E-Book, Deutsch, 212 Seiten
Reihe: zur Einführung
E-Book, Deutsch, 212 Seiten
Reihe: zur Einführung
ISBN: 978-3-96060-017-6
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Inhalt:
1. Einleitung
1.1 Nach dem »Ende der Geschichte«: Die Rückkehr der Revolution?
1.2 Rückblick: Kurze Geschichte des Revolutionsbegriffs
1.3 Einblick: Spannungen in Phänomen und Begriff der Revolution
1.4 Rundblick: Die Pluralität von Revolutionen
1.5 Ausblick: Theorien der Revolution – Grundfragen und Grundtypen
2. Die Entdeckung der Revolution
2.2 Voraussetzungen revolutionärer Theorie und Praxis: Das politische Denken der Aufklärung
2.3 »Männer der Revolution« I: Revolutionstheoretische Überlegungen bei Thomas Paine und Thomas Jefferson
2.4 »Männer der Revolution« II: Revolutionstheoretische Überlegungen bei Sieyès, Saint-Just, Robespierre und Condorcet
Exkurs I: Theorien der Gegenrevolution
3. Die Erschließung der Revolution
3.1 Nachbetrachtungen aus der Distanz I: Kants politik- und moralphilosophische »Kritik der vernünftigen Umwälzung«
3.2 Nachbetrachtungen aus der Distanz II: Hegels geschichtsphilosophische Einordnung der Revolution
4. Die Erweiterung der Revolution
4.1 Die »proletarische Revolution«: Karl Marx und Friedrich Engels
4.2 Revolution als Abschaffung des Staates: Michail Bakunin und Pjotr Kropotkin
4.3 Passage à l'acte: Revolutionstheorie bei Wladimir I. Lenin und Rosa Luxemburg
Exkurs II: »Konservative Revolution«
5. Krise und Erneuerung der Revolution
5.1 Revolution und kritische Theorie: Walter Benjamin und Herbert Marcuse
5.2 Revolution und postkoloniale Theorie: Frantz Fanon und Michel Foucault
6. Das Erbe der Revolution
6.1 »Demokratische Revolution« heute: Étienne Balibar
6.2 »Kommunistische Revolution« heute: Slavoj Zizek
6.3 »Anarchistische Revolution« heute: David Graeber
7. Schluss
7.1 Der »Denkraum Revolution«
7.2 Kritiken der Revolution
Anhang: Dank; Anmerkungen; Literatur; Über den Autor
2. Die Entdeckung der Revolution
Voraussetzungen revolutionärer Theorie und Praxis: Das politische Denken der Aufklärung
Der moderne Revolutionsbegriff, die Vorstellung von einer vollkommenen Umwandlung der politischen und sozialen Gesamtstruktur, ist auf das Engste verklammert mit dem Denken der Aufklärung. Nicht allein aus der Perspektive der Revolutionäre in Amerika und Frankreich, sondern auch aus der historischen Distanz betrachtet, nehmen sich die Revolutionen als Produkte aufklärerischer Geschichtsphilosophie, Moralphilosophie und politischer Philosophie aus; als Versuche, die darin entfalteten Ideen, Ideale und Prinzipien in nachhaltig weltverändernder Art und Weise zur Anwendung zu bringen. So werden zyklisch-statische von linear-progressiven Geschichtsbildern abgelöst, wobei die Überzeugung von der historischen Handlungs- und Gestaltungsmacht des Menschen diejenige vom Einfluss menschenunabhängiger Gewalten in der Geschichte – insbesondere der providentia dei – ersetzt. Auch befördern Konzeptionen individueller Autonomie und natürlicher Rechte des Einzelnen die Einsicht in die Fragwürdigkeit der bestehenden Zustände dramatisch ungleicher Rechte- und Güterverteilung und verstärken den Impuls unterprivilegierter, ausgeschlossener gesellschaftlicher Kräfte, selbst verändernd in den Gang der Dinge einzugreifen. Dieses Zusammenfließen verschiedener gedanklicher Ströme der Aufklärung trägt entscheidend dazu bei, dass »Revolution« in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht allein zu einem »metahistorischen Begriff« (Reinhart Koselleck) wird, unter dem sämtliche singulären, fortschrittlich orientierten revolutionären