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E-Book

E-Book, Deutsch, 152 Seiten

Reihe: Essay [KUP]

Groebner Ferienmüde

Als das Reisen nicht mehr geholfen hat

E-Book, Deutsch, 152 Seiten

Reihe: Essay [KUP]

ISBN: 978-3-8353-9732-3
Verlag: Konstanz University Press
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Das Schlagwort des vergangenen Jahres hieß »overtourism«: Überfüllung der Städte, der Strände, der Traumdestinationen. Dann kam die große Stillstellung im Frühjahr 2020: Geschlossene Grenzen, gesperrte Flughäfen, menschenleere Innenstädte. Mit der Rückkehr zur Normalität wird dann auch wohl das Fernweh wiederkommen, der große Aufbruch in die Ferien. Aber wohin?

Reisen im 21. Jahrhundert ist - nicht ganz freiwillig - eine postromantische Angelegenheit. Was haben die fast eineinhalb Milliarden Menschen gefunden, die sich 2019 auf die Suche nach der Schönheit gemacht haben, nach dem gelungenen Ferienerlebnis, nach der Auszeit, der großen Wiedergutmachung des eigenen Lebens durch Reisen? Urlaub war in keiner der großen Sozialutopien der letzten Jahrhunderte vorgesehen, in Tommaso di Campanellas Sonnenstaat ebenso wenig wie im kommunistischen Paradies oder in der vermeintlichen Auflösung aller Körper und Grenzen im selbstverwalteten Digitalien der 1990er Jahre. Umsturz? Revolution? Alles uninteressant. Am Beginn des 21. Jahrhunderts war der Urlaub die letzte große soziale Utopie, das Territorium der Freiheit, drei Wochen im Jahr.
Dummerweise hört diese Utopie gerade auf zu funktionieren. Es ist voll und eng geworden im Paradies. Deswegen ist es – wie jedes Paradies – leider unlängst endgültig geschlossen worden. Die Erfüllung der Träume hat zu viel Schmutz hinterlassen, jede Menge Überdruss und Müdigkeit. Dann kam Corona. Und irgendwann kehrt die Normalität zurück. Grund genug für eine kleine Bilanz. Worum ging es beim touristischen Aufbruch in die Freiheit eigentlich - und was lässt sich heute damit anfangen?
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Neustart
»Volle Ostern« war am 18. April 2019 der Aufmacher auf der Titelseite der Süddeutschen Zeitung: Die Ferien brächten dieses Jahr besonders viele Touristen. Zahlreiche Urlaubsorte wappneten sich mit neuen Vorschriften gegen Überfüllung, von Amsterdam bis Venedig, von Südtirol bis Mallorca. Selbst in der Schweiz sei an einigen Orten die Grenze zum Overtourism erreicht oder überschritten, war einen Monat später in der Neuen Zürcher Zeitung zu lesen. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel hatte schon im Jahr zuvor dem Thema eine melancholische Titelgeschichte gewidmet. »Das verlorene Paradies. Wie der Reisende zerstört, was er liebt.« Die Neue Zürcher Zeitung dagegen meldete am 29. Oktober 2019, Massentourismus sei in der Schweiz ein Randphänomen, der Gruppentourismus sei viel besser als sein Ruf, umweltfreundlich, gut voraussehbar und Garant für »konstantes Wachstum« – so die Überschrift einer Infografik mit unaufhaltsam steigenden Besucherzahlen.[1] Ostern 2020 war dieses »konstante Wachstum« vorbei. Der Ausbruch der ansteckenden Lungenkrankheit Covid-19 im Januar und ihre rasche Verbreitung zuerst in Ostasien, dann in Europa und schließlich weltweit zog dem Tourismus binnen weniger Tage den Stecker. Gesperrte Grenzen, gestrichene Flüge und flächendeckende Ausgangsverbote markierten das vorläufige Ende jenes Fremdenverkehrs, der seit den späten 1950er Jahren für stetig wachsende Teile der Weltbevölkerung zur selbstverständlichen Normalität geworden war. Im Januar und Februar 2020 hatten die Winterdestinationen noch ausgebuchte Hotels und volle Pisten gemeldet. Zweieinhalb Wochen später galt eine Bar im Tiroler Wintersportort Ischgl als eines der Epizentren der Epidemie, in der sich Hunderte infiziert hatten. Wohlhabende europäische Staaten wie Deutschland und die Schweiz flogen ihre in weit entfernten Ländern gestrandeten Staatsbürger in Sondermaschinen nach Hause. Tourismus in der vertrauten Form war, anders gesagt, fürs Erste Geschichte. Vom Virus lernen
