E-Book, Deutsch, 344 Seiten
Gröhler Inside Intelligence - Der BND und das Netz der großen westlichen Geheimdienste
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-88021-417-0
Verlag: Verlag Neuer Weg
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 344 Seiten
ISBN: 978-3-88021-417-0
Verlag: Verlag Neuer Weg
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der deutsche Bundesnachrichtendienst (BND) wird in diesem Buch durch eine hervorragende Recherche und persönliche Gespräche des Autors gehörig auseinandergenommen.
Vor allem die zentrale Person von Reinhard Gehlen, dem Weichensteller und ersten Leiter des BND, dessen Vergangenheit im II. Weltkrieg als Leiter der Feindaufklärung "Fremde Heere Ost" die ersten Jahre des BND prägte. Diese Zeit wird beißend ironisch erzählt, die spätere Zeit und die heutige Gegenwart journalistisch gerafft. Die beiden Linien wechseln miteinander ab und geben dem spannenden Buch Dynamik und Farbe.
Es ist brandaktuell, leistet es doch einen wichtigen Beitrag, um hinter die Fassaden des BND und das Netz der großen westlichen Geheimdienste zu blicken.
Autoren/Hrsg.
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Einleitung Herrn Gehlens Tempo
»Kemmeriboden-Bad!« ruft der Postbusfahrer nach hinten, ohne seinen Kopf zu wenden.
Kemmeriboden-Bad, das ist ein kleiner, ja winziger Badeort in der deutschsprachigen Schweiz. Südöstlich von Bern, nördlich von Interlaken. Die Badeabteilungen alle in Stein aufzuführen, dazu hat es in Kemmeriboden nicht gereicht. Das Bad ist von der »Krankenversicherung«, den schweizerischen Krankenkassen, vergessen. Und wenn ein Heilbad so sehr vergessen ist, dann vermutet in den holzgebauten Bade-Anlagen auch kein Mensch geheimdienstliche Aktivitäten. Nicht einmal der einheimische schweizerische Armeenachrichtendienst AND wird sich hier betätigen, nicht einmal der schweizerische Strategische Nachrichtendienst SND; der Dienst für Analyse und Prävention DAP argwöhnt hier nichts und nicht das Geneva Centre for the Democratic Control of Armed Forces, das mit Unterstützung der Schweizer Regierung arbeitet. Und sonst? Die Herren etwa des Referats Schweiz / Liechtenstein des Amts VI B 3 vom Reichssicherheitshauptamt sind seit 1945 ausgeräuchert. Durch die hatte Herr Gehlen aber noch von Kemmeriboden-Bad Kenntnis erlangt. War deshalb die Vermutung, Kemmeriboden-Bad sei geheimdienstlich belanglos, doch etwas vorschnell? Ein Dutzend Badegäste tummeln sich schon allemal hier.
Bezahlt und gesponsert von Reinhard Gehlen spannen in Kemmeriboden-Bad Helene und deren knapp erwachsene Tochter aus, ein paar Tage lang.
Von Reinhard sprechen sie. Reinhard, dem Geheimdienst-As, dem berühmten und gleichzeitig unbekannten Mann, den Helene Mauve eben doch noch besser kennt als Tochter Uschi. »Das Tempo« – sagt Helene zu ihrer Tochter – »das gibt Reinhard an, das bestimmt der.«
Helene gesteht ihrer Tochter noch anderes; Uschi nimmt sie ins Kreuzverhör, und Uschi wird von Frage zu Frage klüger. Niemals etwa hatte sich Helene Koketterie geleistet. Dabei war, kokett zu sein, flott zu sein, nach dem ersten Weltkrieg schwer in Mode gekommen, besonders bei Großstädterinnen. Überall um Helene herum flirteten Gleichaltrige damals; neben Helene beispielsweise deren eigene Schwester. Ob Helene nicht gewusst hatte, wie das anstellen – zu flirten –, oder ob sie das nur verabscheut hatte, darüber schweigt sich Helene aus, auch vor Uschi. Oder gar dass Helene einen Flirt bis zu der Gegend ihrer Oberschenkel hin verlängert hätte, auf keinen Fall.
