E-Book, Deutsch, 112 Seiten
Große / Ebinger / Wintzer Diagnostisches Fallverstehen bei jungen geflüchteten Menschen
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-947502-69-1
Verlag: ZKS Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein zielgruppenspezifisches Diagnostikmodell für die psychosoziale Praxis
E-Book, Deutsch, 112 Seiten
ISBN: 978-3-947502-69-1
Verlag: ZKS Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Viele junge Menschen, die vor Bedrohung, Verfolgung, Gewalt, Krieg und Perspektivlosigkeit fliehen, haben vor und während der Flucht potentiell traumatische Situationen erlebt. In Deutschland angekommen sind sie mit Entwicklungsaufgaben und Herausforderungen des Akkulturationsprozesses konfrontiert. Reichen personelle und informelle Ressourcen nicht aus, die Aufgaben zu bewältigen, wird professionelle Unterstützung notwendig. Für die fundierte Interventionsplanung und Begründung fachlicher (Nicht-)Intervention ist Soziale Diagnostik eine wichtige Basis. Hier knüpft das Ziel des Forschungsprojektes "TraM" (1919-2022, gefördert vom BMBF) an. Das Ergebnis ist ein Best-practice-Modell für Fachkräfte der Sozialen Arbeit. Das vorliegende Buch zeigt die theoretische Rahmung auf und stellt die empirischen Ergebnisse der Erstellung und formativen Evaluation des zielgruppenspezifischen Diagnostikmodells auf dem Weg dorthin dar. Anliegen des Buches ist, auf Basis der Ergebnisse und deren Entstehung zur Diskussion und Weiterentwicklung Sozialer Diagnostik in Wissenschaft und Praxis der Sozialen Arbeit beizutragen.
Lisa Große, geb. Gruber Bachelor Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Dresden, Master Klinische Soziale Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin Promotionsstudentin an der Universität Vechta im Bereich Soziale Arbeit zu "Soziale Netzwerke und soziale Unterstützungsprozesse junger und junger erwachsener Geflüchteter" Berufliche Erfahrungen: Bis 2019 Sozialarbeiterin im Sozialpsychiatrischen Dienst (Beratung und Begleitung von Menschen mit psychischen Störungen und deren Angehörige, Krisenintervention, Öffentlichkeitsarbeit) Seit 2019 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Alice Salomon Hochschule (ASH) Berlin im Bereich psychosoziale Diagnostik und Intervention Freiberuflich tätig in der Fort- und Weiterbildung von psychosozialen Fachkräften und Dozentin an verschiedenen Hochschulen Mitgliedschaft bei ECCSW
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1 Minderjährige geflüchtete Menschen
1.1 Begriffsklärung und rechtliche Einordnung Unter Migration wird verstanden, wenn Personen „für einen längeren oder unbegrenzten Zeitraum einen früheren Wohnort verlassen haben und in der Gegenwart in einem anderen Land als ihrem Herkunftsland leben" (Hamburger, 2018, S. 19). Unterteilt werden können migrierende Menschen auf Basis der Motivation zur Migration. Im vorliegenden Projekt bestehen die Gründe vor allem in Flucht vor Krieg, Naturkatastrophen, sozioökonomischer Perspektivlosigkeit wie Armut und Arbeitslosigkeit, aber auch vor persönlicher, politischer wie religiöser Verfolgung. „Mit dem Flüchtlingsbegriff [wird] politisch und rechtlich zwischen legitimen und illegitimen Gründen für Migration unterschieden, und dies in einer Weise, die keineswegs unproblematisch ist“ (Scherr & Inan, 2017, S. 131; Erg. v. Verf.). Die Unterscheidung zwischen freiwilligem und erzwungenem Verlassen des Herkunftslandes – zu Letzterem werden geflüchtete Menschen gezählt – wird der Komplexität der Realität zwar oft nicht gerecht, hat jedoch erhebliche Auswirkungen auf die rechtliche Stellung im nationalen und internationalen Kontext. „Migrationsprozesse … sind das Ergebnis einer komplexen Verschränkung von strukturellen Zwängen mit der