Mit einem Gespräch zwischen Boris Groys und Carl Hegemann
E-Book, Deutsch, 220 Seiten
ISBN: 978-3-89581-636-9
Verlag: Alexander
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Boris Groys, 1947 geboren in Ost-Berlin, aufgewachsen in St. Petersburg/Leningrad, ist Philosoph, Kunstkurator und Medientheoretiker. Sein Studium der Mathematik und Philosophie absolvierte er in Leningard, ehe er 1981 in die Bundesrepublik emigrierte. Seit 1994 ist er Professor für Philosophie und Ästhetik und unterrichtet sowohl an US-amerikanischen als auch an deutschen Universitäten. Er gilt als wichtiger Theoretiker der Geistes- und Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts und beschäftigt sich in seiner Forschung intensiv mit der russischen Avantgarde, der Kunst des Stalinismus sowie den ästhetisch- intellektuellen Konzepten des Postkommunismus. Auch als Kurator von großen Kunstausstellungen ist er tätig, so etwa für die Schirn Kunsthalle Frankfurt, die Kunst-Werke Berlin, das Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe und er war auch Kurator des russischen Pavillons der 54. Biennale di Venezia 2011. Groys ist Mitglied der 2016 an der Volksbühne gegründeten Bewegung Demokratie in Europa 2025 (DiEM25).
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II
Der narzisstische Kampf um Anerkennung ist nicht nur ein Kampf gegen soziale Konventionen, sondern auch ein Kampf gegen die Begierden des Fleisches. Das öffentliche Bild wird anerkannt, wenn es sich als reine Form präsentiert, wenn es keinen dunklen Raum privater Interessen, Bedürfnisse und Begierden unter seiner Oberfläche vermuten lässt. Andernfalls wird das öffentliche Bild lediglich als Tarnung wahrgenommen – als Mittel zur Erreichung verborgener Ziele. In seinem Essay über den Begriff der »Gabe« entwickelt Marcel Mauss eine Theorie des symbolischen Austauschs.5 Nach dieser Theorie erlangen Individuen soziale Anerkennung nicht aufgrund ihres Reichtums, sondern durch ihre Bereitschaft, das zu verlieren, was sie haben – durch Geschenke, Wohltätigkeit und überhaupt durch Opfer für das Gemeinwohl, sowie durch verschwenderischen Konsum, exzessive Feste und Kriege. Um seinen sozialen Wert zu steigern, muss man demonstrieren, dass man über Anerkennung und Prestige hinaus keinerlei Wünsche hat. Man kann sagen, dass diese Art von Narzissmus irrational ist, weil sie den rationalen Strategien der Selbsterhaltung und des Erfolgs widerspricht, die wir mit vernünftigem Verhalten verbinden. Tatsächlich ist Vernunft nichts anderes als die Manifestation der Angst vor dem Tod. In unseren Augen sind Individuen vernünftig, wenn sie riskante Situationen vermeiden, die zum Tod führen könnten, und wenn sie Entscheidungen treffen, die ihre Überlebenschancen verbessern. In der Phänomenologie des Geistes schreibt Hegel, dass die Menschen am Ende der Geschichte – welches er mit der Französischen Revolution assoziierte – den Tod als den einzigen und »absoluten Herrn« der Menschheit erkannten: »Diese, welche die Furcht ihres absoluten Herrn, des Todes, empfunden, lassen sich die Negation und die Unterschiede wieder gefallen.