Grimes Blinder Eifer -
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-18924-2
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 13, 100 Seiten
Reihe: Die Inspektor-Jury-Romane
ISBN: 978-3-641-18924-2
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Martha Grimes zählt zu den erfolgreichsten Krimiautorinnen unserer Zeit. Lange Zeit unterrichtete sie kreatives Schreiben an der Johns-Hopkins-University. Durch ihre Serien um Inspektor Richard Jury und die 12-jährige Ermittlerin Emma Graham wurde sie weltbekannt. Die 'Mystery Writers of America' kürten sie 2012 für ihr Lebenswerk zum 'Grand Master', und ihre Inspektor-Jury-Reihe wurde nun auch fürs deutsche Fernsehen entdeckt und erfolgreich verfilmt. Martha Grimes lebt heute in Bethesda, Maryland.
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1
I
Wie die Männer zu Werke gingen, konnte er sich ja vorstellen, aber die Frauen? Da mußte Trevor lächeln, wahrhaftig. Die Latrinen waren große rechteckige Schächte, und kein dezentes Schild führte einen zu DAMEN/HERREN. Lachend lief er den Festungswall entlang und rauchte die erste Zigarette für heute. Er versuchte, sie sich einzuteilen, nicht mehr als zehn pro Tag. Ganz schön hart. Da half einem schon, wenn man Sinn für Humor hatte. Er begann wieder über die Latrinen nachzudenken. Nein, hier galt die Parole »Eine für alle, alle für eine«, egal, ob man die Hosen herunterlassen oder die Röcke hochheben mußte. Trevor machte sich einen Spaß daraus. Immer wenn er am Ausfalltor oder am Palast des Bischofs anhielt, versuchte er, sich in die Zeit der Römer zurückzuversetzen, so zu tun, als sei er einer von ihnen. Manchmal ein Palastwächter, manchmal ein Bäcker im Backhaus – er konnte sich gut in die Rollen hineindenken. Denn er betrachtete sich als Studiosus der Geschichte. Wenn die Dinge in seiner Jugend auch nur ein wenig anders verlaufen wären, wäre er zur Universität gegangen und hätte Geschichte studiert. Da wäre er vielleicht sogar berühmt geworden. Aber Schwamm drüber. Hat nicht sollen sein. Da mußte er eben für sich studieren. Hatte ja jede Menge Zeit, jetzt, wo er in Rente war und zwei Tage die Woche hier Eintrittskarten verkaufte. Darüber hinaus hatte er mehrmals pro Woche seine kleine Gruppe zur Führung. Aber nur im Sommer, wenn die vielen Touristen nach Salisbury kamen. All das konnte einen Mann schon gut auf Trab halten. Und zudem kam man aus dem Haus und der Frau nicht in die Quere. Aus dem Haus zu kommen, das war ein Segen.
Nun befand er sich über dem Palast des Bischofs Roger, so hoch, daß er den Nordwind voll abkriegte. Er zog sich den Kragen enger um den Hals und vergrub die Hände, ohnehin in Wollhandschuhen, tief in den Taschen. Es war Februar und zu dieser Stunde natürlich lausekalt. Nicht, daß er jetzt hier sein mußte, natürlich nicht. Und es stimmte, der Februar war ein grimmiger, rauher Monat. Konnte ganz schön deprimierend sein, wenn man sich zu sehr davon beeindrucken ließ.
Ein Sturm zog auf. Trevor roch den Regen, lange bevor er das Grollen hörte. Es war diese eigenartige Stunde kurz vor der Morgendämmerung. Er liebte den Anblick des ersten schmalen goldenen Saums am Horizont, der die fernen Hügel hinter Salisbury leuchten ließ wie Eishügel. Trev dachte an die Eiszeit. Vor hunderttausend Jahren bestand die Oberfläche der Erde größtenteils aus Eis. Er versuchte sich eine in Eis eingeschlossene Welt auszumalen. Er versuchte sich ein Bild von »vor einhunderttausend Jahren« zu machen. Aber sosehr er seinen alten Kopf anstrengte, er vermochte sich keine solchen Entfernungen in Raum und Zeit vorzustellen. Meine Güte, das gelang ihm ja nicht mal für die Entfernung von hier nach Salisbury.