individuellen und kollektiven Handlungsmächtigkeit (agency)“ (Scherr & Inan, 2017, S. 138). Laut dem UNHCR (2022a) waren bis Ende 2021 rund 89,3 Millionen Menschen auf der Flucht, 42% davon waren Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Unter minderjährig begleiteten geflüchteten Menschen werden Menschen unter 18 Jahren verstanden, die mit einer sorgeberechtigten oder verwandten erwachsenen Person einreisen. Bei unbegleitet minderjährigen Geflüchteten sind je nach Kontext verschiedene Begriffe gebräuchlich wie unbegleitet minderjährige „Ausländer:innen“ (UmAs), unbegleitete minderjährige „Flüchtlinge“ (umFs), unbegleitete Minderjährige (uMs), unaccompanied minors oder separated children (González Méndez de Vigo, 2017; Gravelmann, 2017). Im vorliegenden Bericht wird vor allem von jungen geflüchteten Menschen gesprochen. Somit soll einerseits die Ursache der Einreise – nämlich Flucht aus verschiedenen existenzbedrohenden Gründen aus ihrem Herkunftsland – kenntlich gemacht werden, andererseits wird die Fluchtgeschichte so als lediglich eine Facette des Lebens der jungen Menschen deutlich. Rechte und Vereinbarungen zum Schutz geflüchteter Menschen gibt es sowohl auf nationaler wie internationaler Ebene. Unter den internationalen Schutzvereinbarungen ist die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) der Vereinten Nationen von 1951 – als Reaktion auf die Weltkriege – zum Schutz politischer Verfolgter zu nennen (Scherr & Inan, 2017; Scherr & Scherschel, 2019, S. 74). Auf europäischer Ebene schützt die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) alle Menschen, die sich in der EU befinden, und von Folter oder unmenschlicher Behandlung bedroht oder betroffen sind (Artikel 3). In den für alle europäischen Staaten bindenden Verfahrensregeln werden Minderjährige zu der Gruppe der besonders schutzbedürftigen Personen gezählt. Das Kindeswohl soll in jedem Verfahrensschritt geschützt werden (Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union, 2013). Auch die UN-Kinderrechtskonvention (Artikel 22, Abs. 1 und 2 KRK), berücksichtigt den Schutz von geflüchteten Kindern und Jugendlichen, wird bisher aber nur unzureichend umgesetzt (Wapler, 2017). Die Zuwanderungspolitik fokussiert die Begrenzung und Steuerung der Zuwanderung bestimmter Personengruppen. So gelten z. T. sich widersprechende Regelungen, die einerseits der Abschreckung dienen, andererseits integrationsfördernd wirken sollen und um Kindeswohl und Schutz bemüht sind (Gravelmann, 2017; Hamburger, 2018). Im deutschen Asylrecht existieren verschiedene Formen von Aufenthaltstiteln, die auf Grundlage verschiedener Schutzstatus zugesprochen werden und u. a. durch gesellschaftliche Diskurse wie die Darstellung der Fluchtgeschichte beeinflusst werden (Scherr & Scherschel, 2019). Neben dem Flüchtlingsstatus existiert subsidiärer Schutz (§4 Abs. 1 AsylG), ein Schutzstatus, der gewährt wird, wenn im Herkunftsland von staatlicher oder nichtstaatlicher Seite ernsthafter Schaden droht, allerdings nicht aufgrund der Kategorien der Genfer Flüchtlingskonvention. Ein Abschiebungsverbot wird dann erlassen, wenn im Herkunftsland eine Versorgung der Person nicht gesichert ist (bspw. bei schwerer Erkrankung oder Minderjährigkeit). Von den 2021 gestellten Asylanträgen wurden 60,1% abgelehnt (Statista, 2022). Die rechtlichen Einteilungen gehen mit verschiedenen Berechtigungen u. a. bzgl. des Aufenthaltsstatus, Zugang zum Arbeitsmarkt und Familiennachzug einher (Frings, 2018; Öndül, 2018). Zusätzlich zu den asylbezogenen Gesetzbüchern gilt für alle Kinder und Jugendliche unabhängig von ihrem Rechtsstatus das Achte Sozialgesetzbuch (SGB VIII) bzgl. des Kindeswohls: „Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ (§1 Abs. 1 SGB VIII). Macsenaere und Kolleg:innen (2018) können jedoch aufzeigen, welche (negativen) Auswirkungen bspw. ein unsicherer Aufenthaltstitel auf die Kinder- und Jugendhilfe hat: „Die Effektstärken [der stationären Kinder- und Jugendhilfe], nehmen von Duldung über Gestattung zu Erlaubnis jeweils spürbar zu“ (S. 92; Erg. v. Verf.). 