In der großen Stillstellung durch die Pandemie im Frühjahr 2020 konnte man eine Menge lernen. Ich lernte, dass es nur noch Nationalstaaten gibt, wenn es ernst wird, und dass alle Prediger von den selbstheilenden Kräften des freien Marktes plötzlich wie vom Erdboden verschwunden waren. In der Theorie war der freie Markt allmächtig gewesen. In der Praxis dagegen, lernte ich, wurden verletzliche menschliche Körper nicht von Marktkräften, sondern von Institutionen beschützt; und die funktionierten nur dann halbwegs zuverlässig, wenn sie vom Staat betrieben, finanziert und beaufsichtigt wurden. Ich lernte, dass in europäischen Krankenhäusern Zehntausende sterben konnten, ohne dass deren Gesichter irgendwo erschienen, verschluckt von Medienbildern von Särgen, Kühlwagen und Masken. Die Opfer der neuen Krankheit schienen einfach zu verschwinden; sie verwandelten sich in abstrakte, furchteinflößend hohe oder beruhigend niedrige Zahlen, außer man hatte zufällig eines von ihnen gekannt. Die Behörden wurden allmächtige fürsorgliche Erziehungsberechtigte, und der Ausnahmezustand fühlte sich ein wenig an wie die temporäre Wiederauferstehung der DDR. In allen Zeitungen stand dasselbe, die Regierung (und ihre freiwilligen Zuträger) schaute um jede Ecke, keine Auslandsreisen, und jeder war irgendwie ein verdächtiger Westkontakt seiner selbst. In der großen Stillstellung durch Covid-19 lernte ich auch, dass ich mich nach Nichtstun sehne, aber nur in der Theorie. In der Praxis fürchte ich mich davor, weil ich es mit Passivität und Schuld verbinde, und deswegen war sein Doppelgänger, das Nichtstunkönnen, fast noch furchteinflößender. Und ich lernte, dass Angst und Kontrollbedürfnis einander zuerst bedingen, und dann wechselseitig verstärken. Einer der anstrengendsten Aspekte der Krise, weil völlig ungewohnt für wohlhabende Europäer, war aber die flächendeckende Abschaffung der Nahzukunft. Was in zwei Wochen oder drei Monaten passieren würde, wurde unzugänglich und angesichts der Überraschungen eigentlich auch binnen weniger Tage unvorstellbar. Das Wegfallen des Plänemachens war irritierend, weil ich plötzlich merkte, wieviel Zeit ich vorher in der Zone Nahzukunft zugebracht hatte, im Reich des ›Ich muss, ich will, ich möchte‹. 12 Prozent unserer Wachzeit, also gut zwei Stunden pro Tag, hat ein ernsthafter Psychologieprofessor vorgerechnet, denken wir an Dinge, die erst noch geschehen werden. In unseren Köpfen sind wir temporäre Zukunftsbewohner, auf der Reise nach Irgendwann.[2] Dieses Irgendwann wurde nun behördlich geschlossen, zusammen mit den Hotels, Cafés, Restaurants, Flughäfen und Staatsgrenzen, und niemand konnte darüber Auskunft geben, wie lange die drastischen Einschränkungen gelten würden; welche Verschärfungen noch bevorstehen oder ab wann die Bestimmungen gelockert würden. Am 12. April 2020, dem Ostersonntag, riet die EU-Kommissionspräsidentin in Bild am Sonntag dringend davon ab, jetzt schon Sommerferien zu buchen; niemand könne wissen, wie die Lage im Juli oder August aussehen werde. Ferien waren das Versprechen gewesen, dass man Veränderung und Überraschung bestellen könnte, als unfehlbare Anti-Überdruss-Maßnahme gegen den eigenen Alltag. So richtig funktioniert hatte das nur beim Plänemachen, also in der Theorie. In der Praxis war ich von der Reise häufig mit Überdruss am Anti-Überdruss zurückgekommen. Aber kaum waren in der Covid-19-Krise die Grenzbalken überall heruntergegangen, war sie wieder da, die große Sehnsucht. In Spiegel Online schilderte am 15. März, fünf Tage nach der Verhängung der Ausgangssperre für ganz Italien, die Reportage »Gespenstisch schön«, wie menschenleer und charmant Rom jetzt sei. »Seit ein paar Tagen ist es so angenehm still«, schrieb der Journalist, »man hört keine Autos mehr, nur gelegentlich die Hubschrauber über den Dächern und die Möwen.