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E-Book, Deutsch, 300 Seiten

Gruber Chorprobe


1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7117-5217-8
Verlag: Picus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 300 Seiten

ISBN: 978-3-7117-5217-8
Verlag: Picus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Seit Jahren schon nimmt Cindy Gesangstunden. Da bekommt sie die Chance ihres Lebens: eine Einladung zum Vorsingen beim charismatischen Leiter des berühmten Chorus, Wolfgang G. Hochreither alias: Wolf. Cindys Wunsch wird wahr. Doch die Wirklichkeit hat wenig Ähnlichkeit mit ihrem Traumbild.
Cindy taucht ein in ein Wechselbad der Gefühle. Sie erlebt Menschlichkeit und beglückende musikalische Momente auf Konzertreisen mit dem Star-Dirigenten Viktor von Weiden. Zugleich ist sie, wie alle anderen im Chorus, dem Terror und der Willkür des egomanischen Wolf ausgeliefert. Von der Sucht nach Singen und Applaus befallen, verstrickt Cindy sich im Netz des manipulativen Systems aus Macht und Abhängigkeit und droht Wolfs erotischen Avancen zu erliegen. Da begegnet sie Emil.

Psychologisch meisterhaft und vielschichtig analysiert Sabine M. Gruber am Beispiel eines Chores die Dynamik von Beziehungen und spielt in allen Tonarten menschlicher Gefühle.

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Autoren/Hrsg.