1.2 Entwicklung und Trauma Junge geflüchtete Menschen sind in erster Linie sich in der Entwicklung befindliche Menschen (Berthold, 2014). So haben die meisten Jugendlichen mit Fluchthintergrund konsistentere Vorstellungen von der Zukunft als Jugendliche ohne Fluchterfahrung (Huber & Lechner, 2019): Sie wollen ein „normales Leben führen", legen Wert auf „Familie, Freundschaften und Bildung" (ebd., S. 176). Die meisten unbegleitet minderjährig geflüchteten Jugendlichen sind zwischen 14 und 17 Jahren, sie stehen damit auch vor den Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz (Hansbauer & Alt, 2017; Schäfer, 2017). Adoleszenz stellt, insbesondere in westlichen Zusammenhängen, einen „psychosozialen Möglichkeitsraum für die psychischen, kognitiven und sozialen Separations-, Entwicklungs- und Integrationsprozesse“ dar (Kuhn & King, 2021, S. 1304). Diese Prozesse benötigen personelle und soziale Ressourcen, um sie gelingend zu gestalten (Gahleitner & Hahn, 2012). Die typische Bewegung zwischen Anlehnung und Ablösung trifft jedoch auf eine sich rapide entwickelnde Selbständigkeit – bei jungen geflüchteten Menschen verstärkt durch den Verlust von sicherheitsgebenden Kontakten und der Konfrontation mit postmigrantischem Stress. Bedürfnisse im Rahmen der anstehenden Entwicklungsschritte haben so wenig Raum. Adam (2009, S. 145) spricht vom „doppelten Übergang“, da neben den Entwicklungsaufgaben auch Akkulturationsprozesse bewältigt werden müssen. Hinzu kommt, dass das Verantwortungsgefühl (bspw. für die noch in Gefahr lebende Familie) den Ablöseprozess erheblich beeinträchtigt (ebd.). Der Übergangsprozess zu einem Ankommen in Deutschland geschieht zudem „vor dem Hintergrund eigener biografischer Selbstkonstruktionen und Sinnorientierung“ (Hanses & Homfeldt, 2009, S. 150; siehe zum professionellen Umgang damit: Kapitel 1.5). Junge Menschen, die nach Deutschland kommen, können unterschiedlichen Belastungen vor, während und nach der Flucht ausgesetzt sein. Neben postmigrantischen Stressoren sind sie häufig auch potentiell traumatischen Situationen ausgesetzt: Wie eine Befragung des BumF (Karpenstein & Rohleder, 2021) zeigt, betrifft dies je nach Geschlecht zwischen 62% und 75% der unbegleiteten minderjährigen geflüchteten Menschen (siehe auch Herrmann et al., 2018; Witt et al., 2015). Trauma, verstanden als „vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten“ (Fischer & Riedesser, 2020, S. 88) zeigt auf, dass das Ereignis (bspw. das Gewalterleben) die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Bewältigung drastisch übersteigt. Das Ausmaß der Traumatisierung hängt dabei nicht nur von der Art des traumatischen Ereignisses ab, sondern explizit auch von den individuellen Schutz- und Risikofaktoren und dem Entwicklungsstand zum Zeitpunkt des traumatischen Erlebnisses. Auch bisherige Bindungs- und Beziehungserfahrungen haben großen Einfluss auf die Fähigkeit zur angemessenen Bewältigung (Maercker et al., 2016). Bindungserfahrungen sind Erfahrungen zu Bezugspersonen aus der (frühen) Kindheit. Sie wirken sich in Form von Bindungsrepräsentationen auf Beziehungsanforderungen, - möglichkeiten und -erwartungen in aktuellen Situationen aus. In diesem Zusammenhang wird deutlich, warum manche jungen geflüchteten Menschen an frühe positive Erfahrungen anknüpfen können und Hilfeprozesse eher gelingen, andere aber eher misstrauisch reagieren (Gahleitner, 2017, 2020). Adam...