E-Book, Deutsch, 318 Seiten
Reihe: bachelor-wissen
Eine Einführung
E-Book, Deutsch, 318 Seiten
Reihe: bachelor-wissen
ISBN: 978-3-381-12413-8
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
PD Dr. Maximilian Gröne ist Akademischer Oberrat für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Augsburg. Prof. Dr. Rotraud von Kulessa ist ordentliche Professorin für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Augsburg. Dr. Frank Reiser ist Akademischer Oberrat am Romanischen Seminar der Universität Freiburg i.Br.
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1.2 Literatur medial
Bisher Intensiver vs. extensiver
Literaturbegriff haben wir versucht, Literatur anhand bestimmter Eigenschaften von anderen, nicht-?literarischen Schriftstücken abzugrenzen. Wir haben damit einen sog. intensiven Literaturbegriff vertreten. Manche Schwierigkeit lässt sich umgehen, wenn man dagegen einen extensiven, also ausgedehnten Literaturbegriff zugrunde legt, zu unserer Eingangsdefinition zurückkehrt und Literatur gemäß der Ursprungsbedeutung des Wortes als geschriebene Sprache ! Extensiv verstanden: Literatur ist geschriebene Sprache versteht. Diese Definition umfasst ein ungleich größeres Textvolumen und freilich eine Unmenge von Schriftstücken, die gemeinhin kaum ‚Literatur‘ genannt würden (dabei, wie wir sahen, jedoch als Ready-?made relativ leicht Literatur werden könnten), lenkt zugleich aber die Aufmerksamkeit auf einen Aspekt, der bisher nicht erwähnt wurde und auch sonst häufig stillschweigend oder gar nicht beachtet wird: die Medialität von Literatur. Hier ist Medium Datenträger gleich ein klärendes Wort zum Begriff ‚Medium‘ angebracht. Er wird in zweierlei Bedeutung gebraucht. Wir bezeichnen (1) Datenträger wie Zelluloidfilme, Videobänder oder DVD als „Medium“. Einen Spielfilm kann ich, die entsprechenden technischen Apparaturen vorausgesetzt, mit Hilfe aller genannten Datenträger rezipieren, ohne dass sich der Inhalt (das, was ich sehen und hören kann) deswegen ändert. Allerdings kann der Datenträger indirekt einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf den Inhalt ausüben: so wurden durch Publikation von Literatur in Massenmedien wie den auflagenstarken Tageszeitungen des 19. Jh. neue Leserschichten mit ihren spezifischen Erwartungen erreicht und die schriftstellerische Produktion beschleunigt und auf die Erhöhung der Verkaufszahlen ausgerichtet. Der Roman am Ende des 19. Jh. ist ohne die Massendistribution in Tageszeitungen nicht denkbar. – Wir bezeichnen (2) Zeichensysteme Zeichensysteme als Medien. Das Medium des Films beispielsweise sind bewegte Bilder und Töne, das von Literatur ist die geschriebene Sprache. Im Unterschied zur Bedeutung (1) ist hier der Inhalt nicht ohne Weiteres vom Medium abkoppelbar: Während es möglich ist, einen Roman ohne Informationsverlust als Text auf CD-?ROM zu übertragen und statt auf Papier auf dem Bildschirm zu lesen (Datenträgerwechsel), kann man ihn nicht eins zu eins ins Medium (Zeichensystem) des Films überführen (es sei denn, man würde das Quellmedium selbst übernehmen, indem man alle Seiten des Buchs abfilmte). Literaturverfilmung geht zugleich mit Informationsverlust und -zugewinn einher, ist Interpretation, und zwei Verfilmungen ein und desselben literarischen Textes werden stets deutlich voneinander abweichen (siehe Einheit 14). Aufgabe 1.5? Versuchen Sie vor dem Weiterlesen, einige medienspezifische Grundeigenschaften von Literatur zu nennen. Der Vergleich mit anderen Medien (Zeichensystemen) wird Ihnen bei der Suche helfen, ebenso