«6 Daher wurden Europäer nach der Französischen Revolution vernünftig, engagiert in der Anhäufung von Kapital und dem Aufbau administrativer Karrieren. So betrachtet ist Narziss unvernünftig: Er ist so sehr in die Betrachtung seines Bildes im See versunken, dass er die Selbstempfindung verliert und vor Erschöpfung stirbt. Wenn wir über das Irrationale sprechen, meinen wir meistens Triebkräfte und Begierden, die Menschen zu Abenteuern, Konflikten und Konfrontationen treiben. Wir sprechen über Energie und Geschwindigkeit, über den élan vital, über Nietzsche, Freud und Bataille. Aber die Versunkenheit in der Betrachtung ist nicht weniger gefährlich und ebenfalls irrational. Wenn ich betrachte, vergesse ich meine Bedürfnisse, ignoriere meine Umgebung, und mein Körper bleibt ungeschützt. Das Lesen eines Buches oder das Betrachten eines Bildes kann dazu führen, dass mir Möglichkeiten entgehen und ich auf Gefahren nicht reagiere. Das passiert besonders dann, wenn ich über etwas nachdenke, das keinen direkten Bezug zu meiner Selbsterhaltung hat. In diesem Fall wird die Vernunft nicht überschritten, sondern einfach ignoriert. Kontemplation ist das Eintauchen in ein Objekt, das bis zur völligen Selbstvergessenheit führen kann, zum eigenen Verschwinden. Dieses Objekt kann eine platonische Idee sein. Es kann Gott sein. Aber es kann auch ein schönes Bild auf der Oberfläche eines Sees sein. Wir neigen dazu, über Narziss zu sprechen, als ob er von seinem eigenen Bild fasziniert sei. Aber wusste er wirklich, dass dieses Bild sein eigenes Bild war und nicht bloß ein zufälliger Teil der Oberfläche des Sees? Wir wissen es nicht. Wir können uns aber vorstellen, dass er nicht wusste, dass es sein eigenes Bild war und dass er die Schönheit dieses Bildes entdeckte, so wie wir die Schönheit eines Sonnenuntergangs oder einer Blume entdecken. Vielleicht wollte Narziss seine Betrachtung nicht unterbrechen, weil er dachte, dass das Bild während seiner Abwesenheit verschwinden könnte, nicht mehr da sei, wenn er zu diesem See zurückkehrt – so wie ein Sonnenuntergang oder eine Blume nach einer Weile verschwinden. Oder vielleicht bemerkte er, dass das Bild verschwindet, wenn er sich entfernt. Und die Bewahrung dieses Bildes war ihm wichtiger als der Schutz seines eigenen Lebens? Das können wir nicht wissen. Wenn wir sagen, dass Narziss sich selbst geliebt hat, sollten wir hinzufügen, dass er sich selbst nicht auf die gleiche Weise geliebt hat, wie wir es normalerweise tun – denn Selbstliebe wird bei uns im Allgemeinen als egoistische Selbsterhaltung verstanden. Narziss hat sich selbst nicht so geliebt, wie wir uns selbst lieben, sondern so, wie andere ihn bewunderten und liebten – aus der Ferne, als Körper im Raum, als schöne Form. Es scheint, dass diese Metanoia – der Austausch des eigenen Blicks, der zum anderen gerichtet ist, durch den Blick des anderen, der auf einen selbst gerichtet ist – unmöglich ist. Aber Narziss’ Entdeckung seines Bildes im See war die Entdeckung der Vermittlung zwischen meinem eigenen Blick und dem Blick der anderen. Wenn jemand das Bild von Narziss im See sehen würde, müsste diese Person dasselbe Bild sehen wie Narziss. Das Gleiche gilt für das Spiegelbild eines Gesichts. Das Gleiche gilt für ein Foto und so weiter. Die Möglichkeit der bildlichen Darstellung der menschlichen Form schafft eine Zone der Vermittlung zwischen meinem Blick und dem Blick der anderen. Gerade in dieser gemeinsamen Zone wird der Kampf um mein Bild, meine Identität und meinen Status nicht nur möglich, sondern vielmehr notwendig. Und es handelt sich nicht nur um einen Kampf gegen die gesellschaftlichen Konventionen von Schönheit und öffentlicher Bewunderung. Hier beginnt ein viel radikalerer Kampf: der Kampf gegen den Tod als »absoluten Herrn«. Wenn die Form meines Körpers von seinem organischen Träger auf einen anderen Träger übertragen wird, beginnt sie jenseits meiner unmittelbaren Anwesenheit in den Augen anderer zu zirkulieren – auch jenseits meiner Lebenszeit. Mein Bild gehört zu meinem Leben nach dem Tod, denn seine weitere Existenz ist unabhängig von meiner eigenen