Grossman | Das Gedächtnis der Haut | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Grossman Das Gedächtnis der Haut


1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-446-25518-0
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-446-25518-0
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



David Grossman erzählt von der Liebe, von Schauls Eifersucht über den Geliebten seiner Frau Elisheva und von der Schriftstellerin Rotem, die ihrer Mutter Liebesentzug vorwirft. Dabei erfahren wir immer wieder von Augenblicken größter Nähe und tiefster Einsamkeit der Protagonisten: Geschichten voller geheimer Träume und Obsessionen.

David Grossman wurde 1954 in Jerusalem geboren und gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern der israelischen Gegenwartsliteratur. 2008 erhielt er den Geschwister-Scholl-Preis, 2010 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2017 den internationalen Man-Booker-Preis für seinen Roman Kommt ein Pferd in die Bar. 2021 wurde ihm das Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Bei Hanser erschienen zuletzt Diesen Krieg kann keiner gewinnen (2003), Das Gedächtnis der Haut (2004), Die Kraft zur Korrektur (2008), Eine Frau flieht vor einer Nachricht (Roman, 2009), Die Umarmung (2012), Aus der Zeit fallen (2013), Kommt ein Pferd in die Bar (Roman, 2016), Die Sonnenprinzessin (2016), Eine Taube erschießen (Reden und Essays, 2018) und Was Nina wusste (2020). Im Hanser Kinder- und Jugendbuch erschien zuletzt 2018 das Kinderbuch Giraffe und dann ab ins Bett!, 2023 folgt das Bilderbuch Opa, warum hast du Falten?.
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Schaul sieht die Szene vor sich: Sie bückt sich, um eine Schallplatte zu suchen. Paul richtet sich im Bett auf und sieht ihr zu. Noch ist sie ahnungslos, doch schon bald wird sie ihr blaues Wunder erleben.

Schaul schweigt lange, und seine Wimpern zittern vor unkontrollierbarem Schmerz –

Er taucht in der Blase des Schmerzes ins Bodenlose ab, schwebt einsam in der leeren Tiefe, ohne daß ein Zerschmettern auf der Erde zur Entspannung führt –

Und er würde am liebsten aus dem Bett steigen und zu ihr gehen – Schaul sieht es, und sein Blut schreit wie das Blut des Mannes, aufstehen soll er und hingehen soll er und von hinten soll er sie fest packen und sich an sie pressen und ihr die Beine spreizen und sie berühren und sie benetzen und mit ungeheurer Kraft in sie eindringen –, und eine ganze Weile bringt er es fertig, nicht auf sie zuzugehen, sie nicht fest zu packen, wie schafft er das, was für eine erstaunliche Beherrschung und Willenskraft er hat, und Elischeva fühlt, ohne hinzusehen, sein Glühen, den gewaltigen Brandherd, der sich lila verfärbt und schwillt, und auch Esti spürt ihn, selbst sie, die in wohligen Gedanken schwelgt und sich seit Jahren nicht gestattet hat, so weit zu gehen, und die gerade darüber nachdenkt, wie früher alles symbolischen Charakter hatte, wie alles und jedes ein privater, geheimer Fingerzeig war, bunte Plastiktüten, die sich in die Lüfte erhoben, in den Ästen des Baumes vor ihrem Haus verfingen, wo sie sich nachts mit Regen füllten und aussahen wie große hängende Tropfen; und eine kleine Meldung in den Nachrichten über zwei Tropfsteine in der Absalomhöhle, die jahrtausendelang aufeinander zugetropft waren und sich endlich vereint hatten, die Welt war äußerst geschwätzig; und Elischeva unterbricht das Suchen in der Schallplattensammlung und wirft ihm aus den Augenwinkeln einen verstohlenen, glänzenden, seligen Blick zu, und der Funke ihrer Erregung trifft auf den Funken seiner Erregung –

Aber nein, nein, lacht sie, kämpft mit ihm, ich wollte doch tanzen –

Warte einen Augenblick, bittet Schaul Esti mit belegter Stimme, noch einen Moment.

