Roman
E-Book, Deutsch, 480 Seiten
ISBN: 978-3-641-02548-9
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sie verlor ihre ganze Familie. Um ihren Tod zu sühnen, zieht Jeannette Baker gegen einen der größten Chemiekonzerne der USA vor Gericht. Als ihrer Klage stattgegeben und das Unternehmen zu 41 Millionen Dollar Schadensersatz verurteilt wird, ist die Sensation perfekt. Doch dann geht Krane Chemical Inc. in Berufung, und eine Intrige unglaublichen Ausmaßes nimmt ihren Lauf.
John Grisham ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Seine Romane sind ausnahmslos Bestseller. Zudem hat er ein Sachbuch, einen Erzählband und Jugendbücher veröffentlicht. Seine Werke werden in fünfundvierzig Sprachen übersetzt. Er lebt in Virginia.
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2 Jeannette Baker wurde von Verwandten in ihre Heimatstadt Bowmore zurückgebracht, etwa dreißig Kilometer vom Gericht in Hattiesburg entfernt. Durch den Schock geschwächt und wie üblich unter dem Einfluss von Beruhigungsmitteln stehend, hatte sie keine Lust, vor einer Menschenmenge die feiernde Siegerin zu spielen. Die Zahlen kündeten unübersehbar von einem Sieg, aber die Urteilsverkündung war auch das Ende einer langen, beschwerlichen Wegstrecke. Und ihr Mann und ihr kleiner Sohn wurden durch den Sieg bestimmt nicht wieder lebendig. Sie lebte mit ihrer Stiefschwester Bette in einem alten Trailer, der an einer unbefestigten Straße in Pine Grove stand, einem heruntergekommenen Teil von Bowmore. An anderen nicht asphaltierten Straßen standen weitere Trailer. Die meisten Autos und Pick-ups waren uralt und verbeult, die Lackierung abgeblättert. Es gab ein paar richtige Häuser auf fünfzig Jahre alten Betonsockeln, die nicht jederzeit auf einem Tieflader weggekarrt werden konnten, doch auch sie waren nicht in Würde gealtert und wirkten unübersehbar vernachlässigt. In Bowmore gab es kaum Arbeit, in Pine Grove noch weniger, und ein kurzer Gang durch Jeannettes Straße musste jeden deprimieren. Die Neuigkeit war schneller in Bowmore angekommen als Jeannette selbst, und sie wurde von einigen Leuten empfangen, als sie nach Hause kam. Man brachte sie ins Bett, dann setzten sich die anderen in das enge Wohnzimmer, wo sie im Flüsterton über das Urteil diskutierten und sich in Spekulationen über dessen Konsequenzen ergingen. Einundvierzig Millionen Dollar? Welche Auswirkungen würde das auf die anderen Prozesse haben? Würde man Krane zwingen, die Sauerei zu beseitigen? Wann konnte Jeannette damit rechnen, einen Teil des Geldes zu bekommen? Sie hüteten sich, allzu sehr auf Letzterem herumzureiten, aber eigentlich dachten alle in erster Linie nur daran. Weitere Freunde trafen ein und setzten sich auf Gartenstühle auf der wackeligen Holzterrasse, wo sie in der kühlen Abendluft weiterdiskutierten. Getrunken wurde Mineralwasser oder Limo. Diese Menschen, die lange gelitten hatten, kosteten ihren Sieg aus. Endlich hatten sie gewonnen. Was auch immer. Sie hatten sich gegen Krane gewehrt, ein Unternehmen, das sie bis aufs Blut hassten, ihm eine Lektion erteilt. Vielleicht wendete sich das Blatt. Endlich hatte ihnen jemand außerhalb von Bowmore Gehör geschenkt. Sie redeten über Anwälte, eidliche Aussagen, die Umweltschutzbehörde, die neueste Technologie und geologische Gutachten. Obwohl niemand von ihnen gebildet war, kannten sie, was Giftmüll, Grundwasserverseuchung und Krebserkrankungen