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1
Cindy lernt singen und
erlebt ein Wunder
Die automatische Schiebetür des eiskalt klimatisierten Supermarkts schließt sich hinter der jungen Frau. Ein Windstoß, angenehm warm, fast heiß, bauscht ihr dünnes Sommerkleid. Zwischen der Windschutzscheibe und dem Scheibenwischer ihres Autos, das sie direkt vor dem Eingang geparkt hat, entdeckt sie ein weißes Stück Papier in einer Plastikhülle. Verdammt. Keine zehn Minuten hat sie gebraucht, sie wollte doch nur schnell die Katzen-Snacks kaufen. Macht einen Euro neunundneunzig, plus einundzwanzig Euro für das Nichtentrichten der Parkgebühr. Alles nur dieses Katers wegen. Cindy ist wütend! Auf sich? Auf die Parkraumüberwacherin? Auf den Kater? Sie gerät in Versuchung, den Strafzettel wenigstens auszunützen, trotzig; doch was, wenn jemand das Stück Papier mutwillig entfernt oder wenn sie ein zweites Mal bestraft wird? Die Angst siegt. Sie füllt einen blauen Parkschein aus, platziert ihn sorgfältig hinter der Windschutzscheibe, lässt das Auto vor dem Supermarkt stehen und geht die paar Gassen zu Fuß. Cinderella! Wie schön, dass du da bist! Ich freu mich! Yvona drückt sie an ihren großen Busen, küsst sie auf beide Wangen und geht voraus ins Wohnzimmer, heute besonders schwerfällig. Mühselig. Wie alt mag Yvona sein? Fünfundsiebzig? Siebenundsechzig? Einundachtzig? Cindy stellt sich die Frage seit fast drei Jahren. Yvona selbst fragen? Daran hindert sie eine seltsame Scheu. Vor fast drei Jahren hat sie dieses Haus, diese Wohnung zum ersten Mal betreten; seit fast drei Jahren fährt sie jede Woche von einem Ende der Stadt zum anderen, um bei Yvona Gesangsunterricht zu nehmen. Yvonas Wohnung liegt im Erdgeschoß eines dreistöckigen Hauses aus der Jahrhundertwende. Der größte Raum ist das Wohnzimmer, und obwohl es hoch ist und Zugang zu einem Garten hat, durch eine Doppeltür mit unterteilten Glasfenstern erreichbar, wirkt es düster; der hellste Punkt ist die Klemmleuchte auf dem Notenständer des Flügels. Während Cindy im Vorzimmer ihre Schuhe auszieht, barfuß ins Wohnzimmer geht, ihre Noten auspackt, auf dem hölzernen Notenständer zurechtlegt, redet Yvona ohne Unterlass über die anhaltende und für Anfang Juni ungewöhnliche Hitze, ihre schlechte und schmerzende Hüfte, ihre kaputte Waschmaschine, ihre nachlassende Sehkraft, die Unfähigkeit ihres Arztes, den sie aufgesucht hat oder aufsuchen will oder soll, in einem Jungmädchen-Singsang redet sie, der zum rosengemusterten wallenden Hauskleid passt, zu den rosa Hauspantoffeln mit den flauschigen Quasten, zu dem gelblich weißen Haar, ehemals blond, das sie weich gewellt und halblang trägt, wie die Prinzessinnen bei Walt Disney. Yvona ist Sopran. An der Wand hängt ein gerahmtes Schwarz-Weiß-Foto aus der Blütezeit ihres Daseins als Sängerin, aufgenommen lange Zeit bevor ihr Gatte sich eines Morgens von ihr und den beiden Kindern verabschiedet hat, um zur Arbeit zu gehen. Tatsächlich ist er mit seiner Freundin nach Amerika gegangen, das hat sie sehr viel später von gemeinsamen Bekannten erfahren. Seither schlägt sie sich als Gesangslehrerin durch. Cindylein! Wie geht’s dir denn heute, alles in Ordnung hoffentlich! Cindy nickt. Das ist fein, fangen wir gleich an, gell! Trotz der Wärme draußen ist es drinnen kühl, und der Boden fühlt sich richtig kalt an. Cindy fröstelt, stellt den einen nackten Fuß auf den anderen, um ihn zu wärmen, dann den anderen auf den einen. Schon bei der ersten Atemübung überfällt Cindy ein diffuses Gefühl des Unbehagens, angstähnlich, das sie wie gewohnt wegdrängt, während sie zugleich versucht, sich innerlich auf das einzustellen, was dieses Gefühl verursacht und sich dagegen zu wappnen. Auf das Übungsatmen folgen die Übungsgeräusche. Schnnnauben. Rrrollen. Ptkptkptk. Gääähnen. Oder was Yvona sonst noch alles einfällt. Danach Brummen oder Summen auf verschiedenen Konsonanten. Cindy wünscht sich, diese Phase der Vorbereitung möge ewig dauern. Trotzdem nähert sich unerbittlich der Moment, in dem sie zu singen anfangen wird, zu singen im eigentlichen Sinn. (Es könnte der erste Ton einer Übungstonfolge sein, die schrittweise nach oben führt mit dem scheinbar sinnlosen Text Mein Herr das erfährt der Sekretär gefolgt von Oper opfert Augen voller Freud und Adam saß am Bach und war ganz nass sowie Ohne Männer lebt sich’s unbeschwert: Vokale und Konsonanten in bestimmter Reihenfolge und Häufigkeit, Eselsbrücken für die Stimmbänder. Heute allerdings wird es der Anfang einer Übungsarie von Vaccai sein, Avezzo a vivere, doch das weiß Cindy zu diesem Zeitpunkt