hochgehen. Zieh deinen Gürtel aus, sagte Daldossi. Was willst du damit? Oder hast du eine Mütze oder Wollhandschuhe dabei? Nur einen Schal, sagte Schultheiß. Gut. Trenn ihn auf. Spinnst du? Den hat mir Johanna gestrickt. Wir haben nicht viel Zeit zu verlieren. Das Gras richtet sich wieder auf, sagte Daldossi. Er kniete auf der schmalen Ladefläche und versuchte sich den genauen Verlauf der Reifenspuren einzuprägen. Dann setzte er sich hin, hielt die Beine hoch. Schultheiß reichte ihm den Schal nach hinten. Mit einem Farbspray wäre es einfacher, die sicheren Trittstellen einzuzeichnen, sie hatten aber keinen dabei. Typisch, daß Schultheiß sitzen blieb und ihn die Arbeit machen ließ. Versuchen wir es einmal so, sagte Daldossi und trat mit dem rechten Fuß in die Spur. Ich weiß nicht, ob es klug ist, auf der Rückbank zu bleiben, sagte er zu Schultheiß. Vorsichtig legte er den Schal aus, markierte damit den rechten Rand der Reifenspur, ihren weiteren Verlauf, dann setzte er den anderen Fuß ins Gras. Als Daldossi die Straße erreichte, pfiff der Oberfeldwebel die Übung ab. Schultheiß stieg aus dem Auto und stellte sich zu den anderen Journalisten und Photographen dazu. Ihr Kollege hatte recht, sagte der Oberfeldwebel zu Schultheiß, Sie hätten in Deckung gehen müssen, vorne beim Fahrer. Es schien, als prallten die Strahlen am Wasser ab, als wäre seine Fläche aus einer festen und harten Materie, wie bei einem Sprung aus hundert Metern Höhe, wenn der menschliche Körper nicht mehr einzutauchen vermag, ohne sich zu verletzen. Auch an jenem Tag sah es aus, als zerschellte das Licht auf dem dunklen, stillen Meer. Das Glitzern und Gleißen blendete die Frauen und Männer im Fischerkahn, die eng aneinandergedrängt dasaßen und schwiegen. Von den neunundvierzig Passagieren war nur noch einem der älteren Männer etwas zu trinken übriggeblieben, die anderen hatten ihren Flüssigkeitsvorrat aufgebraucht und die leeren PET-Flaschen von Bord geworfen. Fast alle der unter dreißig Jahre alten Bootsinsassen dösten vor sich hin oder hielten mit zusammengekniffenen Augen Ausschau nach dem Küstenstreifen, lediglich die Männer, die hinten saßen, wandten immer wieder den Kopf und blickten auf das V-förmige Muster der Kielwelle. Die Augen der Frauen und Männer waren von der salzigen Seeluft gerötet, die Haut brannte von den Stunden in der prallen Sonne. Die Kälte, die sich nach dem Sonnenuntergang auszubreiten begann, erst kaum merkbar, weil die Haut sich noch an die Hitze des Mittags und die Wärme des späten Nachmittags erinnerte, kroch nach und nach in die dünnen Anoraks, T-Shirts, Hosen und langen Röcke, biß sich darin fest, so daß die zwei Frauen, die hinten saßen, mit den Zähnen zu klappern begannen, den Kopf auf die Brust sinken ließen und ihre Scheu vergessend, noch näher an ihre Nachbarn heranrückten. ...