Grisham Die Begnadigung
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-641-11027-7
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 480 Seiten
ISBN: 978-3-641-11027-7
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die letzte Amtshandlung des Präsidenten der Vereinigten Staaten ist die Begnadigung eines berüchtigten Wirtschaftskriminellen. Joel Backman war bis zu seiner Verurteilung einer der skrupellosesten Lobbyisten in Washington. Niemand weiß, dass die umstrittene Entscheidung des Präsidenten erst auf großen Druck der CIA zustande kam. Eine brisante Geschichte aus dem Zentrum der Macht, die nicht vom Weißen Haus, sondern von einem unkontrollierbaren Staat im Staate ausgeht.
John Grisham ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Seine Romane sind ausnahmslos Bestseller. Zudem hat er ein Sachbuch, einen Erzählband und Jugendbücher veröffentlicht. Seine Werke werden in fünfundvierzig Sprachen übersetzt. Er lebt in Virginia.
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2
DIE STRAFVOLLZUGSANSTALT Rudley Federal Correctional Facility hatte einen eigenen Trakt für Insassen, die in Einzelhaft untergebracht waren: vierzig identische, gerade mal zehn Quadratmeter große Zellen – keine Fenster, grün gestrichene Betonböden und -wände, massive Stahltüren mit einem Schlitz für Tabletts und einem Guckloch, durch das die Wärter gelegentlich einen Blick werfen konnten. In dieser Abteilung saßen Informanten der Strafverfolgungsbehörden, Männer, die Drogendealer oder Mafiosi verpfiffen hatten, und ein paar Spione. Sie waren hinter Gittern, weil es draußen jede Menge Leute gab, die ihnen liebend gern die Kehle durchgeschnitten hätten. Die meisten der vierzig Insassen waren auf eigenen Wunsch in Schutzhaft genommen worden.
Joel Backman versuchte gerade einzuschlafen, als zwei Wärter geräuschvoll die Tür öffneten und das Licht anknipsten. »Der Direktor will dich sehen«, sagte einer der beiden, ohne weitere Erklärungen abzugeben. Sie fuhren schweigend in einem vergitterten Wagen durch die eiskalte Prärie von Oklahoma und kamen an Gebäuden vorbei, in denen weniger schutzbedürftige Kriminelle untergebracht waren. Nachdem sie das Verwaltungsgebäude erreicht hatten, wurde Backman, dem ohne ersichtlichen Grund Handschellen angelegt worden waren, zwei Treppen hochgejagt. Am Ende eines langen Flurs lag ein großes Büro, in dem offenbar Wichtiges vor sich ging. Backman warf einen Blick auf die Wanduhr; es war fast dreiundzwanzig Uhr.
Bisher war er dem Gefängnisdirektor noch nie begegnet, was aber nicht weiter ungewöhnlich war, denn dieser hatte gute Gründe, sich nicht blicken zu lassen. Er musste sich weder zur Wahl stellen, noch hielt er es für nötig, seine Jungs zu motivieren. Außer ihm befanden sich drei ernst dreinblickende Anzugträger in dem Büro, die sich schon eine Weile mit ihm unterhalten hatten. Obwohl das Rauchen in staatlichen Einrichtungen streng untersagt war, war der Raum völlig verqualmt, und Backman sah einen überquellenden Aschenbecher.
Der Direktor verzichtete auf eine Begrüßung. »Setzen Sie sich, Mr Backman.«
»Ist mir ein Vergnügen, Sie kennen zu lernen«, sagte Backman, während er die anderen Männer in Augenschein nahm. »Warum bin ich hier?«
»Dazu kommen wir gleich.«
»Können Sie mir bitte die Handschellen abnehmen lassen? Ich verspreche, dass ich niemanden umbringen werde.«
Der Direktor blaffte einen in der Nähe stehenden Wärter an, der schnell den passenden Schlüssel fand, Backman von den Handschellen befreite und den Raum verließ. Dabei knallte er die Tür zu – sehr zum Missfallen des Direktors, der ein reichlich nervöser Mensch war.