Und er zieht sich die dünne Decke aus dem Kofferraum über, wendet sein Gesicht der Rückenlehne zu, schließt die Augen und kehrt zurück zu jener Stelle, und sobald er diese Stelle erreicht hat, spürt sie, wie seine Körpertemperatur steigt, und fragt sich, was geht dort mit ihm vor, wie weit will er es denn noch treiben, und vielleicht war es besser, wenn sie nicht bis ins letzte verstand, wobei sie heute Nacht kooperierte; was Elischeva wohl von ihr halten und was sie selbst morgen über sich denken würde. Nur diese eine Nacht, bettelt sie und weiß, daß sie bereit wäre, ihn bis in alle Ewigkeit zu chauffieren, solange er ihr von dieser Hitze abgab …

Und er versucht sich aufzurichten, und sein Kopf sinkt herab, und er scheint keinen eigenen Willen mehr zu besitzen, und das bedeutet, daß ihm mit der Stimme auch der Wille aberkannt wurde. Anscheinend ist dies Teil des Prozedere. Und somit ist alles in bester Ordnung, alles verläuft nach Plan, und wenn das so ist, muß er sich auf die gedankliche Ebene beschränken. Er fragt sich nur, wie sie sich das vorstellen, wie soll er sie gedanklich beschreiben. In welcher Form überhaupt, das heißt, welche Informationen brauchen sie eigentlich für ihre Suchaktion, und augenblicklich fällt es ihm wie Schuppen von den Augen, und er weiß auf einmal, was sie von ihm wollen, er nimmt den starken Strom ihres Willens auf, sie wollen sie unbekleidet, na klar, du Idiot, pudelnackt wollen sie sie, und er weigert sich, und mit den Resten an Kraft und Selbstachtung, die ihm noch geblieben sind, versucht er sich zu wehren, und je mehr er sich widersetzt, desto stärker wird ihr Druck, und um ihn herum wird gekeucht und heiser und zornig geschnaubt, sie haben bemerkt, daß er sich zu drücken versucht, und er bettelt, wozu denn, was hat eure Suchaktion mit ihrer Nacktheit zu tun, und er glaubt, daß schon dieser Gedanke allein sie erschaudern läßt und daß ihre Augen vor ihm Funken sprühen und sich verfinstern, und er beeilt sich, Elischeva zu verdecken, sie mit seinen ausgebreiteten Armen vor ihnen zu verbergen, aber welche Chance hat er angesichts solch einer gewaltigen Rage, und er gerät ins Wanken und wird gestoßen und versucht zu fliehen, und die Brandung ihrer Wünsche erfaßt ihn problemlos, sie spült ihn weg und dringt in ihn ein, und sein Körper treibt willenlos vor ihnen über das Feld und wird hin-und-her-ge-wor-fen

hin und her

auf und nieder

er schüttelt die Arme

immer wieder

stampft mit den Füßen

und verliert sich ganz

in seinem-sonderbaren-Tanz

dem-Tanz-

des-Ehe-manns

mit seinem Körper

schreit er es heraus

na gut, so sieht Elischeva aus

und er geht wie Elischeva

kommt zurück wie Elischeva

lacht wie Elischeva

klimpert mit den Wimpern wie Elischeva

tanzt wie Elischeva

zieht sich aus wie Elischeva

flirtet wie Elischeva

Schaul ist Elischeva

von Kopf bis Fuß Elischeva,

er wölbt und rundet sich

ziert

und dekoriert sich –

auf einmal sinken seine Arme zur Seite, und sein Körper schwankt noch ein wenig, sucht seinen vertrauten Schwerpunkt, der ihm für einen Moment abhanden gekommen war, und seine Augen öffnen sich langsam und affektiert mit einem müden Wimpernschlag. Er bildet sich ein, in seiner Abwesenheit sei dort etwas geschehen, doch es fehlt ihm die Kraft, sich zu erinnern, was es war; als sei er hier vor ihren Augen gerannt, denkt er blutend, als ob jemand hier einen Tanz vorgeführt hätte, er wundert sich, und seine Hände reiben sich aneinander, und er sieht die fremde Geste, die Geste des listigen Händlers, der einem Kunden eine exquisite, geheime, schlüpfrige Ware anbietet, und seine Zunge leckt eilig über die trockenen Lippen, und in ihn wird kreisend verbotene, verschämte Süße hineingerührt, ein kleiner, makelloser Kreis wie ein Bewässerungsgraben um die Wurzel seiner Seele, und mit völliger Demut, wie ein Eunuch, der seiner Aufgabe im Harem nachkommt, zieht er seine Frau vor ihnen aus …