Bemühungen zu subsumieren sind, sondern auch zu einer praktischen »Zauberformel« (Robert Palmer), mit deren Hilfe sich auf beiden Seiten des Atlantiks breite Bevölkerungsgruppen mobilisieren und politisieren lassen.11 Mit Blick auf die politische Philosophie der vorrevolutionären Epoche ist vor allem die Bedeutung vertragstheoretischen Denkens hervorzuheben. Das von Thomas Hobbes, John Locke und Jean-Jacques Rousseau in verschiedenen Variationen entwickelte Grundthema der Übereinkunft und allgemeinen Zustimmung als Bedingung legitimer Herrschaft gibt nicht lediglich einen entscheidenden Orientierungspunkt für die Ausgestaltung nachrevolutionärer politischer Ordnung ab. Vielmehr unterminieren derlei Überlegungen zum Rechtfertigungsbedarf staatlicher Autorität gegenüber autonomen Subjekten das System der absolutistischen monarchischen Herrschaft und der Feudalgesellschaft sowie die mit ihnen verbundene »moralische oder politische Ungleichheit« (Rousseau 2001: 67) bereits lange bevor es zu ersten revolutionären Ausbrüchen kommt: Gerade die dieses System stützende Ideologie des göttlichen Rechts bzw. des Gottesgnadentums sowie der »Natürlichkeit«, d.h. der Alternativlosigkeit, der monarchischen Ordnung – dieser gemäß können Protest und Aufstand nur als das Werk von Rebellen und Staatsverbrechern, von Frevlern und Wahnsinnigen ausgelegt werden – wird in dem Moment porös, in dem rechtmäßige Herrschaft als ein Verhältnis des »Vertrauens« zwischen Regierenden und Regierten gilt.12 Dass die Anklage gegen Ludwig XVI., in der dieser Prozess der Aushöhlung schließlich einen Gipfelpunkt findet, durch die vertragstheoretische Philosophie, die staatliche Autorität in die Rechtfertigungspflicht nimmt, entschieden vorbereitet wird, liegt auf der Hand. Dabei stellt die Vertragstheorie auch starke Naturrechtskonzeptionen bereit, auf deren Basis sich systemkritische, ja -umstürzende Positionen einnehmen lassen. So konkretisiert sich z.B. John Lockes natürliche Individualrechtslehre, die das Recht auf Selbsterhalt und Eigentum – Letzteres verstanden als »lives, liberties, estates« – festschreibt, in Form eines weitreichenden Widerstandsrechts gegen staatliche Zwangsmaßnahmen. Auch das für die Amerikanische wie die Französische Revolution so bedeutsame Konzept der Volkssouveränität ist wesentlich durch vertragstheoretische Überlegungen wie diejenigen Jean-Jacques Rousseaus geprägt. Letzterer begreift darunter nicht lediglich ein Recht auf Mitsprache durch das Volk, wie es noch in Lockes Erwägungen zu einer »moderaten Monarchie« aufgefasst wird; stattdessen versteht Rousseau darunter ein tatsächliches Selbstbestimmungsrecht einer Gemeinschaft freier Bürger. Mit dem Konzept eines souveränen Volkes von citoyens, die insofern im ursprünglichen Sinne des Wortes autonom sind, als sie einzig dem selbstgegebenen Gesetz gehorchen (vgl. Rousseau 2010: 45), geht Rousseau auch deutlich über die Positionen seiner Vorgänger, der philosophes, hinaus. Zwar zeigen auch Denker wie Voltaire und Montesquieu größtes Interesse daran, Möglichkeiten einschneidenden politisch-moralischen Wandels auszuloten; doch schwebt ihnen dabei eine friedliche Transformation vor, die von oben orchestriert wird, sei es durch einen aufgeklärten König oder durch eine intellektuelle Elite – Voltaire spricht von »vierzigtausend Weisen«, welcher es für eine »geistige« Revolution bedürfe. Dagegen wird im Rousseau’schen Gesellschaftsvertrag (1762) das Volk zum zentralen politischen Akteur bzw. Subjekt, welches sich, unter den Vorzeichen radikaler Gleichheit, selbst eine freiheitliche Verfassung