Freddie Lake, mit dem er im Kartenkiosk arbeitete, mochte den Job nicht, er fand ihn langweilig, tagein, tagaus immer das gleiche. Nichts zu sehen als dämliche kaputte Mauern und Touristen. Aber schlußendlich brauchte man in jedem Job eine gehörige Portion Humor und Phantasie, in dem hier allemal. Das sagte er ja immer zu Freddie: Was dir fehlt, alter Junge, ist Phantasie.
Weit in der Ferne blitzte es, ein eindrucksvoller Anblick. Der Regen war immer noch ziemlich weit weg. Aber er würde kommen. Schwer, hier Entfernungen abzuschätzen. Wieder erhellte ein Lichtstrahl den Turm der Kathedrale von Salisbury. Bildschön, wenn man – wie er – einen Blick für das Kunstzeugs hatte. Wenn er sich nicht für Geschichte begeistert hätte, hätten es die schönen Künste sein müssen, dann hätte er eine künstlerische Laufbahn eingeschlagen. Ja, er wußte diese Sonnenaufgänge zu genießen, auch die Sonnenuntergänge. Nun beobachtete er, wie der goldene Streifen trügerischen Lichts milchig wurde, sich auflöste und beinahe verschwand. O doch, er wußte auch die Natur zu schätzen, schon immer.
Er drückte die Zigarette aus – hätte er doch bloß mit dem Anzünden noch ein wenig gewartet –, blies sich auf die Hände und bewegte sie wie einen Blasebalg. Die Finger würden ihm abfrieren, wenn er die Eintrittskarten ausgab. Aber heute würden eh nicht viele Touristen kommen, nicht im Februar.
Trevor langte bei einer der Latrinen an, über die er sich so amüsiert hatte. Wer weiß, was für Ausdrücke sie im Mittelalter für Aborte gehabt hatten. Es gab mehrere auf der gesamten Anlage, der hier war innerhalb der Mauer und vermutlich für die Wachen bestimmt gewesen. Da mußte er immer lachen. Plumpsklos! Er ging ein paar Meter den Hügel hinunter und kam zu dem Eisengeländer, das man um das große rechteckige Loch errichtet hatte, damit die Leute nicht hineinfielen. Oder hineinpißten. Ha, ha.
Er beugte sich über das Geländer und schaute so weit hinunter, wie er konnte. O Gott, man stelle sich vor, an einem Februarmorgen aus dem Bett zu steigen und mit nackten Füßen über die eiskalten gepflasterten Wege zu tapern, bis man zu diesem Loch kam. Trev überlegte, warum es so lange gedauert hatte, Wasserklosetts zu erfinden. So toll war die Erfindung ja nun auch wieder nicht. Man mußte nur an einer dämlichen Kette ziehen, und in der Toilette in seinem Haus sogar mehr als einmal.
Er kniff die Augen zusammen und beugte sich noch ein wenig weiter vor. Seine Augen waren auch nicht mehr das, was sie mal waren. Er konnte sich also irren.
Er irrte sich nicht: In der tiefen Dunkelheit unten auf dem Grund lag etwas. Er versuchte sich einzureden, daß es keine Leiche sein konnte, dort unten doch nicht, aber er wußte, es war eine.
Trevor fuhr so abrupt auf, daß er beinahe gestolpert wäre, rückwärts allerdings. Er fing an zu schreien und wußte gleichzeitig, es war sinnlos. Innerhalb einer Meile gab es niemanden, der ihn hätte hören können. Er drehte sich um und ging im Kreis, als ob er ein Ritual brauchte, das ihm sagte, was zu tun sei. Na los, alter Junge, sei kein Waschlappen und benutz deinen Grips, darauf kommt’s jetzt an. Klapp nicht zusammen wie ein altes Weib. Natürlich, das Kartenhäuschen. Da war ein Telefon. Von dort konnte er im Krankenhaus anrufen, nein, bei der Polizei. Wer auch immer da unten lag, der brauchte keinen Krankenwagen mehr, dazu war’s zu spät.