nicht, denn sie ist noch mit Brummen beschäftigt.) Willst du noch so eine Übung machen oder sollen wir mit dem Singen anfangen, Cindylein? Noch eine Übung. (Lieber noch einmal brummen, gähnen oder lallen oder was auch immer, wenn es nur das Singen hinauszögert, diese ersten gesungenen Töne, doch irgendwann ist es so weit.) Soll ich dir’s einmal vorsingen, Kindchen? Fragt Yvona schließlich und singt ohne eine Antwort abzuwarten mit ihrer uralten Jungmädchenstimme. Cindy ist die Kurzform von Lucinda, Lucinda war der Name einer Balletttänzerin, Balletttanzen war der unerfüllte Kindheitstraum ihrer Mutter gewesen: Für ihr Leben gern wäre Lucindas Mutter Balletttänzerin geworden. Und so bekam Lucinda, wie ihre Mutter sie schon im Säuglingsalter zu nennen pflegte, als kleines Mädchen Ballettunterricht. Lucinda fand Ballett wunderschön! Am wunderschönsten allerdings fand sie nicht die Ballettstunden selbst, am glücklichsten fühlte sie sich: danach. Nach diesen Stunden, wenn sie sich in ihr Zimmer zurückziehen und einschließen konnte, rücklings auf dem Bett lag, die Augen geschlossen, in Vorfreude auf das, was sie gleich sehen würde in dem Film, in dem sie die Hauptrolle tanzte: Anmutig schwebt Lucinda, schlank und rank, in einem kurzen rosa Kleidchen über die Bühne, auf Zehenspitzen. Das lange blonde Haar streng zu einem Knoten hochgesteckt, liegt sie in den Armen des wunderschönen Jünglings, der sie mühelos hochhebt und dreht und dreht und dreht. Sie lächelt, ganz ohne Zahnspange. Das Publikum applaudiert, begeistert, tosend. Sie verbeugt sich, artig, und der junge Mann hält fest ihre Hand: Nachdem ihre Mutter der dritten Ballettschulaufführung beigewohnt hatte, in der Lucinda eine winzige Rolle tanzte, sagte sie zu ihrer kleinen Tochter nur diesen einzigen Satz: Du musst nicht mehr zum Ballett gehen, wenn du nicht mehr willst. Dabei wackelte sie heftig mit dem Kopf, schüttelte ihn rundherum und nach allen Seiten und dieses mütterliche Kopfwackelschütteln drückte alles aus, was sie nicht aussprach: Nachsicht, Enttäuschung, Vorwurf, Mitleid, Verachtung. Der Kopf der Mutter schüttelte das Mädchen brutal und ein für alle Mal aus ihrem rosa Traum. Auch Lucinda sprach nichts von dem aus, was sie dachte oder fühlte. Sie ging nie wieder zum Ballettunterricht. Sie weigerte sich, darüber zu sprechen oder auch nur daran zu denken, denn das bloße Darandenken brachte sie dazu, sich zu schämen. Fortan nannte sie sich Cindy und bestand darauf, so genannt zu werden. Von allen. Auch von ihrer Mutter. Sobald Yvonas jungmädchenhaft gealterte Stimme verklungen ist, bereitet Cindy sich auf das eigentliche Singen vor, das Hervorbringen des ersten gesungenen Tones, atmet diesen ersten Ton ein, so, dass sich ihr Brustkorb zugleich dehnt und hebt, und versucht, sich trotzdem gegen das zu wappnen, was gleich geschehen wird, wie das sprichwörtliche Amen im Gebet, unweigerlich geschehen wird, weil es jede Woche geschieht. Seit drei Jahren, seit sie ihr Jura-Studium nach der ersten Staatsprüfung abgebrochen hat, arbeitet Cindy für einen Hungerlohn als Sekretärin in der Kanzlei eines Wiener Rechtsanwalts. Ihre Wohnung liegt in keiner guten Gegend und besteht aus einem Wohnküchenzimmer mit Schlafkabinett. Ihr Geld muss Cindy sich sehr genau einteilen. Das Auto ist ein Luxus. Cindy fährt selten irgendwohin, doch könnte sie es jederzeit tun: irgendwohin fahren. Ein Auto zu besitzen gibt ihr das Gefühl von Freiheit. Zu ihren Gesangsstunden könnte sie auch mit Straßenbahn, U-Bahn und Bus fahren, doch im Auto kann sie tun, was sie in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht tun könnte: singen. Im Auto fühlt sie sich frei und singt, nach Herzenslust. Nur im Auto. In ihrer Wohnung: nie. Ihre Wohnung hat Wände aus Pappe, die Nachbarn könnten sie hören. Nur in ihrem Auto kann Cindy sicher sein, dass niemand sie hört. Sie achtet darauf, dass die Fenster fugenlos nach oben gekurbelt bleiben, selbst wenn es Sommer ist und sehr, sehr heiß. Und wenn ihr jemand zusehen würde? Menschen, die seltsame Mundbewegungen machen, sind ein gewohnter Anblick, solange sie im Auto sitzen. Viele Menschen reißen im Auto den Mund auf,...


Sabine M. Gruber, 1960 in Linz geboren, studierte literarisches Übersetzen (Französisch, Russisch) und Cembalo in Wien; sie schreibt Romane, Erzählungen und Musikessays und lebt als freie Schriftstellerin und Musikpublizistin in Klosterneuburg bei Wien. Im Picus Verlag erschien 2010 ihr Erzählband "Kurzparkzone", 2012 der Roman "Beziehungsreise" sowie 2014 "Chorprobe".



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