Aber irgend etwas, wenn schon nicht süßes verheißungsvolles Petting, musste Helene doch treiben. Sie kletterte; dies anfänglich als kleines Mädchen und versuchsweise, an der Scheibe der Wohnzimmertür, später nicht ganz so steil mehr in den Hirschberger schlesischen Falkenbergen und am Eiger (Nordwand). Hier im Berner Oberland hatte sie sich auch für das Gehen einige Male einen Bergführer genommen, sie war nicht hundertprozentig schwindelfrei, und weil sie immer schnell an das Wohl ihrer Mitmenschen dachte, missbilligte sie Schludrigkeit sogar in der Schweizer Bergwelt, sie hatte an einem Abgrund zu dem Bergführer neben sich gesagt: »So ein gefährlicher Abschnitt hier? Da gehört doch wirklich ein Geländer her!«
»Halten zugute, das gnädige Fräulein: Hatten wir ja früher auch. Aber auf die Dauer ist das einfach dem Kanton zu teuer geworden …«
»Zu teuer. Zu teuer!«
»… die Touristen haben die Geländer immer mit sich in die Tiefe gerissen.«
Uschi will eigentlich nur von den Flirts noch mehr wissen; Helene zögert schon wieder mit Antworten. Helene zögert nicht nur wegen Uschis indiskret werdenden Fragen, sondern sie kommt sich in dieser gottverlassenen Holzwändebadeanstalt unbehaglich vor. Sie denkt auch daran, was für ein Kopfgeld auf ihren Jugendfreund Reinhard ausgesetzt ist. Eine Million. Und ihr dämmert es, dass sie unter dem Schutz dieses so gefährdeten Mannes ungeschützt ist; sie und ihre Tochter. Die Tochter ist vielleicht noch mehr gefährdet, denn die arbeitet jetzt bei Reinhard mit. Helene stellt sich mehrfach vor, eine dieser quietschenden Holztüren geht auf. Öffne sich, von allein. Oder eben nicht von allein, und jemand Unerwartetes erscheint auf der Bildfläche. Sie deutet nun auch vor Uschi an, im zweiten Weltkrieg habe es seltsame Verbindungen gegeben vom deutschen Oberkommando der Wehrmacht (OKW) zu schweizerischen höchsten Dienststellen, und über die immer schon dunkel gewesene so genannte Wiking-Linie des deutschen OKWs zum Schweizer Generalstab sei bis heute noch nicht das letzte Wort gesprochen. Helene merkt dabei, dass ihrer Uschi die Wiking-Linie überhaupt unbekannt ist. Das beunruhigt Helene erneut. Genauso die Beziehungen führender SS-Chargen zu Mr. Dulles, sagt Helene nach einer Stunde nervösen Wasserplätscherns und Badens, lägen noch verflixt im Dunkeln. Dulles war im Herbst 1942 als Sonderbeauftragter des Präsidenten Franklin Delano Roosevelt in Bern eingetroffen, hier nahebei. Allen W. Dulles war, genauer gesagt, der Büroleiter des amerikanischen Geheimdiensts OSS in Europa und Dulles hatte von Bern aus mit seinen Spionen telefoniert. Die Kontakte von Dulles zu leitenden SS-Angehörigen waren auch noch sehr ungeklärt. Kontakte seit 1944. Walter Schellenberg, saarländischer Fabrikantensohn, sehr gewandter Chef des politischen Auslands-Nachrichtendiensts im Reichssicherheitshauptamt, musste da eine Rolle gespielt haben. Diesem noch jungen Schellenberg ging es zurzeit miserabel schlecht; der SS-Mann war krank.
Den Mr. Dulles hatte Uschi von Reinhard Gehlen schon einmal nennen hören. »Indem du mich dauernd hier beruhigst …«, fing Helene vor Uschi wieder an.