Er rannte los und blieb nur einmal kurz stehen, um sich mit zitternden Händen eine Zigarette in den Mund zu stecken. Diese Fluppen, die bringen mich noch mal ins Grab.
II
Trevor Hastings stand im Rampenlicht, und nach den anfänglichen Schrecksekunden wollte er es jetzt auch auskosten. Erst als Detective Chief Inspector Rush von der Kripo in Wiltshire in schwarzem Auto und schwarzem Regenmantel auftrat, wurde Trevor nervös. Der Mann zog den Regenmantel so eng um sich zusammen, daß er aussah wie ein Exhibitionist. Aber DCI Rush entblößte nichts, weder seinen Körper noch etwas in seinem Gesicht.
Und Trevor begriff erst, nachdem Rush eine Reihe schmallippiger Fragen an ihn gestellt hatte: Er wurde verdächtigt! Daß er die Leiche hier entdeckt hatte, machte ihn verdächtig! Dabei hatte er doch nur seine Bürgerpflicht getan und die Polizei gerufen. Er hätte auch einfach abhauen können. Von wegen telefonieren, er hätte sich in seinen Mini setzen und wegfahren können. Wäre er ja wohl auch, wenn er den da unten runtergeschubst hätte? Keine Frage.
Wie dem auch sei, Trevor wurde gebeten – nein, ihm wurde befohlen –, an Ort und Stelle zu bleiben. Als wäre er ein dämlicher Hund. Platz! Der Pathologe war mit seiner Untersuchung noch nicht fertig, es hatte verdammt lange gedauert, die Leiche aus ihrem Höhlengefängnis hochzuwinden. Eine Latrine, hatte Trevor ihnen gesagt. Das hier war ein römisches Fort, das hier war Old Sarum, waren sie etwa noch nie hier gewesen? Herr im Himmel, die Geschicke des Landes lagen in Händen von Leuten, die keine Ahnung von Geschichte hatten. DCI Rush hieß ihn, »sich zur Verfügung zu halten«, solche Sprüche machten die Bullen doch, kurz bevor sie einen einbuchteten. Verdammter Mist!
Trevor begab sich in den Kartenkiosk, um sich aufzuwärmen. Sollten sie doch draußen auf dem vereisten Gras rumtrampeln und sich Frostbeulen holen. Ehrbare Bürger herumzukommandieren! An dem armseligen Haufen Knochen hätten sie doch gleich erkennen können, daß der Mensch da unten schon eine Zeitlang, möglicherweise seit Tagen, tot und nicht heute morgen über das Geländer gestoßen worden war.
Er stampfte mit den Füßen auf, damit seine Zehen warm wurden. Er war eher wütend als ängstlich. So eine Frechheit! Diese blöden Bullen waren unfähig, über ihren Tellerrand zu sehen. Wahrscheinlich lag die Leiche schon mehrere Tage dort. Ein, zwei Tage mit Leichtigkeit, denn es war ja nur eine Handvoll Besucher dagewesen. Schließlich war Februar, und die paar Touristen, die um diese Zeit überhaupt in diese Gegend kamen, schauten sich lieber Stonehenge an, mit Old Sarum hatten die nichts am Hut. Dabei fand Trevor letzteres viel interessanter. Jetzt wurde er auch noch wütend auf die Touristen. Wenn sie sich in Old Sarum statt in dem dämlichen Stonehenge herumgetrieben hätten, dann wären ihm die dummen Unterstellungen der Herren Polizisten aus Wiltshire erspart geblieben.
Trevor blies sich in die Hände. Aber wenigstens hatte er jetzt wirklich mal was zu erzählen und stand noch dazu im Mittelpunkt. Da würde die Alte aber die Segelohren spitzen, soviel war sicher! »Äh, hab...