betraf, die gängigen Fachtermini. Sie lebten in diesem Albtraum. Jeannette lag wach in ihrem dunklen Schlafzimmer und lauschte den gedämpften Stimmen. Sie fühlte sich geborgen. Dies waren ihre Leute, Verwandte, Freunde und andere Geschädigte. Die Bande waren eng, sie teilten ihr Leiden. Wie auch das Geld geteilt werden würde. Wenn sie je etwas davon sah, wollte sie den anderen einen Teil abgeben. Sie war keineswegs von ihrem Sieg berauscht, während sie dalag und in der Finsternis an die Decke starrte. Ihre Erleichterung, die schwere Prüfung des Prozesses überstanden zu haben, überwog bei Weitem die Freude über den Triumph. Am liebsten hätte sie eine Woche geschlafen, um danach in einer anderen Welt aufzuwachen, in der es ihre Familie noch gab und in der alle gesund und glücklich waren. Doch nun fragte sie sich zum ersten Mal seit der Urteilsverkündung, was sie sich kaufen würde, wenn sie das Geld bekam. Würde. Ein Haus, in dem man in Würde leben konnte. Außerdem wünschte sie sich einen Arbeitsplatz, wo man sie respektvoll behandelte. Das alles natürlich außerhalb von Bowmore. Sie würde wegziehen aus Cary County, irgendwohin, wo die Flüsse und das Grundwasser nicht verseucht waren. Nicht zu weit weg, weil alle ihre Freunde hier in der Nähe wohnten. Aber sie träumte von einem neuen Leben in einem neuen Haus, wo sauberes Wasser aus dem Hahn kam, Wasser, das nicht stank, krank machte und Menschen sterben ließ. Als sie eine weitere Autotür zuschlagen hörte, empfand sie Dankbarkeit, dass ihre Freunde an sie dachten. Vielleicht sollte sie ihre Frisur in Ordnung bringen und die anderen begrüßen. Sie trat in das kleine Bad, knipste das Licht an, drehte den Hahn über dem Waschbecken auf, setzte sich auf den Rand der Badewanne und starrte auf das graue Wasser, das in das verfärbte Becken aus Porzellanimitat lief. Man konnte es allenfalls für die Klospülung gebrauchen, für nichts sonst. Das Pumpwerk, aus dem das Wasser kam, gehörte der Stadt, doch die verbot den Bürgern das Trinken ihres eigenen Wassers. Vor drei Jahren hatte der Stadtrat entschieden, dass es tatsächlich nur für die Klospülung benutzt werden durfte. In jeder öffentlichen Toilette hingen Warnungen: KEIN TRINKWASSER! DER STADTRAT. Sauberes Wasser wurde in Tankwagen aus Hattiesburg gebracht, und jeder Haushalt in Bowmore hatte einen Zwanzig-Liter-Tank. Wer es sich leisten konnte, besaß einen mit mehreren Hundert Litern Fassungsvermögen, und hinter den teureren Häusern standen Zisternen zum Auffangen von Regenwasser. Wasser war tagtäglich das alles beherrschende Thema in Bowmore. Über jede Tasse wurde nachgedacht, wenn nicht gestritten. Man ging sparsam um mit dem kostbaren Nass, weil man sich auf das Eintreffen des Nachschubs nicht verlassen konnte. Und jeder Tropfen, der getrunken wurde oder die menschliche Haut berührte, kam aus einer Flasche, deren Inhalt getestet und für unbedenklich erklärt worden war. Gegen das Problem des Badens und Waschens war das des Kochens eine Kleinigkeit. Hygiene war ein täglicher Kampf, und die meisten Frauen in Bowmore trugen das Haar kurz. Viele Männer hatten Bärte. Die Vorgeschichte war legendär. Vor zehn Jahren hatte die Stadt eine Sprinkleranlage für ein Baseballfeld installiert, doch das Gras war umgehend braun geworden und verdorrt. Das städtische Schwimmbad wurde geschlossen, nachdem man so viel Chlor in das Becken gepumpt hatte, dass das Wasser brackig wurde und wie