»Dies ist Special Agent Adair vom FBI.« Der Direktor zeigte nacheinander auf die anderen beiden Gäste. »Mr Knabe vom Justizministerium, Mr Sizemore, ebenfalls aus Washington.«
Keiner der drei machte Anstalten, Mr Backman zu begrüßen, der immer noch stand und ziemlich konsterniert dreinschaute. Er unternahm einen halbherzigen Versuch, höflich zu sein, und nickte den Männern zu, ohne dass einer von ihnen reagiert hätte.
»Bitte setzen Sie sich«, sagte der Direktor, und der Häftling nahm Platz. »Danke. Wie Sie wissen, Mr Backman, wird morgen ein neuer Präsident vereidigt. Präsident Morgan wird das Oval Office verlassen. Im Augenblick ringt er dort noch mit der Frage, ob er Sie begnadigen soll.«
Urplötzlich wurde Backman von einem Hustenanfall geschüttelt, der einerseits auf die fast arktische Temperatur in seiner Zelle zurückging, andererseits auf den durch die Erwähnung des Wortes »begnadigen« ausgelösten Schock.
Mr Knabe aus dem Justizministerium reichte ihm eine Flasche Wasser. Backman trank so hastig, dass ihm die Hälfte übers Kinn lief, aber schließlich schaffte er es, den Husten zu unterbinden. »Mich begnadigen?«, murmelte er.
»Vollständig, aber mit ein paar Auflagen versehen.«
»Aber warum?«
»Den Grund kenne ich nicht, Mr Backman, und es ist auch nicht meine Aufgabe, die Vorgänge zu verstehen. Ich bin nur der Überbringer der Nachricht.«
Jetzt wandte sich Mr Sizemore »aus Washington«, dessen Berufsbezeichnung oder Arbeitgeber der Direktor bei der Vorstellung nicht für erwähnenswert befunden hatte, an den Häftling. »Der Deal sieht so aus, Mr Backman: Als Gegenleistung für den Straferlass müssen Sie sich verpflichten, das Land zu verlassen und nie zurückzukehren. Sie werden unter einem neuen Namen an einem Ort leben, wo Sie niemand finden wird.«
Kein Problem, dachte Backman. Er hatte kein Interesse daran, gefunden zu werden. »Aber warum?«, murmelte er erneut. Die Hand mit der Wasserflasche zitterte.
Mr Sizemore aus Washington registrierte das Zittern und musterte Joel Backman von Kopf bis Fuß. Sein kurz geschnittenes Haar war ergraut, und er trug schwarze, vom Gefängnispersonal ausgegebene Socken und ramponierte, billige Turnschuhe. Unwillkürlich musste Sizemore daran denken, wie er in seinem früheren Leben ausgesehen hatte. Vor seinem geistigen Auge sah er das Titelblatt einer Illustrierten – Joel Backman in einem tadellos sitzenden schwarzen Anzug, in jeder Hinsicht wie aus dem Ei gepellt. Er blickte mit einem Ausmaß von Selbstgefälligkeit in die Kamera, das man kaum für möglich gehalten hätte. Damals hatte er sein dunkles Haar länger getragen, und sein eindrucksvolles Gesicht war noch nicht durch Falten verunstaltet gewesen. Sein Bauchumfang hatte von einer Vorliebe für Mittag- und Abendessen mit mehreren Gängen gekündet. Backman hatte Wein, Frauen und Sportwagen geliebt und einen Jet, eine Jacht und ein Haus in Vail besessen. Er hatte sich nie lange bitten lassen, über sein Luxusleben zu reden. Über dem Coverfoto der Illustrierten stand in Fettdruck: DER LOBBYIST – IST DAS DER ZWEITMÄCHTIGSTE MANN VON WASHINGTON?
Die Illustrierte steckte in Mr Sizemores Aktentasche, zusammen mit einem dicken Dossier über Backman, das er während des Fluges von Washington nach Tulsa durchgeblättert hatte.