Die Antwort, die jugendliche, die ihr zuteil wurde: »SS, Krieg, das ist doch schon Jahre her!«
»… indem du mich egal beschwichtigst, machst du mir erst recht Angst. Um so mehr. Tu mich doch nicht so beruhigen.«
»Ach, aber Mama.«
Um 1943 hatte Reinhard Gehlen vor Helene durchblicken lassen, dass er bei den langmanteligen, eng ledergegürteten Wehrmachtsoffizieren in einer Abteilung »Fremde Heere Ost« sein Wesen treibe. Mehr sagte er ihr nicht und mehr wusste sie damals von dieser Abteilung nicht. Es war schon viel – und knapp am Rande des Erlaubten –, dass Gehlen der Zivilistin die bloße Bezeichnung nannte.
Reinhard Gehlen war in kurzer Zeit hoch aufgestiegen in der Militärhierarchie. Und zielstrebig arbeitete Gehlen weiter an seinem Ruf, er könne besser als jede andere Person westlich der sowjetisch-deutschen Hauptkampflinie voraussagen, was die Sowjets jeweils vorhatten. Der Ruf war auch Hitler zu Ohren gekommen, vor allem hatte Gehlen aber den Ruf bei Heinz Guderian, dem charismatisch trotzigen, dem von Hitler schließlich wieder eingesetzten Panzertruppenorganisator, der so kleinwüchsig war wie Gehlen, nur noch dazu gedrungen.
Als die Rotarmisten stetig westlich vordrangen, monatelang, wusste Reinhard Gehlen in den letzten Januartagen 1945: am zehnten Zweiten etwa würden sie in Breslau sein. Bei dem langen Weg, den die Roten bereits zurückgelegt hatten, konnte einer dieses Datum zum Schluss gut ausrechnen. Sogar Breslauer Muttchen konnten das.
Reinhard Gehlen trug schwer an seinem Wissen. Deshalb telefonierte er der verheirateten Helene durch, der Freundin: »Flieh jetzt schon mal! Ich hätte hier einen Lazarettzug für dich«, und die in Hirschberg lebende Strohwitwe Helene wollte nicht. Gehlen nervte sie mit mehreren fast gleich lautenden Kurzgesprächen, jeweils einen Tag Abstand schaltete er dazwischen ein, und schließlich wandelte er etwas ab: »Das ist jetzt der letzte Lazarettzug, der durch euer Gebiet ins Westreich weiterfährt. Danach geht keiner mehr.«
Er sagte das Helene alles telefonisch, ließ sich selber nicht anrufen und machte auf die Weise Helene ziemlich Angst. Letzter Lazarettzug? Sie packte ein, ihr Mann war weg und stand beim Volkssturm – einer für sie völlig abstrakten Formation, einer Ansammlung von Menschen –, und sie wurde von ihren Schwiegereltern zum Hirschberger Güterbahnhof gebracht. Dort und nicht auf dem Personenbahnhof wartete, im Dunkeln, in der Schwärze, der absonderliche Zug voller Verwundeter. Die Verbundenen würden gleich noch etwas mehr zusammenzurücken haben; die wenigstens, die saßen und nicht lagen. Der Lazarettzug zog sich unwahrscheinlich lang hin. Die Lampen an den Lichtmasten über den Gleisen brannten nicht.
Helene wollte nach Oberfranken hingelangen, dort war Uschi. Ihre große Tochter war nach Tschirn, Oberfranken, als Pflichtjahrmädchen gekommen und in Tschirn in dieser Endphase des Krieges hängen geblieben; die Laune der quertreiberischen, eigensinnigen Erstgeborenen erwies sich nun als zukunftsträchtig.
Hier im Lazarettzug war die Welt anders. Um Helene und ihre zwei Söhnchen waren ausschließlich weiß bandagierte Soldaten; der gesamte Zug war mit denen voll. Sie wurde von den Bandagierten angesprochen und war freundlich von ihnen umgeben, ihre Söhne wurden hochgehoben und herumgereicht. Nur wollte Helene gern einmal einen...