gibt und, geleitet vom Prinzip des Gemeinwillens, ganz allein für die Ausgestaltung einer vernünftigen, d.h. zustimmungsfähigen und damit legitimen politischen und rechtlichen Ordnung verantwortlich zeichnet. Eine Reihe weiterer Aspekte im Denken Rousseaus erweist sich in einem spezifischeren Sinne als revolutionstheoretisch gehaltvoll. Seine Rolle als eines der geistigen Wegbereiter der Revolutionen beschränkt sich nicht auf seinen Status als prophète philosophe, der im Emile (1762) ein »Jahrhundert der Revolutionen« voraussagt. Vielmehr weisen über verschiedene Werke verstreute Reflexionen Rousseaus auf einige der wesentlichsten Topoi im revolutionstheoretischen Diskurs der Moderne voraus. Dazu zählt die Profilierung von Revolution als eines ausgemachten Krisenphänomens: »[W]ie bestimmte Krisen bei den Individuen«, so führt er im Gesellschaftsvertrag aus, so handle es sich auf der Ebene von Staaten bei Revolutionen um Momente der Weichenstellung, in denen sich entscheide, ob diese sich »aus den Armen des Todes« zu befreien und erneut »die Kraft der Jugend« (Rousseau 2010: 99) anzunehmen vermögen. Geschichts-, moral- und politikphilosophische Motive verquickend, begreift er Revolutionen somit als notwendige Wasserscheiden der Geschichte, die über die Zukunft eines Staates bestimmen. Damit reißt Rousseau zwei Themen an, welcher sich zahlreiche spätere Theorien der Revolution in systematischer Weise annehmen werden: zum einen das Thema der Notwendigkeit, zum anderen das der Einmaligkeit von Revolution. Während Rousseau qua Notwendigkeit – er denkt diese primär in einem sittlichen Sinne – ein Problem lediglich vorzeichnet, mit dem sich erst Hegel, Marx oder Arendt vertieft auseinandersetzen, ist seine Position in Sachen Einmaligkeit konturierter. Ihm zufolge sind Revolutionen als diejenigen seltenen Ausnahmesituationen zu begreifen, in denen sich einem Volk, sofern es eine gewisse »Reife« erlangt hat, die Chance zur Befreiung, etwa aus den Ketten des Feudalsystems, eröffnet. Verstreicht diese Chance allerdings ungenutzt oder wird sie nur unzureichend beim Schopf gepackt, bietet sie sich demselben Volk gemäß der Rousseau’schen revolutionären Kairologie nicht wieder. In welchem Maße diese und weitere Überlegungen Rousseaus im Frankreich der 1790er Jahre sowohl von Denkern als auch von Protagonisten der Revolution, insbesondere auf Seiten der Jakobiner, aufgegriffen werden, wird später noch detaillierter erörtert. Hier sei lediglich festgehalten, dass mit Rousseau ein Philosoph der vorrevolutionären Epoche am Ausgangspunkt einer maßgeblichen Traditionslinie revolutionären Denkens steht, die sich weit über die Epoche der ersten modernen Revolutionen hinaus fortsetzt: Gerade indem er die politischen Schlüsselgrößen der Freiheit und Gleichheit, vermittelt durch den Begriff der Gemeinschaftlichkeit, in seinen Ausführungen zur Volkssouveränität bzw. zu einer legitimen politisch-moralischen Ordnung verknüpft, trägt er zur Etablierung eines gedanklich-sprachlichen Rahmens bei, der seither vor allem für sozialistische Theorien und Konzepte der Revolution bestimmend ist.13 Dass die Werke von Denkern der europäischen Aufklärung – neben Rousseau und Locke wären etwa Voltaire, Denis Diderot und Charles de Montesquieu, Francis Bacon, David Hume, Adam Smith und Jeremy Bentham zu nennen – und die darin entfalteten Prinzipien, die Gedanken zu rechtmäßiger Herrschaft und Naturrechten, zu Volkssouveränität, Parlamentarismus oder Gewaltenteilung, zum Recht auf Eigentum oder zum »größten Glück der größten Zahl« sowie zur Revolution als universellem...