Wenn man dem Artikel in der Illustrierten Glauben schenken wollte – Backman selbst hatte sich in diesem Punkt dem Reporter gegenüber bedeckt gehalten –, hatte er damals mehr als zehn Millionen Dollar im Jahr verdient. Die von ihm gegründete Kanzlei beschäftigte zweihundert Anwälte. Zahlenmäßig spielte man damit in Washington nicht in der ersten Liga, aber es stand außer Zweifel, dass keine andere Kanzlei in politischen Kreisen über so viel Einfluss verfügte. Die dort beschäftigten Juristen arbeiteten nicht als Anwälte, sondern als Lobbyisten, und das Ganze erinnerte eher an ein Bordell für reiche Unternehmen und ausländische Regierungen.
Was für ein Absturz, dachte Mr Sizemore, während er die zitternde Hand mit der Wasserflasche betrachtete.
»Ich verstehe nicht«, flüsterte Backman.
»Wir haben keine Zeit für Erklärungen«, sagte Mr Sizemore. »Und unglücklicherweise bleibt Ihnen keine Zeit, sich die Dinge durch den Kopf gehen zu lassen, Mr Backman. Hier ist eine schnelle Entscheidung gefragt. Ja oder nein. Wollen Sie hier bleiben, oder möchten Sie lieber unter einem neuen Namen am anderen Ende der Welt leben?«
»Wo?«
»Das entzieht sich unserer Kenntnis, aber wir werden es erfahren.«
»Werde ich dort in Sicherheit sein?«
»Diese Frage können nur Sie selbst beantworten.«
Mr Backman dachte über diese Frage nach und begann noch stärker zu zittern. »Wann werde ich das Gefängnis verlassen?«, fragte er bedächtig. Seine Stimme klang jetzt fester, doch ein weiterer Hustenanfall war nie auszuschließen.
»Sofort«, antwortete Mr Sizemore, der das Gespräch an sich gerissen und den Direktor sowie die Vertreter des FBI und des Justizministeriums zu Zuschauern degradiert hatte.
»Sie meinen, jetzt sofort?«
»Sie werden nicht mehr in Ihre Zelle zurückkehren.«
»Oh, verdammt«, entfuhr es Backman, und die anderen mussten lächeln.
»Vor Ihrer Zelle wartet ein Justizbeamter«, sagte der Gefängnisdirektor. »Er wird Ihnen bringen, was Sie mitnehmen möchten.«
»Vor meiner Zelle lungert immer ein Wärter herum«, fuhr Backman den Direktor an. »Falls es dieser sadistische kleine Dreckskerl Sloane sein sollte, richten Sie ihm aus, dass ich ihm meine Rasierklingen vermache, damit er sich die Pulsadern aufschneiden kann.«
Alle mussten schlucken und schienen darauf zu warten, dass die harschen Worte von den Abzugsschächten aufgesogen wurden, doch sie durchschnitten die stickige Luft und hallten noch einen Augenblick nach.
Mr Sizemore räusperte sich, verlagerte das Gewicht vom linken auf das rechte Bein und sagte: »Im Oval Office warten einige Gentlemen auf Ihre Entscheidung, Mr Backman. Akzeptieren Sie unseren Vorschlag?«
»Der Präsident wartet auf meine Antwort?«
»So könnte man es sagen.«
»Er steht in meiner Schuld. Ich habe ihn ins Oval Office gebracht.«
»Das ist jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um solche Themen zu erörtern, Mr Backman«, sagte Mr Sizemore ruhig.
»Will er sich erkenntlich zeigen?«
»Ich weiß nicht, was im Kopf des Präsidenten vor sich geht.«
»Sie scheinen anzunehmen, dass er über die Fähigkeit zum Nachdenken verfügt.«
»Ich werde also anrufen und ihm mitteilen, dass Sie nicht interessiert sind.«
»Warten Sie.«
Backman leerte die Wasserflasche und bat um eine neue. Nachdem er sich den Mund mit dem Ärmel abgewischt hatte, fragte er: »Ist das eine Art Zeugenschutzprogramm?«
»Es gibt kein offizielles Programm, Mr Backman. Trotzdem erscheint es uns von Zeit zu Zeit notwendig, Personen zu verstecken.«
»Wie oft verlieren Sie eine davon?«
»Nicht sehr...