Existenz. Die Produktion der Bilder ist die Produktion eines Lebens nach dem Tod. Natürlich verschwindet meine innere Welt, wenn ich sterbe. Aber wenn ich diese Welt bereits im Namen meines öffentlichen Bildes getilgt habe, verliert mein Tod seinen Stachel. Den eigenen Körper dem Blick der anderen auszusetzen, erfordert den gleichen Grad an Kenosis wie die Betrachtung eines Bildes. Narziss praktiziert beide Arten der Kenosis: Er präsentiert sein eigenes Bild und betrachtet gleichzeitig dieses Bild. In diesem Sinne ist Narziss bereits tot – oder zumindest auf den Tod vorbereitet –, wenn er in den See blickt: Sein Fleisch ist genauso tot wie das Wasser des Sees. Natürlich hat Narziss sein Bild nur teilweise vermittelt, für einen relativ kleinen Kreis von Zeitgenossen und für eine relativ kurze Zeit. Der Narziss von heute macht Selfies und verteilt sie über Facebook und Instagram. Hier stellt sich aber die Frage: Lässt sich eine Person durch ein Foto wirklich identifizieren? Natürlich werden Fotografien heutzutage vorrangig zur Identifizierung von Personen verwendet. Alle wichtigen Dokumente, einschließlich des Reisepasses, enthalten ein entsprechendes Foto. Aber können wir sagen, dass unser Ausweis die Frage nach unserer persönlichen Identität beantwortet? Das hängt von unserem Verständnis von Personalität ab. Wenn wir sagen, dass wir jemanden kennen und identifizieren können, meinen wir normalerweise nicht nur, dass wir sein Gesicht wiedererkennen können, sondern auch, dass wir mehr oder weniger wissen, wie diese bestimmte Person handeln wird, was von ihr zu erwarten ist. Wenn jemand diese Erwartungen enttäuscht, sagen wir, dass wir diese Person nicht mehr wiedererkennen. Das Wort »Identität« hat also zwei miteinander verbundene, aber unterschiedliche Bedeutungen: Es meint die Identität des Gesichts als Teil des Körpers, aber auch die Identität eines bestimmten Charakters, eines bestimmten Verhaltensmusters, das charakteristisch für eine bestimmte Person ist. Wir wissen, dass man aus dem Aussehen einer Person keine Schlüsse auf ihren Charakter ziehen sollte. Wie Hegel in der Phänomenologie des Geistes argumentiert, kann eine Person die Wahrheit ihres Charakters nicht durch Selbstbeobachtung, durch die Untersuchung der eigenen Seele, enthüllen: Eine solche Introspektion endet in Unsicherheiten und Vermutungen. Aber diese Wahrheit kann auch nicht aus der Untersuchung des Erscheinungsbildes der Person gezogen werden. Der menschliche Körper bietet nur ein Bild von Möglichkeiten, die dieser Körper irgendwann realisieren kann.7 Die Wahrheit einer Person zeigt sich nur in ihren Handlungen, in den Möglichkeiten, welche realisiert wurden – und genauso auch in denen, die nicht realisiert wurden. Hegel geht also davon aus, dass Individuen nicht nur anhand eines Bildes ihres Gesichts und Körpers, sondern auch anhand eines Bildes ihrer Handlungen identifiziert werden können – und sollten. Das Medium dieses öffentlichen Bildes des Individuums in seinen Handlungen ist die historische Dokumentation. Aber was können wir überhaupt als eine Handlung anerkennen? Für Hegel bedeutet eine Handlung natürlich eine politische Handlung: Krieg, Revolution, Einführung neuer Gesetze. Durch ihre Geschichte objektivieren Individuen sich selbst, machen ihren dunklen inneren Raum sichtbar, indem sie die Möglichkeiten verwirklichen, die, wie Hegel argumentiert, so lange verborgen bleiben, wie das Individuum nicht handelt und passiv bleibt. Aber selbst, wenn eine Person die Kontrolle über ihre Handlungen hat, bleibt die Frage: Wer kontrolliert die Präsentation dieser Handlungen, nachdem...