eine Kloake stank. Als die Methodistenkirche brannte, musste die Feuerwehr feststellen, dass das Wasser nicht löschte, sondern den Brand noch anheizte. Schon Jahre vor dieser Episode hatten einige Einwohner von Bowmore vermutet, dass die Lackierung eines Autos rissig wurde, wenn man es einige Male mit dem verseuchten Wasser wusch. Und wir haben die Brühe jahrelang getrunken, dachte Jeannette. Haben sie getrunken, als sie zu stinken begann. Als sich die Farbe änderte. Als die Stadt sie wegen unserer Beschwerden testen ließ und versicherte, sie sei gesundheitlich unbedenklich. Wir tranken das Wasser, nachdem wir es abgekocht hatten. Nahmen es für Kaffee und Tee, dachten, die Hitze würde Krankheitserreger abtöten. Und als wir es nicht mehr tranken, haben wir es weiter zum Duschen und Baden benutzt und die Dämpfe eingeatmet. Was hätten wir tun sollen? Uns jeden Morgen an einer Quelle treffen, wie die alten Ägypter? Das Wasser in Krügen auf unseren Köpfen nach Hause schleppen? Einen eigenen Brunnen bohren für zweitausend Dollar pro Loch, um dann auf die gleiche faulige Brühe zu stoßen wie die Stadt? Nach Hattiesburg fahren, um einen Wasserhahn zu suchen und es in Eimern zurückzubringen? Sie hörte noch die Worte, mit denen alles abgestritten worden war – vor langer Zeit, als Fachleute auf Tabellen zeigten und dem Stadtrat und den Bürgern, die sich in einem übervölkerten Saal versammelt hatten, wieder und wieder versicherten, das Wasser sei getestet worden, es bestehe kein Grund zur Sorge, wenn man es vorschriftsgemäß mit einer großen Dosis Chlor behandle. Sie hörte noch jene illustren Experten, die Krane Chemical vor Gericht aufmarschieren ließ, damit sie der Jury erklärten, ja, es habe in dem Werk in Bowmore im Lauf der Jahre immer mal wieder die eine oder andere unbedeutende »undichte Stelle« gegeben, aber es bestehe kein Grund zur Sorge, weil Bichloronylen und andere »nicht autorisierte« Substanzen von der Erde absorbiert und schließlich von einem unterirdischen Fluss weggeschwemmt worden seien. Für die Qualität des Trinkwassers der Stadt bestehe keinerlei Gefahr. Und sie hörte noch die von staatlichen Stellen geschickten Wissenschaftler mit ihrer abgehobenen Terminologie, die die Menschen herablassend behandelten und ihnen versicherten, das Wasser, dessen Gestank kaum zu ertragen war, könne bedenkenlos getrunken werden. Auch als immer mehr Menschen starben, wurde weiterhin alles abgestritten. Überall in Bowmore gab es Krebskranke, in jeder Straße, in fast jeder Familie. Viermal so viele wie im Landesdurchschnitt. Dann fünfmal, zehnmal so viele. Vor Gericht hatte ein von den Paytons angeheuerter Fachmann der Jury erklärt, im Stadtgebiet von Bowmore seien Krebserkrankungen fünfzehnmal häufiger als im Landesdurchschnitt. Es gab so viele Krebsfälle, dass sich alle möglichen Wissenschaftler von staatlichen und privaten Forschungsinstituten in der Stadt herumtrieben. Der Ausdruck »Krebscluster« war überall zu hören, Bowmore hatte seinen schlechten Ruf weg. Ein cleverer Journalist taufte Cary County in »KrebsCounty« um, und der Name blieb hängen. Krebs-County. Das Wasser bescherte der örtlichen Handelskammer große Probleme. Die wirtschaftliche Entwicklung der Region kam zum Erliegen, mit der Stadt ging es rapide bergab. Jeannette drehte den Hahn zu, aber das Wasser war weiter da, in den unsichtbaren Leitungen und irgendwo in der Erde unter ihr. Es war immer da,...