« So geht Tourismus: die ästhetische Erfüllung im Anderswo, die Du wieder nicht erreicht haben wirst, weil sie nur in Deiner Abwesenheit stattgefunden hat. In der Wirklichkeit, lernte ich im Frühjahr 2020, war das Pittoreske ohne seine touristischen Besucher nicht verlockender, sondern unwirtlich und künstlich. In der Stadt, in der ich wohne, wegen ihrer pittoresken Altstadt von fünfeinhalb Millionen Touristen pro Jahr besucht, verwandelten sich die Sehenswürdigkeiten mit den geschlossenen Souvenirläden drumherum in Dekorationsfolien, in Karikaturen ihrer selbst: Fototapeten, in denen man lieber nicht als einziger zurückbleiben wollte. Geschichte war der Tourismus vor der großen Stillstellung durch Covid-19 auch schon gewesen; allerdings in einem ganz anderen Sinn. Im 18. und 19. Jahrhundert waren gebildete Reisende davon überzeugt, sich durch Bewegung im Raum auch in der Zeit zurückbewegen zu können; an jene Orte nämlich, an denen ihnen das Schöne aus der Vergangenheit noch zur Verfügung stünde. Der Boom des Tourismus in den 1850er Jahren hat diese Fantasie sehr populär gemacht.[3] Seine Aufrüstung mit immer leistungsfähigeren technischen Infrastrukturen, von der Eisenbahn und dem Grand Hotel zu Pauschalangeboten mit Flug und Feriendorf, hatte den Fremdenverkehr ab der Mitte des 20. Jahrhundert immer weiter expandieren lassen. Reisen war schon lange vor Covid-19 eine sehr postromantische Angelegenheit. Was hatten die fast eineinhalb Milliarden Menschen denn eigentlich gesucht, die sich 2019 auf die Suche nach Schönheit gemacht hatten, nach dem gelungenen Ferienerlebnis, nach der Auszeit, nach der Wiedergutmachung des eigenen Lebens durch Reisen? Urlaub – Wegfahren auf Zeit – war in keiner der großen Sozialutopien der letzten Jahrhunderte vorgesehen, in Tommaso di Campanellas Sonnenstaat von 1602 ebensowenig wie im sozialistischen Paradies oder in der vermeintlichen Auflösung aller Körper und Grenzen im Traum vom selbstverwalteten Digitalien der 1990er Jahre, der letzten kollektiven Umsturzphantasie, die ich mitbekommen habe. Von Revolution ist mittlerweile ohnehin keine Rede mehr. Dafür von den nächsten Ferien. Am Beginn des 21. Jahrhunderts sind Ferien die letzte große private Utopie: das Territorium der Freiheit, für zweimal drei Wochen im Jahr. Nur fühlte es sich dort zunehmend unbehaglich an. Es war voll und eng geworden im Paradies. Mit den Ausgangssperren und den geschlossenen Grenzen des Frühjahrs 2020 schien selbst die gedämpfte Reiselust einem plötzlich weit entfernten Zeitalter anzugehören. Sie wird wiederkommen – wenn auch vermutlich in verwandelter, neuer Form. Neustart, wie beim abgestürzten Laptop. Grund genug für eine kleine Bilanz. Worum ging es beim touristischen Aufbruch in die Freiheit eigentlich? Ich bin doch kein Tourist
An Urlaub muss man immer ein bisschen glauben. Der Aufstieg des Fremdenverkehrs war durch ökonomische und technische Veränderungen möglich geworden, durch die Verbilligung von Reisen im Vergleich zu Lebenshaltungskosten und Löhnen. Die meisten Reisenden wollten das nicht so genau wissen. Sie kamen sich selbst romantisch, frei und ungebunden vor – auch wenn sie in Wirklichkeit Kundinnen und Kunden smarter Serviceunternehmen waren. Die hatten die Nachfolge älterer religiöser Dienstleistungsangebote angetreten – Anbieter von Erholungs-, Wellness- und Bildungsreisen benutzen bis heute fleißig das Vokabular von Reinigung, Pilgerschaft, Wiedergeburt und Sinnstiftung. Umgekehrt ist der eigene...


Groebner, Valentin
Valentin Groebner ist Professor für Geschichte mit Schwerpunkt Mittelalter und Renaissance an der Universität Luzern. Er hat zahlreiche Bücher zur Kultur- und Wissenschaftsgeschichte vorgelegt. Bei KUP erschienen Ferienmüde. Als das Reisen nicht mehr geholfen hat (2020), Wissenschaftssprache digital (2014) und Wissenschaftssprache. Eine Gebrauchsanweisung (2012).


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