Und eine halbe Stunde später steigt Elischeva erneut aus dem Bett, jetzt langsamer und schwerer, von ihm getränkt, und diesmal achtet sie darauf, etwas überzuziehen, eines seiner T-Shirts oder ein buntes, dünnes Kleid, das dort im Schrank hängt, und sie gleitet mit den Füßen in seine klobigen Filzpantoffeln, obwohl sie dort natürlich eigene Hausschuhe stehen hat; manchmal, wenn Elischeva nicht da ist, beugt dieser Paul sich über den Bettrand und nimmt ihre Puschen in die Hand – allein schon die Art, in der er ihren Pantoffel hält, birgt einen gewissen Charme –, lächelt Schaul innerlich, und Esti ließ für einen Moment von ihren Gedanken ab und fragte sich, wo er gerade schwebte –, und er steckt zwei Finger in den Hausschuh, und mit einer leichten kreisenden Bewegung befühlt er das Futter, und dann hält er ihn sich unter die Nase und schnüffelt den Geruch ihres Fußes, der daran haftet, und stellt sich vor, er würde an ihren Zehen lecken, und sie würde sich vor Leidenschaft winden, er ist es, der ihr beigebracht hat, wieviel Erotik in den Zehen steckt, und daß es ohnehin kein Körperteil gibt, das sich nicht nach Genuß sehnt, und vielleicht deshalb, dachte Schaul plötzlich, kann ich nicht mehr mit ihr schlafen wie früher, wie am Anfang, nicht nur wegen des Alters und der Routine, sondern weil nun in jeder Zelle ihres Körpers die Sexknospen sprießen, die er ihr gezeigt hat; wenn ich sie nur berühre, erwachen sie sofort und suchen ihn, ich kann fühlen, wie sie ihn suchen, dachte er, und auch darum sind unsere Ficks rarer und knapper geworden; er wohnte ihr nicht mehr bei, davon war er überzeugt, man kann die Sache nicht mehr als Liebesakt bezeichnen, sicher nicht wie früher, ach, hatten wir es gut, bevor die ganze Sache begann, und in den letzten Jahren war zwischen ihm und Elischeva ein stillschweigendes Einvernehmen getroffen worden, Schaul erinnert sich nicht mal mehr, wann und wie es zur Gepflogenheit geworden war: Sie gehen wie gewöhnlich zu Bett, mit sanfter, liebevoller Zuneigung, lesen ein wenig und sagen sich gute Nacht und schlafen ein, und mitten in der Nacht, um drei oder um vier, aus dem Tiefschlaf, umarmen sie sich mit geschlossenen Augen, in einer verzweifelten und sogar groben Umklammerung, wie zwei Fremde, die sich in einem Traum getroffen haben, nehmen einander im Dunkeln und werden genommen, gnadenlos und voll heftiger Leidenschaft, und fauchen und kratzen und glänzen vor frischem Schweiß, und bringen sich um den Verstand, gerade wegen der Fremdheit, und eilig trennen sie sich voneinander und schlafen bleischwer ein, und am Morgen verlieren sie kein Wort darüber, vielleicht hier und da ein verschämter Blick, als sähen sie sich beide dort, zwei fauchende, heulende Wölfe, die darum kämpfen, wer von beiden einen größeren Brocken vom Vergnügen abbekommt, und in den Augenwinkeln zeigt sich immer ein Anflug von schlechtem Gewissen, als wäre jeder von ihnen fremdgegangen, und danach viele Nächte des Nichts, und plötzlich werden sie wieder im Schlaf gegeneinandergeschleudert.

Und in der Zwischenzeit bückt sich Elischeva – er hatte es fast vergessen – vor dem Schallplattenregal und sucht und blättert zwischen seinen Hunderten von...


Loos, Vera
Vera Loos, 1955 in Saarlouis geboren, ist Literaturübersetzerin und bildende Künstlerin. Sie hat angewandte Sprachwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität des Saarlandes und der Universität Nantes studiert. Sie hat zahlreiche Romane aus dem Hebräischen übersetzt, u. a. von David Grossman, Batya Gur, Amos Oz und Meir Shalev. Vera Loos lebt und arbeitet in Saarbrücken.

Grossman, David
David Grossman wurde 1954 in Jerusalem geboren und gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern der israelischen Gegenwartsliteratur. 2008 erhielt er den Geschwister-Scholl-Preis, 2010 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2017 den internationalen Man-Booker-Preis für seinen Roman Kommt ein Pferd in die Bar. Bei Hanser erschienen zuletzt Diesen Krieg kann keiner gewinnen (2003), Das Gedächtnis der Haut (2004), Die Kraft zur Korrektur (2008), Eine Frau flieht vor einer Nachricht (Roman, 2009), Die Umarmung (2012), Aus der Zeit fallen (2013), Kommt ein Pferd in die Bar (Roman, 2016), Die Sonnenprinzessin (2016) und Eine Taube erschießen (Reden und Essays, 2018).



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