Ihre evtl. bereits erworbenen Grundkenntnisse der Linguistik. Auch wenn Medialität jeder Wahrnehmung es uns bei der Lektüre eines fesselnd geschriebenen Romans oder bei der Betrachtung eines detailrealistischen Films so vorkommen mag, als ob wir dem Dargestellten unmittelbar begegnen, mitunter gleichsam ‚eintauchen‘ könnten – worin nach wie vor einer der Hauptreize der Rezeption gerade von Literatur und Film liegt –, so bleibt es ein unhintergehbares Faktum, dass zwischen uns und diesen Inhalten ein Medium steht und stehen muss: ‚Unmittelbar‘ dringt nichts in unsere Psyche ein (lassen wir religiöse oder parapsychologische Erlebnisse einmal beiseite), und das dazwischen liegende Medium ist nie völlig transparent. Für die Literatur als ‚Wortkunst‘ liegt das mediale Apriori, die vor jeder Poetik liegenden Ausdrucksbedingungen, zunächst einmal in der Bindung an Sprache. Die Eigenschaften dieses Zeichensystems bestimmen die Eigenschaften von Literatur mit. Der Begründer der strukturalistischen Sprachwissenschaft, Ferdinand de Saussure (1857–1913), hat als zentrale Merkmale sprachlicher Zeichen ihre Linearität, Abstraktheit und Arbitrarität des sprachlichen Zeichens (Ferdinand de Saussure) Linearität, ihre Abstraktheit und ihre Arbitrarität herausgestellt. Linear ist Sprache, weil ihre Ausdrucksseite (der Signifikant, it. significante, m., also Laute oder Buchstaben) aus aufeinanderfolgenden, nicht gleichzeitig übermittelten Zeichen und Zeichenelementen besteht – ich vernehme einen Satz normalerweise eindimensional Laut für Laut, selbst wenn ich u. U. den durch ihn übermittelten Inhalt (die Bedeutung, Signifikant und Signifikat das Signifikat, it. significato) oder auch die grammatische Struktur des Satzes kognitiv nicht linear, sondern ganzheitlich erfasse. Literatur ist demnach eine Kunstform, die in der Linearität des Nacheinanders eine Bedeutung entwickelt, im Gegensatz etwa zum Film, der zwar auch linear abläuft, aber stets gleichzeitig einen zwei- oder dreidimensionalen Bildraum eröffnet und diesen mit einer großen Bandbreite von Geräuschen, Musik oder Stimmen überlagern kann. Abstrakt ist ein sprachliches Zeichen, weil es nach de Saussure zunächst auf ein Konzept im Kopf des Sprechers oder Hörers und (noch) nicht auf ein konkretes Objekt (Referent) aus der Umwelt verweist. Ein literarischer Text lässt demnach notwendigerweise eine relativ große Unbestimmtheit vor allem in Bezug auf Konkretes – was der Leser bei dem Wort „Haus“ denkt, ist individuell unterschiedlich, während ein Film eben dies sehr viel konkreter und detailgenauer steuert, wenn er „Haus“ ‚sagt‘, d. h. ein solches zeigt. Umgekehrt hat Literatur durch ihre mediale Grundlage eine besondere Stärke eben in der Darstellung von Abstrakta – ein Text kann „Friede“ sagen, ein Film muss, will er sich nicht seinerseits der Sprache bedienen, sondern auf sein Zeichensystem rekurrieren, Bilderfolgen entwickeln, die dem Zuschauer diese Bedeutung suggerieren, mit einem freilich viel höheren Aufwand auf der Ausdrucksseite und einer Fülle nicht relevanter Informationen. Arbiträr (willkürlich) sind sprachliche Zeichen in der Regel, weil zwischen ihrem Signifikanten und ihrem Signifikat keine Motivation, d. h. natürliches Verhältnis (Ursache-?Wirkung, Urbild-?Abbildung o. ä.), besteht, sondern Ausdruck und Bedeutung nur durch Konvention aneinander gebunden werden – es ist nicht zwingend, ein Gebäude variabler Größe mit Fenstern und Türen mit der Lautfolge
Abb. 1.8
Dichtung im Aufschreibesystem von 1800 und zur mittelalterlichen Schriftkultur,...